BT-Drucksache 16/1676

Keine Sozialversicherungsbeiträge auf Phantomlöhne erheben

Vom 31. Mai 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/1676
16. Wahlperiode 31. 05. 2006

Antrag
der Abgeordneten Dr. Heinrich L. Kolb, Birgit Homburger, Christian Ahrendt,
Daniel Bahr (Münster), Uwe Barth, Rainer Brüderle, Angelika Brunkhorst,
Ernst Burgbacher, Patrick Döring, Mechthild Dyckmans, Jörg van Essen, Ulrike
Flach, Otto Fricke, Paul K. Friedhoff, Dr. Edmund Peter Geisen, Miriam Gruß,
Joachim Günther (Plauen), Dr. Christel Happach-Kasan, Heinz-Peter Haustein,
Elke Hoff, Michael Kauch, Hellmut Königshaus, Gudrun Kopp, Heinz Lanfermann,
Sibylle Laurischk, Harald Leibrecht, Ina Lenke, Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger, Michael Link (Heilbronn), Markus Löning, Horst Meierhofer,
Patrick Meinhardt, Jan Mücke, Burkhardt Müller-Sönksen, Dirk Niebel, Hans-
Joachim Otto (Frankfurt), Detlef Parr, Cornelia Pieper, Gisela Piltz, Jörg Rohde,
Frank Schäffler, Dr. Max Stadler, Dr. Rainer Stinner, Florian Toncar, Christoph
Waitz, Dr. Claudia Winterstein, Dr. Volker Wissing, Hartfrid Wolff (Rems-Murr),
Martin Zeil, Dr. Guido Westerwelle und der Fraktion der FDP

Keine Sozialversicherungsbeiträge auf Phantomlöhne erheben

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Höhe der Sozialversicherungsbeiträge wird nicht nur nach den tatsächlich
vom Arbeitgeber an den Arbeitnehmer erbrachten Leistungen (sog. Zuflussprin-
zip) berechnet, sondern es werden auch arbeits- oder tarifvertraglich verbindlich
festgelegte Ansprüche des Arbeitnehmers auf laufendes Entgelt zugrunde gelegt
(sog. Entstehungs- oder Anspruchsprinzip). Dies gilt, obwohl der Arbeitnehmer
diese Entgelte nicht erhalten hat, sie nicht einfordert oder auf sie explizit ver-
zichtet hat. Damit sind Sozialabgaben auch auf nicht gezahlte Löhne zu entrich-
ten (sog. Phantomlöhne).

Die Berechnungsweise nach dem Entstehungsprinzip geht auf die Rechtspre-
chung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 30. August 1994 (BSGE 75, 61) zu-
rück, die in jüngster Zeit ober- und höchstgerichtlich bestätigt wurde (zuletzt
BSG vom 26. Januar 2005, AP Nr. 11 zu § 611 BGB; LSG Berlin-Brandenburg
vom 24. Januar 2006, Az.: L 24 RA 282/04).

Dadurch werden im Wesentlichen kleine und mittlere Unternehmen mit teilweise

existenzbedrohenden Haftungsrisiken belastet, die Arbeitsvertragsparteien der
Flexibilität beraubt und unnötige Bürokratie geschaffen.

Haftungsrisiken für nachzuzahlende Sozialversicherungsbeiträge von bis zu
vier Jahren auf Phantomlöhne entstehen bei Unternehmen beispielsweise aus
einer umstrittenen tariflichen Eingruppierung einer bestimmten Tätigkeit eines
Arbeitnehmers. Zudem kennen in vielen Fällen die betroffenen Selbständigen
oder deren Arbeitnehmer den jeweiligen für allgemeinverbindlich erklärten

Drucksache 16/1676 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Tarifvertrag nicht, da dieser regelmäßig nur den Tarifvertragsparteien ausge-
händigt wird.

Die Erhebung von Sozialversicherungsbeiträgen auf Phantomlöhne verhindert
flexible Lohngestaltungen zwischen den Arbeitsvertragsparteien, da zusätzli-
che Kosten für die Arbeitgeber anfallen und so die Entstehung neuer Arbeits-
plätze behindert wird. In Regionen und Wirtschaftssparten, in denen eine tarif-
liche Entlohnung nicht mehr wirtschaftlich ist, wird durch die Berechnung von
Sozialabgaben auf Phantomlöhne eine nicht zu rechtfertigende Zusatzbelastung
der Unternehmen geschaffen. Insbesondere die Entgeltgrenze bei geringfügiger
Beschäftigung kann damit leicht überschritten und der Arbeitgeber mit hohen
Sozialabgaben belastet werden.

Zudem führt die Unterscheidung zwischen Zuflussprinzip bei der Lohnsteuer
und Sozialabgabenlast für einmalige Ansprüche einerseits (§ 22 Abs. 1 Satz 2
des Vierten Buches Sozialgesetzbuch – SGB IV) und dem Entstehungsprinzip
für Sozialabgaben auf laufende Leistungen andererseits zu unnötigem Bürokra-
tieaufwand in den Unternehmen.

Um diesen Problemen abzuhelfen, sollte gemäß dem Grundgedanken des § 17
Abs. 1 Satz 2 SGB IV die Berechnung des sozialversicherungspflichtigen Ein-
kommens wieder der steuerrechtlichen Ermittlung, also dem Zuflussprinzip,
folgen. Sozialabgaben sind dann nur auf tatsächlich ausgezahlten Lohn zu zahlen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert daher die Bundesregierung auf,

von der Verordnungsermächtigung in § 17 Abs. 1 Nr. 3 SGB IV dahin gehend
Gebrauch zu machen, dass die Höhe des sozialversicherungspflichtigen Ein-
kommens ausschließlich nach den tatsächlich gezahlten Löhnen berechnet wird
(Zuflussprinzip).

Berlin, den 24. Mai 2006

Dr. Heinrich L. Kolb
Birgit Homburger
Christian Ahrendt
Daniel Bahr (Münster)
Uwe Barth
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Dr. Edmund Peter Geisen
Miriam Gruß
Joachim Günther (Plauen)
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Michael Kauch
Hellmut Königshaus
Gudrun Kopp

Harald Leibrecht
Ina Lenke
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Michael Link (Heilbronn)
Markus Löning
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto (Frankfurt)
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Jörg Rohde
Frank Schäffler
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Florian Toncar
Christoph Waitz
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk

Martin Zeil
Dr. Guido Westerwelle und Fraktion

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/1676

Begründung

Mit dem Inkrafttreten des § 14 Abs. 1 SGB IV am 1. Juli 1977 wurde der
Grundsatz der einheitlichen Bemessungsgrundlage für Lohnsteuer und Sozial-
versicherungsbeiträge aufgegeben. So sollte der Einzelne die Möglichkeit be-
kommen, Teile seines Einkommens zwar lohnsteuer- aber nicht sozialabgaben-
frei zu erhalten. Mit der Berücksichtigung eines höheren Einkommens bei der
Sozialversicherung sollte er so die zu erwartenden Leistungen erhöhen können.

Darauf stützen die Sozialgerichte ihre Rechtsprechung, nach der zur Berech-
nung des Sozialversicherungsbeitrags nicht mehr generell das Zuflussprinzip
des § 11 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) herangezogen wird.

Dabei ist jedoch zu beachten, dass der historische Gesetzgeber mit § 14
SGB IV durchaus das Zuflussprinzip bewahren wollte. Aus dem § 17 Abs. 1
Satz 2 SGB IV geht hervor, dass das SGB IV zu Gunsten des Zuflussprinzips
Verordnungen der Bundesregierung ermöglichen sollte. Keineswegs sollte aber
der Grundsatz der Einheitlichkeit der Rechtsordnung so durchbrochen werden,
wie es durch die spätere Aufgabe des Zuflussprinzips durch die Rechtspre-
chung des Bundessozialgerichts (BSG) zu den so genannten Phantomlöhnen
1994 geschehen ist.

Danach sollen im Sozialversicherungsrecht alle Vergütungsansprüche des Arbeit-
nehmers (mit Ausnahme von Einmalzahlungen, § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB IV)
herangezogen werden, unabhängig davon, ob die Arbeitsvertragsparteien da-
von Kenntnis haben bzw. hatten oder anderweitige Individualvereinbarungen
bestehen. Diese Rechtsprechung hat inzwischen auch Niederschlag in der Neu-
formulierung des § 266a des Strafgesetzbuches (StGB) und dessen Anwendung
durch die ordentlichen Gerichte gefunden.

Seit 1999 sind dann die Sozialversicherungsträger zu einer flächendeckenden
Erhebung von Sozialversicherungsbeiträgen auf Phantomlöhne übergegangen.

Diese Auslegungspraxis des BSG führt zur in der Einführung geschilderten
Phantomlohnproblematik. Das Entstehungsprinzip belastet die Unternehmen
und setzt sie erheblichen Haftungsrisiken aus. Außerdem führt es zu zusätz-
licher Bürokratie und verhindert am Arbeitsmarkt dringend erforderliche Flexi-
bilität.

In Zukunft muss sich die Berechnung des für den Gesamtsozialversicherungs-
beitrag relevanten Entgelts daher wieder nach dem Zuflussprinzip richten.

Ein besonderes Risiko liegt hier in Tarifverträgen, die entweder aufgrund bei-
derseitiger Zugehörigkeit zu den Tarifparteien oder aufgrund Allgemeinver-
bindlicherklärung die Parteien eines Arbeitsverhältnisses binden. Weichen die
individuell ausgehandelten Bedingungen von denen des Tarifvertrags ab, so
sind allein letztere – unabhängig von beispielsweise bestehenden tariflichen
Ausschlussfristen – für die Berechnung des Sozialversicherungsbeitrags rele-
vant.

In der Konsequenz haftet in der Regel der Arbeitgeber für den größeren Teil des
Gesamtversicherungsbeitrags allein. Während er nämlich nur für die zurück-
liegenden drei Monate bei dem Arbeitnehmer Regress nehmen kann, steht er
selbst für die Beiträge der letzten vier Jahre, bei Eventualvorsatz sogar der letz-
ten dreißig Jahre, gerade. Dies ist ein erhebliches Haftungsrisiko, das bis hin
zur Existenzbedrohung führen kann.

Die Berechnung von Sozialabgaben auf Phantomlöhne benachteiligt auch
Arbeitnehmer, die einer geringfügigen Beschäftigung nachgehen wollen: Oft-
mals liegt es im Interesse des Arbeitnehmers, sein monatliches Einkommen so
zu beschränken, dass er die Geringfügigkeitsgrenze nicht überschreitet. Nur so

kommt er in den Genuss der Sonderregelungen für geringfügige Beschäftigung.

Drucksache 16/1676 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
Beides kann ihm aber verwehrt werden, wenn seine Tätigkeit einem verbindli-
chen Tarifvertrag unterfällt, der eine höhere Entlohnung vorsieht. Dann werden
nämlich wegen des Entstehungsprinzips generell die Bedingungen des Tarifver-
trags zugrunde gelegt, selbst wenn der Arbeitnehmer auf die Geltendmachung
seiner Ansprüche verzichtet. Das hat oftmals die Folge, dass das geplante Ar-
beitsverhältnis nicht mehr als geringfügig angesehen wird und der volle Sozial-
versicherungsbeitrag anfällt, der für den über drei Monate hinausgehenden
Zeitraum allein vom Arbeitgeber zu tragen ist. An dieser Praxis ist besonders
prekär, dass gerade in Branchen, die in erheblichem Umfang auf geringfügige
Beschäftigungsverhältnisse angewiesen sind, Tarifverträge oft allgemeinver-
bindlich erklärt werden.

Da die Berechnung der Bemessungsgrundlage im Sozialversicherungsrecht eine
Indizwirkung für das Steuerrecht hat, sind auch die steuerlichen Folgen dieser
Prüfungspraxis für die Unternehmen nachteilig. Bei Berücksichtigung des Entste-
hungsprinzips kommen zunehmend Finanzämter wegen der fiktiven Hinzurech-
nung nicht gezahlter, aber rechtlich zu beanspruchender, Vergütungsbestandteile
zu dem Ergebnis, dass mit der Überschreitung der Geringfügigkeitsgrenze auch
die einkommensteuerrechtlichen Befreiungen und Pauschalierungsmöglichkeiten
entfallen. Folge sind dann zusätzliche Steuernacherhebungen.

Mit der Wiedereinführung des Zuflussprinzips im Sozialversicherungsrecht
würde insgesamt ein notwendiger Schritt in Richtung der Flexibilisierung des
Arbeitsmarktes unternommen. Gleichzeitig würde durch die Kongruenz von
Steuer- und Sozialrecht Bürokratie beseitigt. Die erheblichen Haftungsrisiken
für Unternehmen würden reduziert und die Bereitschaft zur Schaffung von Ar-
beitsplätzen gestärkt.

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