BT-Drucksache 16/228

Eigenverantwortung von Bosnien und Herzegowina stärken - Verfassungsprozess unterstützen und "Bonn Powers" des Hohen Repräsentanten abschaffen

Vom 14. Dezember 2005


Deutscher Bundestag Drucksache 16/228
16. Wahlperiode 14. 12. 2005

Antrag
der Abgeordneten Dr. Rainer Stinner, Daniel Bahr (Münster), Rainer Brüderle,
Angelika Brunkhorst, Ernst Burgbacher, Patrick Döring, Mechthild Dyckmans,
Jörg van Essen, Otto Fricke, Paul K. Friedhoff, Horst Friedrich (Bayreuth),
Dr. Edmund Peter Geisen, Hans-Michael Goldmann, Miriam Gruß, Dr. Christel
Happach-Kasan, Birgit Homburger, Dr. Werner Hoyer, Hellmut Königshaus,
Dr. Heinrich L. Kolb, Jürgen Koppelin, Heinz Lanfermann, Harald Leibrecht,
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Markus Löning, Horst Meierhofer, Patrick
Meinhardt, Jan Mücke, Burkhardt Müller-Sönksen, Dirk Niebel, Hans-Joachim Otto
(Frankfurt), Detlef Parr, Gisela Piltz, Marina Schuster, Carl-Ludwig Thiele, Florian
Toncar, Dr. Volker Wissing, Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP

Eigenverantwortung von Bosnien und Herzegowina stärken – Verfassungsprozess
unterstützen und „Bonn Powers“ des Hohen Repräsentanten abschaffen

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag stellt fest:

10 Jahre nach der Beendigung des Krieges durch den Vertrag von Dayton hat
sich die Situation in Bosnien und Herzegowina oberflächlich stabilisiert. In vie-
len Bereichen sind weitgehende Erfolge erzielt worden, etwa bei der Flücht-
lingsrückkehr oder bei den Reformen bei Polizei und Armee, die beide nun auf
der gesamtstaatlichen Ebene zusammengeführt worden sind. Ein weiteres Enga-
gement der Internationalen Gemeinschaft bleibt aber notwendig.

Der Deutsche Bundestag begrüßt deshalb die Entscheidung der Europäischen
Union, mit Bosnien und Herzegowina Verhandlungen über ein Stabilisierungs-
und Assoziierungsabkommen zu beginnen. Bei diesen Verhandlungen muss die
Rolle der Vertreter des Gesamtstaates Bosnien und Herzegowina gegenüber der
des Hohen Repräsentanten deutlich gestärkt werden.

Bosnien und Herzegowina ist aber immer noch ein entlang der ethnischen Gren-
zen geteiltes Land. Die im Annex 4 des Dayton-Vertrages festgelegte Verfassung
hat sich zunehmend zum Hindernis für die weitere Entwicklung von Bosnien
und Herzegowina entwickelt. Der Gesamtstaat ist im Vergleich zu den beiden
Entitäten, die serbische Republika Srpska und die kroatisch-bosnischen Födera-
tion, schwach und trotz einzelner Reformen immer noch wenig handlungsfähig.

Kompetenzüberschneidungen und Blockadehaltung beider Entitäten gegenüber
dem Gesamtstaat erschweren die politische Arbeit und die Durchführung der
notwendigen Reformen.

Aus den komplizierten Strukturen resultiert auch eine exorbitant hohe Staats-
quote, die – ebenso wie die nach wie vor nicht ausgeräumten Rechtsunsicherhei-
ten – die wirtschaftlichen Perspektiven des Landes schwer belastet. Die bisher

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eingeleiteten Reformen müssen konsequent durchgeführt und weiterentwickelt
werden. Dringend notwendig ist etwa ein Haushaltsgesetz. Das Land wird erst
dann einen ökonomischen Aufschwung erfahren, wenn es als Gesamtstaat einen
funktionierenden Rechts- und Wirtschaftsraum mit einem einheitlichen Rechts-
system bildet.

Diese Analyse wird von den Parteien in Bosnien und Herzegowina geteilt. Alle
politischen Parteien haben sich zu der Notwendigkeit einer Verfassungsreform
bekannt.

Der Deutsche Bundestag begrüßt dieses Bekenntnis und fordert die politischen
Akteure in Bosnien und Herzegowina auf, diese Reform nun durch konstruktive
Verhandlungen zu verwirklichen.

Bosnien und Herzegowina ist noch kein selbständig funktionierender, demokra-
tischer Staat, sondern de facto immer noch ein Protektorat. Die eigentliche Sou-
veränität liegt nach wie vor bei dem Hohen Repräsentanten, der im Auftrag der
Internationalen Gemeinschaft einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung und
zum inneren Zusammenhalt des Landes geleistet hat. Er überwacht auf der
Grundlage vom Annex 10 des Dayton-Vertrages die Fortschritte der Friedens-
implementierung.

Der Hohe Repräsentant hat zusätzlich zu der Überwachung des Dayton-Abkom-
mens seit 1997 durch die „Bonn Powers“ die Kompetenz, in Entscheidungen der
Regierung des Gesamtstaates Bosnien und Herzegowina, sowie der Republika
Srpska und der kroatisch-bosniakischen Föderation, einzugreifen. Unter ande-
rem kann er Gesetze, Amtsenthebungen oder Einzelmaßnahmen wie das Ein-
frieren von Privatkonten anweisen.

Die Entscheidungen des Hohen Repräsentanten unterliegen keiner politischen
oder rechtsstaatlichen Kontrolle. Zwar trifft sich wöchentlich ein Ständiger Aus-
schuss (Steering Board) des Friedensimplementierungsrates in Sarajevo, doch
hat dieser kein Vetorecht gegen die Entscheidungen des Hohen Repräsentanten.

Durch seine Entscheidungsbefugnisse trägt das Amt des Hohen Repräsentanten
nicht zur Entwicklung einer eigenverantwortlichen Gesellschaft bei. Notwen-
dige Gesetze werden entweder mit Hinweis auf die Nichtzuständigkeit der Par-
lamente des Landes nicht verabschiedet oder man versucht unter Hinweis auf die
Machtkompetenz des Hohen Repräsentanten die Verantwortung für erlassene
unpopuläre Gesetze von sich weg zu schieben. Beides fördert zunehmend eine
politische wie ökonomische Nehmermentalität.

Um die demokratische Entwicklung in Bosnien und Herzegowina zu stärken
und einer reformierten Verfassung eine eindeutige demokratische Legitimität zu
verleihen, muss diese allein von den Bürgerinnen und Bürgern Bosniens und
Herzegowinas in einem Referendum ratifiziert werden. Deshalb müssen die
„Bonn Powers“ des Hohen Repräsentanten vor Abschluss der Verfassungsre-
form abgeschafft werden. Grundsätzlich ist die Funktion des Hohen Repräsen-
tanten zu überprüfen und gemäß der Entwicklung des Staates Bosnien und Her-
zegowina weiter zu reduzieren. Die Funktion des Hohen Repräsentanten soll
allein unter dem Dach der Europäischen Union angesiedelt werden.

Es hat sich in der Vergangenheit gezeigt, dass immer dort eine Übereinkunft
zwischen den Entitäten möglich war, wenn die Europäische Union mit einer
glaubwürdigen Perspektive und einem klaren Anforderungsprofil präsent war.
So etwa bei der Einigung über die Polizeireform als Vorbedingung für den Be-
ginn der Verhandlungen zum Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen.
Damit ist Bosnien und Herzegowina zehn Jahre nach Kriegsende gemeinsam
mit allen Staaten Südosteuropas auf dem Weg in die Europäische Union. Auf
diesem Weg muss Bosnien und Herzegowina weiter unterstützt werden.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/228

Der Schwerpunkt finanzieller Hilfsmaßnahmen ist dabei stärker als bisher auf
die Wirtschaftsförderung und die Entwicklung einer selbsttragenden Wirt-
schaftsstruktur auszurichten, und damit auch auf die Bekämpfung der massiven
Arbeitslosigkeit.

Eine militärische Präsenz der Europäischen Union bleibt notwendig, bis Bos-
nien und Herzegowina die volle Souveränität übertragen worden ist. Wird darü-
ber hinaus von Bosnien und Herzegowina eine weitere militärische Präsenz
gewünscht, sollte dem unter Berücksichtigung des tatsächlichen Bedarfes ent-
sprochen werden.

Berlin, den 13. Dezember 2005

Dr. Rainer Stinner
Daniel Bahr (Münster)
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Jörg van Essen
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich (Bayreuth)
Dr. Edmund Peter Geisen
Hans-Michael Goldmann
Miriam Gruß
Dr. Christel Happach-Kasan
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Hellmut Königshaus
Dr. Heinrich L. Kolb
Jürgen Koppelin
Heinz Lanfermann
Harald Leibrecht
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Markus Löning
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto (Frankfurt)
Detlef Parr
Gisela Piltz
Marina Schuster
Carl-Ludwig Thiele
Florian Toncar
Dr. Volker Wissing
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

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