BT-Drucksache 16/217

Beendigung der Operation "ALTHEA" und Einrichtung einer internationalen nicht-militärischen Polizeimission in Bosnien und Herzegowina

Vom 14. Dezember 2005


Deutscher Bundestag Drucksache 16/217
16. Wahlperiode 14. 12. 2005

Antrag
der Abgeordneten Dr. Norman Paech, Paul Schäfer (Köln), Monika Knoche,
Hüseyin-Kenan Aydin, Dr. Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke, Dr. Hakki Keskin,
Michael Leutert, Dr. Kirsten Tackmann, Alexander Ulrich, Gert Winkelmeier,
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und der Fraktion DIE LINKE.

Beendigung der Operation „ALTHEA“ und Einrichtung einer internationalen
nicht-militärischen Polizeimission in Bosnien und Herzegowina

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die Lage in Bosnien und Herzegowina hat sich seit Unterzeichnung des
„Allgemeinen Rahmenabkommens zum Erhalt des Friedens und der Stabili-
sierung von Bosnien und Herzegowina“ (Dayton-Abkommen) von 1995
grundlegend verändert. Gefährdungen für den Friedensprozess gehen nicht
mehr von einer militärischen Konfrontation zwischen bewaffneten Streit-
kräften aus. Die in Annex 1A des Dayton-Abkommens vorgesehene Verhin-
derung militärischer Kampfhandlungen durch die (im Vertragstext für die
Dauer eines Jahres veranschlagte) Stationierung einer internationalen Streit-
macht ist unter den jetzigen Bedingungen hinfällig. Die Bundesregierung
bezeichnete es in ihrem Antrag für das „ALTHEA“-Mandat (Bundestags-
drucksache 15/4245) dennoch als Kernaufgabe der Operation, „ehemalige
kriegführende Parteien und andere bewaffnete Gruppen von der Aufnahme
erneuter Feindseligkeiten und Gewalttaten“ abzuschrecken.

2. Die tatsächlich existierenden erheblichen Sicherheitsprobleme in Bosnien
und Herzegowina resultieren aus einer florierenden kriminellen Schatten-
ökonomie. Allerdings gehören die Bekämpfung von Zwangsprostitution,
Menschen-, Drogen- und Waffenhandel und anderen Varianten des organi-
sierten Verbrechens in Bosnien und Herzegowina ausdrücklich nicht zu den
Kernzielen der Operation „ALTHEA“ und somit auch nicht zu den Auf-
gaben der Bundeswehrsoldaten innerhalb der EUFOR. Streitkräfte sind zur
Erfüllung dieser polizeilichen Aufgabe in der Tat nicht in der Lage.

3. Die schwachen staatlichen Institutionen in Bosnien und Herzegowina sowie
die damit einhergehende Korruption tragen über die Grenzen des Landes
hinaus zu erheblichen Menschenrechtsverletzungen, vor allem gegenüber
Frauen, bei. Sie befördern darüber hinaus die Vorbereitung krimineller und

terroristischer Akte auch außerhalb von Bosnien und Herzegowina. Eine
internationale, eindeutig nicht-militärische Polizeimission wäre geeigneter,
einen Beitrag zur Verbesserung der Situation und zur baldigen und nachhal-
tigen Eigenständigkeit Bosniens zu leisten. Diese neue Polizeimission
außerhalb militärischer Strukturen könnte die am 1. Januar 2003 etablierte
Polizeimission der Europäischen Union (EUPM) in Bosnien und Herzego-
wina ersetzen. Umfang, Ausstattung und Zuständigkeit müssten dazu so aus-

Drucksache 16/217 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

gelegt sein, dass sie gegen das organisierte Verbrechen mit kriminalpolizei-
lichen Mitteln effektiv vorgehen kann. Auch in diese zeitlich klar befristete
nicht-militärische Mission könnten Polizeikräfte aus Mitgliedstaaten der Or-
ganisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die nicht
Mitglied der Europäischen Union sind, in signifikantem Umfang einbezogen
werden.

4. Das aktuelle Konfliktpotential in Bosnien und Herzegowina ist letztendlich
auf die katastrophale wirtschaftliche und soziale Situation des Landes zu-
rückzuführen. Neoliberale Deregulierungs- und Privatisierungsstrategien er-
weisen sich gerade in einem fragilen Staat wie Bosnien und Herzegowina als
konfliktfördernd, da sie die staatlichen Institutionen schwächen und die so-
ziale Kohärenz der Gesellschaft weiter zerstören. Die Operation „ALTHEA“
trägt nicht zur Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Situation bei.
Der Einsatz von EUFOR-Soldaten zum Brückenbau und anderen Infrastruk-
turmaßnahmen schadet sogar der lokalen Ökonomie, da ansonsten entspre-
chende Aufträge der Europäischen Union an bosnische Unternehmen verge-
ben werden und so Arbeitsplätze vor Ort geschaffen werden könnten.

5. Der Bundesminister der Verteidigung hat sich am 27. November 2005 im
„Deutschlandfunk“ dafür ausgesprochen, dass die Bundeswehr „nicht für
Maßnahmen eingesetzt wird, für die sie gerade nicht ausgebildet ist“ und
keine Hilfspolizeifunktion übernimmt. Dies sei „nicht die Aufgabe der Bun-
deswehr“, es solle deshalb über „Umstrukturierungen in den Auslandseinsät-
zen“ geredet werden. Es läge in der Konsequenz dieser Forderung des Bun-
desministers der Verteidigung, polizeiliche Aufgaben in Bosnien und
Herzegowina von Polizisten und nicht von Soldaten übernehmen zu lassen.

6. In einem Interview mit der „WELT am SONNTAG“ vom 23. Oktober 2005
begründete der damals noch amtierende Bundesminister der Verteidigung,
Dr. Peter Struck, den Rückzug von „200 bis 300 Soldaten“ aus Bosnien und
Herzegowina mit seinem Eindruck, „dass es dort eine Neigung gibt, sich zu-
rückzulehnen und uns die Arbeit machen zu lassen“. Der ehemalige Befehls-
haber der Alliierten Landstreitkräfte in Mitteleuropa und ehemaliger Kom-
mandeur der NATO-Truppen im Kosovo, General a. D. Klaus Reinhardt,
wird in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 25. Oktober 2005 mit den Worten
zitiert: „Mit Ausnahme von Ost-Timor und Mazedonien kann keiner der
Auslandseinsätze, an denen die europäischen Soldaten in den letzten Jahren
beteiligt waren, als Erfolg bezeichnet werden.“ Beide Einschätzungen spre-
chen für die Einleitung eines vollständigen Rückzugs der EUFOR und der
an ihr beteiligten deutschen Streitkräfte aus Bosnien und Herzegowina.

7. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat am 22. November 2004 durch
Resolution 1575 (2004) und erneut am 21. November 2005 durch Resolu-
tion 1639 (2005) die Einrichtung der EUFOR „begrüßt“, mit keiner der
Resolutionen werden die VN-Mitgliedstaaten jedoch zu einer Teilnahme an
der Operation „ALTHEA“ aufgefordert. Ein Abzug der deutschen Streit-
kräfte, wie der EUFOR insgesamt, würde dem erklärten Willen des VN-
Sicherheitsrates also nicht zuwiderlaufen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. innerhalb der Europäischen Union darauf hinzuwirken, die Operation
„ALTHEA“ zu beenden,

2. den Rückzug der bewaffneten deutschen Streitkräfte aus Bosnien und Herze-
gowina einzuleiten,

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/217

3. innerhalb der Europäischen Union darauf hinzuwirken, die EUPM durch
eine internationale nicht-militärische Polizeimission mit erheblich erweiter-
tem Umfang und zeitlich begrenztem Mandat abzulösen,

4. die Vereinten Nationen und die Organisation für Sicherheit und Zusammen-
arbeit in Europa stärker in diesen Prozess einzubeziehen,

5. innerhalb der Europäischen Union darauf hinzuwirken, den zivilgesell-
schaftlichen Prozess in Bosnien und Herzegowina durch eine gezielte Unter-
stützung der lokalen Ökonomie und eine Stärkung der zivilen staatlichen
Institutionen zu fördern.

Berlin, den 5. Dezember 2005

Dr. Norman Paech
Paul Schäfer (Köln)
Monika Knoche
Hüseyin-Kenan Aydin
Dr. Diether Dehm
Wolfgang Gehrcke
Dr. Hakki Keskin
Michael Leutert
Dr. Kirsten Tackmann
Alexander Ulrich
Gert Winkelmeier
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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