BT-Drucksache 16/198

Berufsausbildung umfassend sichern

Vom 13. Dezember 2005


Deutscher Bundestag Drucksache 16/198
16. Wahlperiode 13. 12. 2005

Antrag
der Abgeordneten Priska Hinz (Herborn), Krista Sager, Grietje Bettin,
Ekin Deligöz, Kai Boris Gehring, Katrin Göring-Eckardt, Britta Haßelmann
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Berufsausbildung umfassend sichern

Der Bundestag wolle beschließen:

1. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Zugang zu Bildung und Ausbildung ist ein zentrales Merkmal einer gerechten
Gesellschaft. Bildung entscheidet immer mehr über die Chancen des Einzelnen
auf soziale Teilhabe. Sie ist notwendig, um in einer komplexer werdenden Ge-
sellschaft Orientierung zu finden und das eigene Leben aktiv gestalten zu kön-
nen. Bildung hat einen Eigenwert für die Entfaltung der einzelnen Menschen
und für den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft. Bildung eröffnet Perspek-
tiven und ist zunehmend der beste Schutz vor Arbeitslosigkeit. Chancen und
Perspektiven werden aber schon lange vor der Wahl der beruflichen Ausbildung
eröffnet oder eben verbaut: in Kindergarten und Schule. Das haben die Ergeb-
nisse der Pisa-Studie gezeigt. Deswegen muss die Verbesserung der Bildungs-
wege schon dort beginnen.

Eine gut ausgebildete Bevölkerung ist gleichzeitig die entscheidende Ressource,
um im Innovationswettbewerb mit anderen Ländern zu bestehen. Als nach klas-
sischem Verständnis rohstoffarme Volkswirtschaft ist Deutschland auf einen
hohen Bildungsstand aller Bevölkerungsgruppen angewiesen, unabhängig von
Herkunft, Geschlecht oder Alter. Angesichts der Herausforderung des demogra-
fischen Wandels müssen alle Talente genutzt werden. Nur so kann sich eine
demokratische Wissensgesellschaft weiterentwickeln und im internationalen
Wettbewerb behaupten.

Die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands sowie die Beschäftigungs- und Lebens-
chancen jedes Einzelnen hängen mehr denn je davon ab, ob es gelingt, die Lern-
und Leistungspotenziale der Menschen zu aktivieren. Dies gilt gerade für junge
Menschen. Wer den eigenen Lebensweg mit der Erfahrung der Ausbildungs-
und Arbeitslosigkeit beginnt, verliert Perspektive, Motivation und Selbstver-
trauen. Dieser individuelle Verlust von Zukunftszutrauen verursacht in der Folge
oft hohe soziale und finanzielle Kosten für die Gesellschaft. Deswegen sind alle
politischen und gesellschaftlichen Akteure in der Pflicht, jungen Menschen eine

Perspektive zu geben. Besonders wichtig ist dabei, dem hohen Stellenwert einer
qualifizierten Berufsausbildung für den Integrationserfolg von Migrantinnen
und Migranten zu entsprechen. Außerdem muss die unter der früheren Bundes-
rgierung von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN begonnene Modernisie-
rung der dualen Ausbildung auch mit Blick auf die Potenziale der ökologischen
Modernisierung weiter vorangebracht werden.

Drucksache 16/198 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Die bisher angestoßenen Initiativen und Programme haben den seit vielen Jah-
ren herrschenden Mangel an betrieblichen Ausbildungsplätzen in Deutschland
nicht beheben können. Alljährlich sind noch zum Beginn des Ausbildungsjahres
zehntausende Jugendliche ohne Ausbildungsperspektive. Auch der Ausbil-
dungspakt hat die in ihn gesetzten Erwartungen nicht hinreichend erfüllt. Noch
immer gibt es nicht für alle Ausbildungswilligen einen Ausbildungsplatz. Das
im Rahmen des Paktes entworfene Instrument des „Einstiegsqualifizierungsjah-
res“ (EQJ) hat sich zwar in vielen Fällen als Einstiegsjahr erwiesen, aber nur sel-
ten einen Qualifizierungsvorteil gebracht. Auch die im Pakt beschlossene Ko-
operation aller beteiligten Akteure zur Verbesserung der Berufsorientierung und
-reife hat noch keine Ergebnisse gebracht.

In der beruflichen Ausbildung ist und bleibt vor allem die Wirtschaft gefordert,
auch in ihrem eigenen Interesse an gut ausgebildeten Fachkräften für die Zu-
kunft. Für die staatlichen Akteure bleibt die Aufgabe, die bestehenden staat-
lichen Maßnahmen im Interesse der Jugendlichen zu koordinieren, gegebenen-
falls zu bündeln und vor allem in ihrer Qualität zu verbessern. Deswegen müssen
bis zum Ablauf des Moratoriums über die Ausbildungsplatzumlage im Jahr
2007, auf das sich die Partner des Paktes geeinigt haben, dringend Maßnahmen
zur Verbesserung der Ausbildungssituation durchgeführt werden.

2. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, in Zusammen-
arbeit mit den Ländern

– bis Juli 2006 Konzepte vorzulegen, wie die im Pakt vereinbarte Koopera-
tion der Arbeitsagenturen, der Betriebe, der überbetrieblichen Bildungs-
stätten, der berufsbildenden Schulen und anderer Berufsbildungsträger mit
den allgemeinbildenden Schulen intensiviert werden soll, so dass dadurch
zur Verbesserung der Berufsreife und vor allem auch der Berufsorien-
tierung der Jugendlichen beigetragen werden kann;

– bis Juli 2006 ein Konzept vorzulegen, wie die Quote der Jugendlichen un-
ter 25 Jahren, die die Schule ohne Abschluss der Sekundarstufe II oder
einen sonstigen Bildungsabschluss verlassen haben und keine Berufsaus-
bildung abgeschlossen haben, halbiert werden kann;

– eine Offensive zu starten, um die Wirksamkeit und Zielgenauigkeit der
staatlichen Qualifizierungsprogramme zu verbessern. Dies sollte auch
Maßnahmen zur Berufsvorbereitung und Einstiegsqualifizierung umfas-
sen und berufliche Schulen unterstützen. Notwendig sind hier u. a. die in-
terkulturelle Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte;

– die Benachteiligtenförderung quantitativ und qualitativ so auszubauen,
dass sie mehr Jugendlichen ermöglicht, schneller einen qualifizierten Ab-
schluss zu erreichen. Dazu ist es auch notwendig, dass die Vorbereitungs-
und Qualifizierungsmaßnahmen noch stärker in modularisierte Ausbil-
dungsgänge integrierbar oder anrechenbar werden;

– ein Konzept vorzulegen, das die Bildungsberatung vor allem dahin gehend
verbessert, dass junge Frauen und Männer bei der Wahl ihrer Ausbildung
Geschlechterstereotype genauso überwinden wie herkunftsspezifische
Stereotype und das gesamte Ausbildungsspektrum für ihre Berufswahl-
entscheidung nutzen;

– die Durchlässigkeit des Bildungssystems zu fördern, indem das Erreichen
der Hochschulreife durch Abschlüsse der beruflichen Bildung erleichtert
und bundesweit vereinheitlicht wird;

– ein Konzept vorzulegen, wie gewährleistet werden kann, dass die Hoch-
schulen so ausgebaut werden, dass bei einer angestrebten Studierenden-

quote von 40 Prozent eines Jahrgangs ausreichend ausfinanzierte Studien-
plätze zur Verfügung stehen und nicht – wie derzeit zu beobachten –

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/198

Studienplätze abgebaut werden und so der Druck auf den Ausbildungs-
markt erhöht wird.

3. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

– die seit der Reform des Berufsbildungsgesetzes mögliche Anerkennung
vollzeitschulischer Ausbildungen verstärkt bekannt zu machen und voran-
zutreiben. Es hat sich gezeigt, dass diese Möglichkeit bisher weder in allen
Betrieben noch in allen Kammern bekannt ist. Ein Zwischenergebnis über
erste Auswirkungen der Reform muss auf Basis der Daten zum Ende der
Nachvermittlung 2005 schnellstmöglich vorgelegt werden;

– schnellstmöglich europarechtskompatible gesetzliche Grundlagen zu
schaffen, so dass bei öffentlichen Vergabeverfahren ausbildende Betriebe
bevorzugt werden können;

– die verschiedenen Programme des Bundes im Bereich der beruflichen Bil-
dung zu einem umfangreichen Qualifizierungsprogramm zu bündeln und
zu erweitern;

– sicherzustellen, dass die Zuständigkeit von mehreren Akteuren wie den
Arbeitsagenturen, den Arbeitsgemeinschaften, den Trägern der Jugend-
hilfe und den kommunalen Trägern für die Jugendlichen nicht zum
„Verschiebebahnhof“ wird, sondern deren Interessen durch umfassende
Kooperation wahrgenommen werden. Dazu müssen die gesetzlichen Vor-
aussetzungen geschaffen werden;

– die Lage junger Migrantinnen und Migranten auf dem Ausbildungsmarkt
gezielt zu verbessern. Alle Akteure der beruflichen Bildung müssen mit
dem Ziel zusammengebracht werden, Konzepte, Projekte und Initiativen
zur beruflichen Qualifizierung von Migrantinnen und Migranten zu ent-
wickeln und umzusetzen. Dazu muss das von Rot-Grün ins Leben gerufene
Qualifizierungsnetzwerk für die Förderung der Ausbildung von Jugend-
lichen mit Migrationshintergrund fortgesetzt und ausgeweitet werden;

– bisherige Programme wie KAUSA, die es Migrantinnen und Migranten
erleichtern, in ihren Betrieben auszubilden, fortzusetzen und zu ergänzen
mit dem Ziel, ihre Ausbildungsquote zu erhöhen. Ebenso muss überprüft
werden, ob und wie die Aussetzung der Ausbildereignungsverordnung die
Ausbildungsquote gerade von ausländischen Unternehmen in Deutsch-
land erhöht hat;

– auf die Bundesagentur dahin gehend Einfluss zu nehmen, dass diese in
ihrer Beratungspraxis die Einordnung in „Frauenberufe“ und „Männerbe-
rufe“, die derzeit noch immer stattfindet, überwindet, damit junge Frauen
und Männer nicht mehr davon abgehalten werden, ihre Potenziale voll
auszuschöpfen und ihre Beschäftigungs- und Karrieremöglichkeiten zu
verbessern. Die kommunalen Träger sollten darin unterstützt werden, in
ihrer Beratung und Vermittlung solche überkommenen Rollenbilder gar
nicht erst auszubilden;

– auf die Tarifpartner im Rahmen des Paktes Einfluss zu nehmen, sich ver-
mehrt in tariflichen Vereinbarungen selbst zur Erhöhung der Ausbildungs-
zahlen zu verpflichten;

– auf die Partner im Pakt für Ausbildung einzuwirken, dass auch diese über
den Pakt hinaus aktiv werden und beispielsweise diejenigen Unterneh-
men, die ausbilden, von Kosten entlasten. So sollten die Kammern einheit-
lich dem guten Beispiel einzelner Regionen folgen und die Prüfungsge-
bühren abschaffen. Wenn die Kosten der Prüfungen stattdessen auf die
Mitgliedsbeiträge umgelegt würden, beteiligten sich auch die Unterneh-

men an den Kosten der Ausbildung, die selbst nicht ausbilden;

Drucksache 16/198 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
– rechtzeitig vor dem Auslaufen des Moratoriums zur Ausbildungsplatz-
umlage über die Entwicklung der Ausbildungssituation zu berichten so-
wie Handlungsoptionen zu unterbreiten und, falls die freiwillige Selbst-
verpflichtung nicht zu einer ausreichenden Zahl von Ausbildungsplätzen
geführt hat, dabei auch die Einführung von Umlagesystemen zu prüfen;

– Bestrebungen zu unterstützen, eine Stiftung zur Förderung der beruflichen
Bildung zu gründen. Die Einwerbung von Stiftungsgeldern und deren
Verwendung für gelungene beispielgebende Projekte in der beruflichen
Bildung, etwa von vorbildlichen Ausbildungsverbünden oder von innova-
tiven Schulformen für Auszubildende, befördert das bürgerschaftliche
Engagement für Berufsbildung und weist neue Wege. Nur durch eine
offensive Strategie, die in allen Teilen der Gesellschaft für die berufliche
Bildung wirbt und ihr eine prominente Stellung im öffentlichen Leben
sichert, kann die grundlegende Aufgabe der Berufsausbildung für die In-
tegration junger Menschen in die Gesellschaft für die Zukunft gesichert
werden.

Berlin, den 13. Dezember 2005

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion
Antrag
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