BT-Drucksache 16/2145

Umsetzungsschwierigkeiten beim trägerübergreifenden Persönlichen Budget

Vom 29. Juni 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/2145
16. Wahlperiode 29. 06. 2006

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Jörg Rohde, Dr. Heinrich L. Kolb, Jens Ackermann,
Christian Ahrendt, Daniel Bahr (Münster), Uwe Barth, Rainer Brüderle,
Angelika Brunkhorst, Ernst Burgbacher, Patrick Döring, Jörg van Essen,
Otto Fricke, Horst Friedrich (Bayreuth), Dr. Edmund Peter Geisen, Hans-Michael
Goldmann, Miriam Gruß, Joachim Günther (Plauen), Heinz-Peter Haustein,
Elke Hoff, Birgit Homburger, Michael Kauch, Heinz Lanfermann, Sibylle Laurischk,
Harald Leibrecht, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Michael Link (Heilbronn),
Horst Meierhofer, Patrick Meinhardt, Burkhardt Müller-Sönksen, Hans-Joachim
Otto (Frankfurt), Frank Schäffler, Dr. Max Stadler, Dr. Rainer Stinner, Florian
Toncar, Dr. Claudia Winterstein, Dr. Volker Wissing, Martin Zeil, Dr. Guido
Westerwelle und der Fraktion der FDP

Umsetzungsschwierigkeiten beim trägerübergreifenden Persönlichen Budget

Mit dem trägerübergreifenden Persönlichen Budget (TPB) für Menschen mit
Behinderungen ist 2004 ein Instrument geschaffen worden, das zu einem grund-
legenden Prinzipienwandel bei der Pflege und Betreuung von Menschen mit Be-
hinderungen führen sollte. Es trägt dem Prinzip größtmöglicher Selbstbestim-
mung Rechnung und verfolgt das Ziel, so viele Menschen mit Behinderungen
wie möglich ambulant statt stationär betreuen und pflegen zu können. Zur Ver-
meidung von Startschwierigkeiten und Reibungsverlusten hat der Gesetzgeber
dem für 2008 geplanten verbindlichen Rechtsanspruch auf die Beantragung
eines TPB eine mehrjährige Modellversuchsphase vorgeschaltet. Aus den bun-
desweit 14 Modellregionen liegen Zwischenergebnisse vor. Das zentrale Ergeb-
nis lautet: Die Resonanz auf das TPB bleibt bisher weit hinter allen Erwartungen
zurück. Zwar erhalten in den 14 Modellregionen insgesamt derzeit 496 Personen
ein persönliches Budget, außerhalb von Rheinland-Pfalz, wo es schon seit 2001
Budgets gibt, gibt es aber nur 165 Budgets; tatsächlich trägerübergreifende Bud-
gets gibt es bundesweit so gut wie keine. Erste Analysen der wissenschaftlichen
Begleitforschung, aber auch anerkannter Institutionen wie z. B. des PARITÄTI-
SCHEN Kompetenzzentrums Persönliches Budget in Mainz, kommen zu dem
Ergebnis, dass es eindeutige Gründe für die schwache Resonanz auf das TPB
gibt. Kritisiert werden:

– eine für die Budgetnehmer schwer voneinander zu trennende Vielfalt von

Budgetmodellen (Persönliche Budgets gemäß § 17 SGB IX, Pflegebudgets
nach § 8 Abs. 3 SGB XI, TPB, Integriertes Budget, Budgets nach § 101a
BSHG),

– die ungeklärte Finanzierung von im Einzelfall notwendiger Assistenz bei der
Budgetbeantragung und -verwaltung,

– extrem lange Verfahrensdauern bei der Beantragung eines Budgets,

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– Ungewissheit bei den Budgetnehmern über die zu erwartende Höhe des Bud-
gets infolge uneinheitlicher Verfahren der Hilfebedarfsermittlung,

– Abwicklungsschwierigkeiten, die aus dem Umstand resultieren, dass Sach-
leistungen der Pflegeversicherung im Rahmen der Budgets nur als Gutschein
ausgegeben werden.

Obwohl die im Einzelfall gemachten Erfahrungen von allen Beteiligten fast aus-
nahmslos positiv bewertet werden, droht das Projekt TPB mangels Nachfrage zu
scheitern. Um dies zu verhindern und den Start des TPB nicht zum Fehlstart
werden zu lassen, erscheinen Korrekturen bei der Bewerbung, dem Antragsver-
fahren, dem Bewilligungsverfahren und den gesetzlichen Vorgaben notwendig.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wird die Bundesregierung kurzfristig Maßnahmen ergreifen, um das Wissen
über die verschiedenen Möglichkeiten zur Beantragung persönlicher Budgets
zu verbreitern, und wenn ja, welche?

2. Gib es Überlegungen der Bundesregierung, die Erprobungsphase über den
31. Dezember 2007 hinaus zu verlängern?

3. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass in Einrichtungen lebende
Menschen mit Behinderungen unter Umständen schlechtere Chancen zur In-
formationsgewinnung über persönliche Budgets haben als ambulant betreute
Menschen mit Behinderungen?

4. Sieht es die Bundesregierung als gewährleistet an, dass Menschen mit seeli-
schen und geistigen Behinderungen und Menschen mit Behinderungen in sta-
tionären Einrichtungen hinreichend über die Möglichkeiten persönlicher
Budgets informiert sind?

5. Wie hat sich die Inanspruchnahme und Beratungsqualität der gemeinsamen
Servicestellen zwischen der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine
Anfrage der Fraktion der FDP (Bundestagsdrucksache 16/1059) und der Ant-
wort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE.
(Bundestagsdrucksache16/1738) verändert, nachdem die Bundesregierung in
erstgenannter Antwort den mangelnden Bekanntheitsgrad und Schwächen in
der Beratungsmethodenkompetenz der gemeinsamen Servicestellen festge-
stellt hat und neun Wochen später in letztgenannter Antwort ausdrücklich auf
die gemeinsamen Servicestellen als hilfreiche Beratungseinrichtungen hin-
weist?

6. Plant die Bundesregierung bereits im laufenden Modellversuch, aber auch ab
1. Januar 2008, sicherzustellen, dass zusätzlich zum festgestellten Hilfebe-
darf flächendeckend, verbindlich und in ausreichender finanzieller Höhe eine
gegebenenfalls nötige Budgetassistenz gewährleistet und finanziert ist?

7. Wie bewertet die Bundesregierung die Möglichkeit der Gewährung einer
steuerfreien Assistenzvergütung – z. B. analog in Höhe und Verfahren zur
Übungsleiterpauschale – für Personen, die im Auftrag eines gemeinnützigen
Vereins behinderte Personen betreuen und in diesem Zusammenhang bei der
Verwaltung und Verwendung des Budgets assistieren?

8. Wie soll sich nach Auffassung der Bundesregierung angesichts weitgehend
fehlender Anträge zum TPB und einer nur geringen Anzahl nicht trägerüber-
greifender Budgets bei den Trägern eine Bearbeitungsroutine einstellen, so
dass die Bearbeitungsdauer der Budgetanträge reduziert wird?

9. Wird die Bundesregierung Initiativen ergreifen, um auf eine Harmonisierung
der bundesweit ca. 60 konkurrierenden Verfahren der Hilfebedarfsermittlung

durch die Träger der Eingliederungshilfe (Stand August 2005) zu hinzuwir-
ken?

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10. Teilt die Bundesregierung die Auffassung z. B. des PARITÄTISCHEN
Kompetenzzentrums Persönliches Budget, dass für potenzielle Budgetneh-
mer die Ungewissheit über die Höhe des zu erwartenden Budgets ein maß-
geblicher Grund ist, auf die Beantragung eines Budgets von vornherein zu
verzichten?

11. Zeichnen sich nach Auffassung der Bundesregierung innerhalb der Modell-
regionen Verfahren zur Hilfebedarfsermittlung ab, die Vorbildcharakter für
das übrige Bundesgebiet haben könnten?

12. Wie bewertet die Bundesregierung die Auffassung der Kommunen, dass
Budgetnehmer des TPB, die aus Leistungen der Pflegeversicherung selbst
als Arbeitgeber Pflegekräfte anstellen möchten, nicht den höherwertigen
Sachleistungsgutschein, sondern die niedrigere Geldleistung in Anspruch
nehmen müssten und sich damit automatisch der Träger der Sozialhilfe im
höheren Umfang am Budget beteiligen müsse?

13. Wer ist bei der Inanspruchnahme von Vereinen oder Privatpersonen als An-
bieter sozialer Dienstleistungen im Rahmen von Budgetleistungen ver-
pflichtet zu prüfen, ob der Anbieter umsatzsteuerpflichtig bzw. -befreit ist?

14. Beabsichtigt die Bundesregierung, Vergütungen für Hilfestellungen, die ins-
besondere beim Wechsel aus dem Heim in eine eigene Wohnung notwendig
sind und aufgrund der Behinderung nicht ausgeführt werden können (z. B.
Unterstützung bei Regalaufbau; bisher im Heimentgelt finanziert z. B. durch
Hausmeister) als Hilfebedarf im Rahmen des Persönlichen Budgets anzuer-
kennen?

15. Erkennt die Bundesregierung Tendenzen, dass es in einigen Modellregionen
schwierig ist, Kostenträger außerhalb der Sozialhilfeträger, also z. B. Ar-
beitsagenturen, Integrationsämter, Kranken- und Pflegekassen, Berufsge-
nossenschaften und die Rentenversicherung zu einer aktiven Mitwirkung
am TPB zu bewegen, und wenn ja, wie will die Bundesregierung diesen
Tendenzen begegnen?

16. Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, die Anreize für Leis-
tungsanbieter zu erhöhen, um sicherzustellen, dass bundesweit der Wunsch
eines Menschen mit Behinderung nach einem Persönlichen Budget nicht am
Fehlen geeigneter Leistungsanbieter scheitert?

17. Kann grundsätzlich jede Person und Institution als Leistungsanbieter auftre-
ten, oder müssen bestimmte, klar und einheitlich definierte Mindestanforde-
rungen erfüllt werden, und wenn ja, ist ein Zertifizierungsverfahren für An-
bieter und/oder Leistungen geplant?

18. Wie kann nach Auffassung der Bundesregierung sichergestellt werden, dass
Nehmer eines TPB zukünftig auch bei berufsvorbereitenden Auslandsprak-
tika von mehr als sechs Wochen Dauer die Leistungen des TPB ungekürzt
in Anspruch nehmen können?

19. Welche Konsequenzen für das TPB zieht die Bundesregierung aus dem
kompletten Scheitern der dem TPB ähnlichen Komplexleistung „Frühförde-
rung“ (siehe gemeinsame Pressemitteilung der Behinderten- und der Patien-
tenbeauftragten der Bundesregierung vom 2. Juni 2006)?

20. Teilt die Bundesregierung die Auffassung vieler Sozialverbände, dass die
im Koalitionsvertrag vereinbarte Weiterentwicklung der Eingliederungs-
hilfe durch den Satz 6 im geplanten Artikel 84 Abs. 1 GG maßgeblich
erschwert wird, und wenn ja, wie bewertet die Bundesregierung den Vor-

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schlag der Sozialverbände, im Rahmen der Föderalismusreform den Satz 6
im geplanten Artikel 84 Abs. 1 GG ersatzlos zu streichen oder eine
Regelung aufzunehmen, die den Bereich der Rehabilitation und Teilhabe
behinderter Menschen von dem Anwendungsbereich des neuen Artikels 84
Abs. 1 Satz 6 GG ausnimmt, damit der Bund seine Handlungsfähigkeit z. B.
bei der Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe behält?

Berlin, den 29. Juni 2006

Dr. Guido Westerwelle und Fraktion

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