BT-Drucksache 16/1770

Einbürgerungen erleichtern - Ausgrenzungen ausschließen

Vom 31. Mai 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/1770
16. Wahlperiode 31. 05. 2006

Antrag
der Abgeordneten Sevim Dagdelen, Ulla Jelpke, Petra Pau, Hüseyin-Kenan Aydin,
Dr. Hakki Keskin, Jan Korte, Kersten Naumann, Wolfgang Neskovic, Dr. Gregor
Gysi, Oskar Lafontaine und der Fraktion DIE LINKE.

Einbürgerungen erleichtern – Ausgrenzungen ausschließen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Menschen, die ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben, sollen hier
auch alle sozialen und politischen Rechte in Anspruch nehmen können. Dass
Millionen von Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit dauerhaft in
Deutschland leben, mitunter bereits in der zweiten oder dritten Generation,
und dennoch nicht einmal wählen dürfen, ist in menschenrechtlicher und de-
mokratischer Hinsicht unerträglich. Im Jahr 2004 lebten laut Ausländerzent-
ralregister etwa 6,7 Millionen Menschen ausländischer Staatsangehörigkeit
in Deutschland mit einer durchschnittlichen Aufenthaltsdauer von 16,1 Jah-
ren, drei Viertel von ihnen seit über sechs Jahren.

Der Schlüssel zur politischen Integration der Betroffenen liegt in einem radi-
kal vereinfachten und erleichterten Einbürgerungsverfahren – und dies ist
auch der Weg, den das Bundesverfassungsgericht mit seinen Grundsatzurtei-
len zum Kommunalen Wahlrecht vom 31. Oktober 1990 zur stärkeren poli-
tischen Beteiligung und Integration eingewanderter Menschen gewiesen hat.
Gerade weil das Grundgesetz allgemeine Menschenrechte von „Deutschen-
Rechten“ unterscheidet und es auch in anderen Bereichen zur rechtlichen Be-
nachteiligung Nicht-Deutscher kommt, muss Menschen, die dauerhaft in
Deutschland leben, möglichst frühzeitig das Recht auf Einbürgerung angebo-
ten werden. Nur so wird es Einwanderinnen und Einwanderern auch möglich,
sich aktiv in das politische Gemeinwesen der Bundesrepublik Deutschland
einzubringen und sich als gleichberechtigter Teil desselben zu verstehen. Die
Eröffnung politischer Teilhabe- und Mitbestimmungsrechte ist ein unabding-
barer Bestandteil einer gelingenden Integrationspolitik. Die Verweigerung
oder Erschwerung der Einbürgerung kommt dagegen einer faktischen Diskri-
minierung und Ungleichbehandlung der Menschen gleich, was von ihnen
auch so erlebt wird.

2. Mit der Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes (StAG) zum 1. Januar 2000

und der Aufnahme des Territorialprinzips (ius soli) wurde eine längst über-
fällige Modernisierung des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts vorgenom-
men, das zuvor noch zentral auf dem Prinzip der Abstammung (ius sanguinis)
basierte und damit den Realitäten und Erfordernissen einer Einwanderungs-
gesellschaft nicht entsprach. Konterkariert wurde diese Modernisierung
allerdings von dem Umstand, dass an dem Prinzip der Vermeidung der Mehr-
staatigkeit im Grundsatz festgehalten wurde, was für viele Menschen ein

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effektives Einbürgerungshindernis darstellt bzw. sogar zum Verlust der deut-
schen Staatsangehörigkeit führen kann (§ 25 StAG: Verlust bei Erwerb einer
anderen Staatsangehörigkeit und § 29 StAG: „Optionsmodell“ für in
Deutschland geborene Kinder von Nicht-Deutschen bei Erreichen der Voll-
jährigkeit).

Die geltende Rechtslage und Einbürgerungspraxis stellen auch im Übrigen zu
hohe Hürden auf: Zu kritisieren sind unter anderem die hohen Einbürge-
rungsgebühren (Regelsatz nach § 38 Abs. 2 StAG: 255 Euro), zu langwierige
Verfahren (die sich häufig daraus ergeben, dass nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4
StAG grundsätzlich die vorherige Aufgabe der bisherigen Staatsangehörig-
keit verlangt wird, was sich je nach Herkunftsland sehr schwierig gestalten
kann) und der Ausschluss von Personen, die Leistungen des Zweiten oder
Zwölften Buches Sozialgesetzbuch in Anspruch nehmen. Insbesondere der
letzte Gesichtspunkt stellt in Zeiten struktureller Massenarbeitslosigkeit und
angesichts der besonderen Benachteiligung von Migrantinnen und Migranten
im Ausbildungs- und Erwerbsleben ein effektives Einbürgerungshindernis
dar.

Der Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher
Richtlinien der Europäischen Union des Bundesministeriums des Inneren
vom 3. Januar 2006 sieht in Artikel 5 weitere Verschärfungen des geltenden
Staatsangehörigkeitsgesetzes vor.

3. Die Zahl der Einbürgerungen in Deutschland ist nach wie vor zu niedrig und
nach Inkrafttreten des neuen Staatsangehörigkeitsrechts zum 1. Januar 2000
rückläufig, sowohl in absoluten Zahlen als auch in Bezug auf die Einbürge-
rungsquote (Anteil der Einbürgerungen an der ausländischen Gesamtbevöl-
kerung).

Im Jahr 2000 konnte mit 186 688 Einbürgerungen ein Höchststand erreicht
werden, der sich jedoch im Wesentlichen mit Sonderfaktoren der Gesetzes-
änderung erklären lässt (Übergangsregelung für Kinder unter zehn Jahren
nach § 40b StAG, Bearbeitung von Altanträgen nach neuem Recht). Seitdem
sank die Zahl der jährlichen Einbürgerungen kontinuierlich auf bis zu
127 153 im Jahr 2004 ab – und damit auf einen Wert noch unterhalb der Zahl
der Einbürgerungen vor der Staatsangehörigkeitsreform (1999: 143 267).

Aussagekräftiger als die absoluten Zahlen ist die so genannte Einbürgerungs-
quote: Dieser Wert sank von einem Maximum im Jahr 2000 (2,56 Prozent)
kontinuierlich auf einen Wert niedriger als die 1999 bereits erreichte Quote
(1,95 Prozent), nämlich auf 1,74 Prozent im Jahr 2004. Die Einbürgerungs-
quote in Deutschland liegt damit im europäischen Vergleich im unteren Vier-
tel (nur Spanien, Italien und Luxemburg wiesen geringere Quoten auf; an der
Spitze lag im Jahr 2003 Schweden mit einer Quote von 7 Prozent).

4. Die Einbürgerungsverfahren der einzelnen Bundesländer aufgrund der gel-
tenden Rechtslage unterscheiden sich zum Teil erheblich. Dies betrifft insbe-
sondere die Prüfung der Sprachkenntnisse (§ 11 Satz 1 Nr. 1 StAG), das Be-
kenntnis zur freiheitlich demokratischen Grundordnung und Erklärungen zur
Unterlassung verfassungsfeindlicher Bestrebungen (vgl. § 10 Abs. 1 Satz 1
Nr. 1 StAG). Besondere mediale Beachtung haben in diesem Zusammenhang
zuletzt der „Gesprächsleitfaden“ für die Einbürgerungsbehörden Baden-
Württembergs („Muslim-Test“), der bayerische Fragebogen zu Mitglied-
schaften bzw. Unterstützungshandlungen „extremistischer und extremistisch
beeinflusster Organisationen“ und der Vorschlag eines obligatorischen „Wis-
sens- und Wertetests“ vom hessischen Landesinnenminister gefunden. Die
unterschiedliche Anwendung des Staatsangehörigkeitsgesetzes hat bereits
jetzt zu einem „Nord-Süd-Gefälle“ bei der Einbürgerungsquote geführt.

Diese fiel in Baden-Württemberg und Bayern im Jahr 2003 mit 1,51 Prozent

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/1770

bzw. 1,24 Prozent signifikant geringer aus als im Bundesdurchschnitt
(1,92%).

Es besteht vor diesem Hintergrund die Notwendigkeit einer Vereinheitli-
chung des Einbürgerungsverfahrens, ohne dabei die bestehenden Hürden der
Einbürgerung noch weiter zu erhöhen.

5. Die Meinungs- und Gewissensfreiheit gilt nach Artikel 2 Abs. 1 i. V. m.
Artikel 1 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG), soweit nicht gegen die Rechte an-
derer oder gegen die verfassungsmäßige Ordnung verstoßen wird. Nur eine
aktiv-kämpferische Haltung gegenüber der freiheitlich demokratischen
Grundordnung oder eine tatsächlich verfassungsfeindliche Betätigung kann
vor diesem Hintergrund ein Versagungsgrund im Rahmen des jetzigen § 10
Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StAG sein. Jegliche diskriminierenden „Gesinnungsprü-
fungen“ im Rahmen des Einbürgerungsverfahrens sind zu unterlassen. Für
Deutsche wie Nicht-Deutsche gelten die Gesetze gleichermaßen – auch wenn
Letzteren infolge ihrer nicht-deutschen Staatsangehörigkeit zahlreiche
Rechte versagt werden.

6. Die Art und Weise, wie Fragen des Einbürgerungsverfahrens und entspre-
chende Vereinheitlichungsbemühungen von bestimmten Politikerinnen und
Politikern in der Öffentlichkeit diskutiert und instrumentalisiert werden,
wirkt insgesamt massiv ausgrenzend, mit Wirkung sowohl auf die Mehrheits-
gesellschaft als auch auf die hier lebende Bevölkerung mit Migrationshinter-
grund.

Bei Letzteren wird die Debatte als Zurückweisung empfunden, weil ihnen
das Gefühl vermittelt wird, sie seien in Deutschland nicht willkommen und
stünden unter dem generellen Verdacht der Integrationsunwilligkeit und Ver-
fassungsuntreue. Zugleich wird durch ständig erhöhte Anforderungen (in Be-
zug auf Sprachkenntnisse, Wissen über deutsche Kultur, Geschichte usw.)
und durch die Forderung nach verschärften Prüfungen, Tests, Befragungen,
verpflichtenden Einbürgerungskursen usw. der Eindruck vermittelt, dass Mi-
grantinnen und Migranten sich nicht integrieren wollen, dass sie die deutsche
Sprache nicht erlernen und auch die hiesigen „Gesetze und Bräuche“ nicht
achten wollen. Ausdruck dieses Generalverdachts ist die Auffassung man-
cher Innenminister, alle Einbürgerungswilligen müssten sich einem „Gesin-
nungstest“ unterziehen und zudem ihre Landes- und Gesetzeskunde unter Be-
weis stellen.

Zugleich werden durch die derzeitige Debatte vorhandene rassistische und
fremdenfeindliche Einstellungen in Teilen der deutschen Bevölkerung ge-
stärkt. Die Kluft zwischen Deutschen und Nicht-Deutschen wird sich so wei-
ter vertiefen. Die Zahl der Einbürgerungen wird weiter zurückgehen. Dem
allseits propagierten Ziel einer besseren Integration Nicht-Deutscher ist hier-
mit gerade nicht gedient.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. das Staatsangehörigkeitsgesetz unter der Maßgabe, Einbürgerungen zu er-
leichtern, zu ändern und dabei insbesondere folgende Grundsätze zu beach-
ten und umzusetzen:

a) einbürgerungsberechtigt sind Menschen, die seit mindestens fünf Jahren
ihren tatsächlichen Lebensmittelpunkt in Deutschland haben, unabhängig
vom jeweiligen Aufenthaltstitel,

b) die deutsche Staatsangehörigkeit wird per Geburt in Deutschland verlie-
hen (ius soli),

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c) Mehrfachstaatsbürgerschaften infolge einer Einbürgerung oder aufgrund
der Geburt in Deutschland sind Ausdruck einer globalisierten Welt und
stellen keine Bedrohung dar, die Pflicht zur Aufgabe der bisherigen
Staatsangehörigkeit (§ 10 Abs. 1 Nr. 4 StAG) entfällt deshalb ebenso wie
der Zwang zur Entscheidung für eine Staatsbürgerschaft nach Erreichen
der Volljährigkeit (§ 29 StAG); ehemaligen Deutschen, die ihre deutsche
Staatsangehörigkeit aufgrund des Erwerbs einer weiteren Staatsangehö-
rigkeit verloren haben (§ 25 Abs. 1 StAG), wird eine schnelle, unkompli-
zierte und voraussetzungslose Wiedereinbürgerung ermöglicht,

d) der Anspruch auf Einbürgerung besteht unabhängig vom Einkommen
oder dem sozialen Status der Betroffenen; insbesondere der Bezug von
Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch ist unschädlich,

e) Einbürgerungsberechtigte dürfen nicht auf ihre „innere Gesinnung“ hin
geprüft werden; auch im Übrigen ist ihre grundrechtlich geschützte Mei-
nungs- und Gewissensfreiheit zu achten,

f) die Fähigkeit zur einfachen mündlichen Verständigung in der deutschen
Sprache ist ausreichend als Einbürgerungsvoraussetzung,

g) die Teilnahme an Staatsbürgerschaftskursen darf keine Einbürgerungsvo-
raussetzung sein; entsprechende Kurse müssen als freiwillige und kosten-
freie Angebote ausgestaltet werden,

h) Einbürgerungsgebühren sind auf einen symbolischen Betrag zu senken,

i) die von der Innenministerkonferenz vom 4./5. Mai 2006 geforderte Her-
absenkung der „Bagatellgrenze“ bei außer Betracht bleibenden Straftaten
(§ 12a StAG) von 180 auf 90 Tagessätze ist als unverhältnismäßige Be-
schränkung abzulehnen, zumal einzelne Verurteilungen kumuliert werden
sollen;

2. durch Verlautbarungen, Informationsbroschüren und Aufklärungskampag-
nen einer weiteren Ausgrenzung der Bevölkerung mit Migrationshintergrund
aktiv entgegenzuwirken und zugleich für ihre erleichterte Einbürgerung zu
werben;

3. Bestrebungen zur Verschärfung des geltenden Staatsangehörigkeitsgesetzes,
wie sie etwa in dem Entwurf des Bundesministeriums des Innern eines Ge-
setzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Euro-
päischen Union vom 3. Januar 2006 enthalten sind (Artikel 5), zu unterbin-
den.

Berlin, den 31. Mai 2006

Sevim Dagdelen
Ulla Jelpke
Petra Pau
Hueseyin-Kenan Aydin
Dr. Hakki Keskin
Jan Korte
Kersten Naumann
Wolfgang Neskovic
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/1770

Begründung

Da fundamentale politische und soziale Rechte in Deutschland von der Staats-
angehörigkeit abhängen, müssen die Voraussetzungen zur Einbürgerung grund-
legend erleichtert werden. Denn nur wer als Träger uneingeschränkter Men-
schenrechte, als gleichberechtigter Bürger oder gleichberechtigte Bürgerin mit
vollen Rechten angesehen wird und sich am demokratischen und gesellschaft-
lichen Leben ohne Diskriminierung beteiligen kann, ist tatsächlich integriert.
Ein restriktives Einbürgerungsrecht hingegen trägt zur Desintegration von Men-
schen bei, die einen Rechtsanspruch auf dauerhaften Aufenthalt in Deutschland
haben. Auch der nordrhein-westfälische Integrationsminister Armin Laschet
(CDU) wirbt vor diesem Hintergrund dafür, mehr Menschen als bisher einzubür-
gern, als ein „wichtiges positives Signal“ (ddp, 27. April 2006).

Mit einer Gesetzesänderung soll deshalb die Einbürgerung bundesweit erleich-
tert und hierdurch das Signal an die in Deutschland lebende Bevölkerung ver-
mittelt werden, dass Menschen mit Migrationshintergrund als gleichberechtigter
Teil dieser Gesellschaft angesehen werden.

Eine solche Gesetzesänderung müsste begleitet werden von einer öffentlichen
Informations-, Aufklärungs- und Werbekampagne für die Einbürgerung, wie sie
etwa derzeit vom Beauftragten des Berliner Senats für Integration und Migra-
tion, Günter Piening, gestartet wurde: Seit Anfang des Jahres wird unter dem
Motto „Du PASSt zu mir“ für die Einbürgerung vor allem junger Migrantinnen/
Migranten auf Plakaten, Flyern und in Radiospots geworben und damit sowohl
der deutschen als auch der nicht-deutschen Bevölkerung die Botschaft vermit-
telt, dass Menschen mit Migrationshintergrund „in Berlin gern gesehen und als
respektierter Teil unserer Gesellschaft anerkannt sind“ (Pressemitteilung des
Integrationsbeauftragten vom 9. Januar 2006). Dieser Kampagne gingen Bemü-
hungen des Berliner Senats zur Reduzierung des Bestandes noch unbeschiede-
ner Einbürgerungsanträge voraus, um die Bearbeitungsdauer der Neuanträge zu
verkürzen.

Es versteht sich von selbst, dass die durch eine Einbürgerung vollzogene recht-
liche Gleichstellung von gezielten Maßnahmen zur tatsächlichen Chancen-
gleichheit und Integration der Menschen mit Migrationshintergrund ergänzt
werden muss (vor allem in den Bereichen des Arbeitsmarktes, der Ausbildung,
der Schule, des Wohnens, der Bekämpfung und Ächtung von Rassismus usw.).

Erleichterte Einbürgerungen würden auch dazu beitragen, dass die spezifischen
Probleme der Menschen mit Migrationshintergrund als in erster Linie soziale
Probleme und als Probleme der deutschen Gesellschaft insgesamt begriffen wer-
den – und dass es grundsätzlich nicht um individuelle Fehlleistungen oder eine
mangelnde „Anpassungsfähigkeit“ der Betroffenen geht. Die deutsche Gesell-
schaft und Politik muss endlich anerkennen und akzeptieren, dass Deutschland
ein Einwanderungsland ist und dass hiermit zusammenhängt, dass die zugewan-
derten Menschen als gleichberechtigte Mitglieder dieser Gesellschaft ernst ge-
nommen werden und dass ihnen aktiv geholfen werden muss, wenn spezifische
Benachteiligungen oder Probleme aufgrund ihres Migrationshintergrundes be-
stehen. Ein Lippenbekenntnis zur Einwanderungssituation reicht nicht aus, erst
recht nicht, wenn dieses durch ausgrenzendes Handeln und Reden ständig ent-
wertet wird. Zahlreiche Äußerungen aktiver Politiker belegen aber den klamm-
heimlichen oder auch offen ausgesprochenen Wunsch, die erfolgte Einwande-
rung nach Deutschland wieder ungeschehen machen zu wollen, und den (Irr-)
Glauben, vorhandene Probleme durch Abschiebungen, Ausweisungen, Ausrei-
seaufforderungen und verschärfte Einbürgerungsbedingungen „lösen“ zu kön-
nen. Das rigide deutsche Ausweisungsrecht, das die Ausweisung und Abschie-
bung von Menschen erlaubt, die in Deutschland geboren, aufgewachsen und so-

zialisiert worden sind, ist aus menschenrechtlicher Sicht ebenfalls inakzeptabel
und dringend revisionsbedürftig. Die aktuelle Einbürgerungsdebatte wirkt in ih-

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rer ausgrenzenden Tonlage im Übrigen auch beängstigend auf Deutsche mit
Migrationshintergrund und gefährdet insgesamt den gesellschaftlichen Frieden.

Die aktuelle Debatte, in der immer neue Anforderungen erhoben werden und
insgesamt der Eindruck erweckt wird, die Betroffenen wollten sich gar nicht in-
tegrieren, sie seien kulturell „rückständig“ oder womöglich sogar ein Sicher-
heitsrisiko, weshalb man sie umfangreichen Tests und Prüfungen unterwerfen
müsse, dient einzig und allein der Ausgrenzung. Auch der CDU-Politiker Bülent
Arslan beklagte, dass die Integrationsbereitschaft in der türkischen Gemein-
schaft abnehme, denn: „Damit die Leute sich hier einbringen, müssen sie sich in
Deutschland wohl fühlen, und das tun viele Zuwanderer nicht“. Zu oft bekämen
die Migranten, vor allem Türken und Muslime, das Signal: Ihr seid hier nicht er-
wünscht (epd, 30. März 2006). Wenn die ersten zaghaften Versuche einer poli-
tischen und rechtlichen Anerkennung der Einwanderungssituation in Deutsch-
land als „Multikulti-Säuselei“, als „verlorene Jahre“ oder als „falsch verstan-
dene politische Korrektheit“ bezeichnet werden (Volker Kauder, Fraktionsvor-
sitzender der CDU/CSU, DIE WELT vom 23. März 2006), illustriert dies,
warum sich Migrantinnen und Migranten in Deutschland nicht wohl fühlen
(können). Volker Kauder sagte laut ddp vom 23. März 2006 weiter: Wer Deut-
scher werden wolle, benötige Grundkenntnisse, die über das Wissen hinausgin-
gen, dass man hier Sozialleistungen erhalten kann. Ähnlich ausgrenzend wirken
Sätze des brandenburgischen Innenministers Jörg Schönbohm (Netzeitung,
31. März 2006): „Wer zu uns kommt, muss wissen, Deutschland ist anders als
andere Länder“. „Wer nicht gewillt ist, das zu akzeptieren, tut sich und tut uns
einen Gefallen, wenn er wieder geht“. Oder Edmund Stoiber (CSU): „Es muss
für jeden neuen Deutschen klar sein, dass bei uns das Gewaltmonopol des Staa-
tes gilt und nicht etwa das Gewaltmonopol des türkischen Mannes“ (ddp,
23. März 2006).

Der Vorsitzende des Interkulturellen Rates in Deutschland, Jürgen Micksch, be-
klagte die rassistischen Züge der aktuellen Integrationsdebatte und warnte da-
vor, dass diese zu einem Anstieg von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus und
zur Verfestigung von Vorurteilen und Stereotypen in der Bevölkerung führen
würde (ebd, 5. April 2006).

Auf diese Zurückweisungen und Zumutungen der Mehrheitsgesellschaft könnte
die Bevölkerung mit Migrationshintergrund wiederum mit Formen der Segrega-
tion und Selbstethnisierung reagieren, indem sie die gesellschaftlich und recht-
lich verweigerte Anerkennung verstärkt in ihrer Herkunftskultur und -commu-
nity suchen. Allerdings stellen Bernhard Nauck und Anja Steinbach in ihrer Ex-
pertise für die unabhängige Kommission „Zuwanderung“ („Intergeneratives
Verhalten und Selbstethnisiserung von Zuwanderern“) aus dem Jahr 2001 nach
Auswertung zahlreicher Statistiken und Umfrageforschungen fest, dass in der
Vergangenheit entgegen dem ersten Augenschein empirisch keine Tendenzen ei-
ner „Selbstethnisierung“ oder einer schwindenden Eingliederungsbereitschaft
festgestellt werden konnten (a. a. O., 45; Daten ab 1996 lagen demzufolge nicht
vor, vgl. ebd. 99). Die größten Risiken einer ethnischen Segmentierung der Ge-
sellschaft liegen der Expertise zufolge in der „Schließung des Beschäftigungs-
systems“ (ebd., 100) und in „Schließungstendenzen der Mehrheitsgesellschaft“
(ebd., 101).

Massive Versäumnisse der Integrationspolitik in der Vergangenheit werden mitt-
lerweile parteienübergreifend beklagt. Diese beruhen aber im Wesentlichen
nicht etwa auf der Politik der vorherigen Bundesregierung, wie vor allem Poli-
tiker der CDU behaupten, oder gar auf einem mangelnden Integrationswillen der
Betroffenen, sondern vor allem auf den jahrzehntelangen Versäumnissen einer
staatlichen Politik, die aufgrund ideologischer Borniertheit die Einwanderungs-

situation in Deutschland leugnete und entsprechend auch alle Anstrengungen
unterließ, um diesen Einwanderungsprozess unterstützend zu begleiten, auszu-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 7 – Drucksache 16/1770

gestalten und vorhandene Benachteiligungen zu beseitigen. Genauso blieben
auch die spezifischen interkulturellen Fähigkeiten und Möglichkeiten der Men-
schen mit Migrationshintergrund systematisch ungenutzt. Insbesondere Maß-
nahmen zur frühzeitigen Förderung des Erwerbs der deutschen Sprache bei be-
dürftigen Familien und Kindern, die heute allseits gefordert werden, wurden
über Jahrzehnte hinweg unterlassen. Stattdessen wurden Rückkehrhilfen gesetz-
lich ausgelobt und Ausweisungsbestimmungen verschärft. Den Betroffenen nun
einseitig mangelnde Sprachkenntnisse vorzuhalten oder dies gar als Grund für
die Ablehnung einer Einbürgerung werten zu wollen, verbietet sich vor diesem
Hintergrund. Auch in diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass es bei
vorhandenen Sprachschwierigkeiten um ein in erster Linie soziales Problem
geht, denn auch deutsche Familien und Kinder aus sozial schwachen Verhältnis-
sen sind hiervon betroffen.

Dass die Kenntnisse der Landessprache eine derartige Bedeutung in der Integra-
tionsdebatte erlangt haben, mag auf den ersten Blick plausibel erscheinen. Aber
niemand bestreitet, dass es wünschenswert und vorteilhaft ist, die Sprache des
Wohnlandes zu beherrschen. Statt jedoch pragmatische und in Zusammenarbeit
mit den Betroffenen wirksame Maßnahmen in diesem Bereich zu entwickeln
und umzusetzen, wird die Debatte um Sprachkenntnisse in dem beschriebenen
ausgrenzenden Sinn genutzt. Auf gesonderte Sprachtests oder verschärfte
Sprachvoraussetzungen im Einbürgerungsverfahren sollte deshalb generell ver-
zichtet werden, sofern den Betroffenen eine einfache Verständigung deutscher
Sprache möglich ist. Wenn die übrigen Einbürgerungsvoraussetzungen erfüllt
sind, darf eine Einbürgerung auch nicht etwa vom Einkommen oder von der
konkreten ökonomischen Situation der Betroffenen abhängig gemacht werden.
Denn dies bedeutet, Menschen aufgrund ihrer sozialen Notlage von politischen
Rechten auszuschließen.

Gesinnungsprüfungen im Rahmen des Einbürgerungsverfahrens sind aus ver-
fassungs-, menschen- und völkerrechtlichen Gründen abzulehnen. Der in Ba-
den-Württemberg verwandte „Gesprächsleitfaden“ verstößt gegen Artikel 1
Abs. 3 und Artikel 5 des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung je-
der Form der Rassendiskriminierung von 1966, da einer bestimmten Gruppe von
Menschen (muslimischen Glaubens) eine geschlossene fremde Wertordnung un-
terstellt wird (vgl. das Gutachten von Prof. Dr. Rüdiger Wolfrum und Dr. Volker
Röben vom Max-Planck-Institut für Völkerrecht vom 2. März 2006). Der bereits
aufgrund seines Umfangs abschreckende bayerische Fragebogen zu „extremis-
tischen Organisationen“ (oder was dafür gehalten wird) stellt unter anderem die
Unterstützung oder Mitgliedschaft in Parteien und Vereinigungen wie der im
Deutschen Bundestag vertretenen PDS (Linkspartei), der Vereinigung der Ver-
folgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten
(VVN-BdA) oder auch des Frauenverbandes Courage als mögliches Einbürge-
rungshindernis auf. Der Hessische Vorschlag eines verpflichtenden „Wissens-
und Wertetests“ schließlich wurde bis in die Reihen der CDU hinein als unge-
eignet angesehen. Rechtlich und inhaltlich fragwürdige und in der Wirkung aus-
grenzende Wissens- und Wertetests sind deshalb abzulehnen.

Dass mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asyl-
rechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 3. Januar 2006 des Bundes-
ministeriums des Innern sogar noch Verschärfungen des geltenden Einbürge-
rungsrechts vorgeschlagen werden (etwa hinsichtlich der erleichterten Einbür-
gerung Jugendlicher nach § 10 Abs. 1 Satz 3 StAG), obwohl dies mit der Um-
setzung europäischer Richtlinien nicht einmal zusammenhängt, ist vor dem
geschilderten Hintergrund inakzeptabel. Auch die von der Innenministerkonfe-
renz vom 4./5. Mai 2006 geforderte Herabsenkung der „Bagatellgrenze“ nach
§ 12a StAG auf 90 Tagessätze (kumulativ) ist abzulehnen. Denn solche gering-

fügigen Verurteilungen rechtfertigen es nicht, ein ansonsten bestehendes Recht
auf Einbürgerung zurückzunehmen, dies wäre eine Art „Doppelbestrafung“. Be-

Drucksache 16/1770 – 8 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
reits das geltende Recht (180 Tagessätze) ist zu streng formuliert, da grundle-
gende politische Teilhaberechte nicht vom individuellen „Wohlverhalten“ der
Menschen abhängig gemacht werden dürfen, wenn an deren grundsätzlichem
Bekenntnis zur Verfassung und zum Rechtsstaat kein Zweifel besteht.

Das Prinzip der Vermeidung von Mehrstaatigkeit stellt ein faktisches Einbürge-
rungshindernis dar: Viele Betroffene wollen aus unterschiedlichen persönlichen
Motiven ihre bisherige Staatsangehörigkeit nicht aufgeben, und nicht alle dieser
Gründe werden von der Ausnahmeregelung des § 12 StAG erfasst. Die Entlas-
sung aus der bisherigen Staatsbürgerschaft ist aber auch nicht selten mit erheb-
lichen Kosten oder einer überlangen Verfahrensdauer verbunden. Schließlich
hat die Neuregelung des § 25 Abs. 1 StAG nach Presseberichten dazu geführt,
dass ca. 50 000 Deutsche nach (Rück-) Erwerb ihrer vorherigen Staatsangehö-
rigkeit ihre deutsche Staatsbürgerschaft verloren haben, darunter alleine etwa
21 500 Menschen türkischer Herkunft (vgl. Bundestagsdrucksache 16/139). Fa-
tale Auswirkungen hat das Prinzip der Vermeidung von Mehrstaatigkeit auch in
den Fällen, in denen Einbürgerungsbehörden die Ausnahmeregelung des § 12
Abs. 1 Nr. 6 StAG zum Anlass nehmen, um beim Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge ein Verfahren zum Widerruf der Flüchtlingsanerkennung anzuregen
(vgl. den 6. Bericht der Bundesbeauftragten für Migration, Flüchtlinge und In-
tegration, Bundestagsdrucksache 15/5826, S. 193).

Bestrebungen, das Staatsbürgerschaftsrecht „komplett auf den Prüfstand“ zu
stellen (CSU-Generalsekretär Markus Söder, Süddeutsche Zeitung vom 7. April
2006), mit der Intention, in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Kin-
dern die „Option“ auf die deutsche Staatsbürgerschaft zu verweigern, wenn sie
sich als „integrationsunwillig“ erweisen sollten, sind ihrerseits integrations-
feindlich und zeugen von einem nach wie vor völkisch fundierten Staatsbürger-
schaftsverständnis. Den hier geborenen und aufgewachsenen Kindern mit Mig-
rationshintergrund wird mit solchen Forderungen vermittelt, dass sie in
Deutschland lediglich „Menschen zweiter Klasse“ und von ihrer Geburt an mit
dem Menetekel behaftet sind, eigentlich nicht bzw. nur auf „Vorbehalt“ dazuzu-
gehören. Der Vorsitzende des Interkulturellen Rats, Jürgen Micksch, erkannte
hinter Vorschlägen zur Ausweisung (angeblich) „nicht-integrierbarer“ Jugendli-
cher die alte „Ausländer raus!“-Parole (ebd, 5. April 2006).

Ein Entzug der deutschen Staatsbürgerschaft aufgrund „integrationsunwilligen
Verhaltens“ ist verfassungs- und menschenrechtlich indiskutabel – ganz abgese-
hen davon, dass sich ein solcher Tatbestand nicht einmal im Ansatz rechtsstaat-
lich definieren ließe. Genauso wäre die Rücknahme des ergänzenden Territori-
alprinzips im Staatsangehörigkeitsrecht, das seit dem 1. Januar 2000 gilt, ein
politisches Signal von unüberschaubarer negativer Wirkung.

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