BT-Drucksache 16/1669

Diaspora - Potenziale von Migrantinnen und Migranten für die Entwicklung der Herkunftsländer nutzen

Vom 31. Mai 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/1669
16. Wahlperiode 31. 05. 2006

Antrag
der Abgeordneten Thilo Hoppe, Ute Koczy, Hans-Christian Ströbele und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Diaspora – Potenziale von Migrantinnen und Migranten für die Entwicklung
der Herkunftsländer nutzen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Über Jahrzehnte wurde die Abwanderung von Arbeitskräften – besonders von
Hochqualifizierten – aus Entwicklungsländern als Verlust von knappen Res-
sourcen und besten Köpfen (Brain Drain) gesehen. Brain Drain ist auch weiter-
hin ein erhebliches Problem. Ein besorgniserregendes Beispiel ist die Abwan-
derung von ausgebildetem medizinischem Personal aus Afrika, hauptsächlich
nach Großbritannien, Kanada und in die USA.

Gleichwohl rücken in jüngerer Zeit immer mehr konkrete Beispiele in den Vor-
dergrund, die belegen, dass zahlreiche Länder auf vielfältige Weise von der
Diaspora, d. h. den positiven Rückwirkungen der Migranten auf ihre Herkunfts-
länder, profitieren. Wenn Migranten durch Rücküberweisungen, die An-
bahnung von Geschäftsbeziehungen, Investitionen und Know-how-Transfer zur
wirtschaftlichen Entwicklung ihrer Herkunftsländer beitragen, werden Verluste
durch abwandernde Arbeitskräfte schnell um ein Vielfaches kompensiert. Posi-
tive Effekte können sich dabei sowohl für das Zuwanderungsland als auch für
das Herkunftsland ergeben. So hat die Weltbank in ihrem Bericht von 2006
„Global Economic Prospects, Economic Implications of Remittances and Mi-
gration (GEP 2006)“ auf die wachsende Bedeutung der Migration und der
Rücküberweisungen von Migranten für die Bekämpfung der Armut hingewie-
sen. Migration und Überweisungen an die Herkunftsländer sind dabei kein Er-
satz für die wirtschaftliche Entwicklung in den Ländern. Sie sind aber mehr und
mehr eine wichtige Ergänzung für die ökonomische Entwicklung.

Zudem hat die politische Rolle von Diaspora-Gemeinschaften sowohl in den
Einwanderungsländern als auch in ihren Herkunftsländern in den letzten Jahren
stark zugenommen. Unterschätzt werden das Potenzial der kulturellen Verstän-
digung und die Brückenfunktion, die Migranten in der Gesellschaft einnehmen
können. Migranten sind in wachsendem Umfang Teil einer jeden Gesellschaft
und werden es bleiben.
Etwa 200 Millionen Menschen leben zurzeit als Migranten in der Diaspora.
Dabei ist Migration ein globales Phänomen. Sowohl Industrie- als auch Ent-
wicklungsländer „schicken und erhalten“ Migranten. Seit 1975 ist die Zahl um
ein Drittel auf fast 3 Prozent der Weltbevölkerung gewachsen. Diese Zahl wird
infolge demographischer Entwicklungen, globalen Wirtschaftsaustauschs und
vereinfachter Transportmöglichkeiten zukünftig weiter zunehmen. Im Jahr
2050 werden nach Schätzungen der Internationalen Organisation für Migration

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230 Millionen Menschen nicht in ihrem Heimatland leben. Parallel wird die
Zahl der Menschen, die zeitweise in anderen Ländern leben und arbeiten, zu-
nehmen.

Es ist erkennbar, dass die Weiterentwicklung von Regeln, Normen und Institu-
tionen zur Steuerung der Migration eine zentrale Herausforderung des nächsten
Jahrzehnts sein wird. Die Vereinten Nationen haben 2004 eine Globale Migra-
tionskommission (Global Commission on International Migration) eingesetzt.
Der im Oktober des letzten Jahres vorgelegte Bericht unternimmt den Versuch
einer umfassenden, kohärenten und globalen Antwort auf die Fragen und Pro-
bleme der internationalen Migration. Auch auf europäischer Ebene wird im
Lichte demographischer Veränderungen die Frage einer geregelten Migration
an Bedeutung gewinnen. Die Weltbank spricht sich in ihrem oben genannten
Bericht für gesteuerte Migrationsprogramme der Industrieländer aus. Diese
sollten unter anderem auch die Vergabe kurzfristiger Arbeitsvisa für weniger
qualifizierte Migranten beinhalten.

Die Bedeutung der Diaspora für die wirtschaftliche Entwicklung vieler Länder
ist auch auf der Ebene der G8-Staaten erkannt worden. Diese empfehlen, finan-
zielle Transaktionen zwischen Ursprungs- und Empfängerländern zu erleich-
tern und formelle Finanzsysteme international zu stärken. Die internationalen
Finanz- und Entwicklungsorganisationen werden aufgefordert, ihre Arbeit zur
Verbesserung von Überweisungsdienstleistungen zu koordinieren. Insbeson-
dere sollen die Kosten für Rücküberweisungen (remittances) gesenkt werden.
Diese betragen derzeit bis zu 10 oder 15 Prozent – bei geringfügigen Beträgen
sind in Einzelfällen sogar Kosten bis zu 30 Prozent der Überweisungssumme
fällig. Gelänge global eine Verringerung auf in Industrieländern übliche Kosten
für Überweisungen, würde dies einen zusätzlichen Milliardenbetrag für die
wirtschaftliche Entwicklung generieren. Initiativen der britischen Entwick-
lungsbehörde (DFID) und der von der Weltbank geleiteten „Inter-Agency Re-
mittance Task Force“ gehen bereits in dieser Richtung.

Offiziell machten Überweisungen weltweit aus den Diasporen in ihre Her-
kunftsländer laut Weltbankangaben 2005 ca. 232 Mrd. US-Dollar pro Jahr aus,
wovon Entwicklungsländer 167 Mrd. US-Dollar erhalten. Die Rücküber-
weisungssumme übersteigt damit die globalen öffentlichen Mittel der Entwick-
lungszusammenarbeit (ODA) um mehr als das Doppelte. Damit sind Rücküber-
weisungen nach den Direktinvestitionen die zweitgrößte Quelle externer
Finanzierung für Entwicklungsländer; für die meisten Entwicklungsländer sind
sie sogar die wichtigste Quelle externer Zuflüsse. „Süd-Süd“-Finanzströme
machen dabei immerhin 30 bis 40 Prozent aus.

Und trotz dieser beeindruckenden Zahlen gehen unterschiedliche Organisatio-
nen (darunter die ILO und der IWF) davon aus, dass die Summe der tatsächli-
chen Überweisungen noch um 50 bis 250 Prozent höher liegt als die der statis-
tisch erfassten. Diese Unterschätzung liegt daran, dass es kein System zur
einheitlichen Erfassung oder Zuordnung der Überweisung gibt. Auch haben
viele Migranten sowohl in Ursprungs- als auch Empfängerländern keinen Zu-
gang zum formellen Bankensystem und greifen daher auf persönlichen und in-
formellen Geldtransfer zurück, der jedoch mit hohen Unsicherheiten behaftet
ist.

Während ausländische Direktinvestitionen in Entwicklungsländern starken
Schwankungen unterworfen sind, wachsen die Rücktransfers aus den Diaspora-
Gemeinden schnell an. Bei den Rücküberweisungen liegen die USA und Saudi-
Arabien an vorderster Stelle. Mit ca. 8 Mrd. US-Dollar folgen Deutschland, die
Schweiz und Belgien. Mit diesem Geld werden nicht nur Überlebenshilfen in-
nerhalb von Familienverbänden geleistet, sondern auch vielfältige entwick-

lungsorientierte Initiativen unterstützt. Die unverhältnismäßig hohen Transak-

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tionskosten der Banken entziehen dabei enorme Summen, die anderweitig für
Investitionen und Konsum in den Herkunftsländern zur Verfügung stünden.

Um Kapitalrückflüsse wirtschaftlich und für Entwicklungszwecke zu nutzen,
hat eine ganze Reihe von Entwicklungsländern Anreize sowie spezielle Instru-
mente und Institutionen geschaffen. Zu jedem US-Dollar, den Migranten in die
soziale Infrastruktur der Heimatgemeinden investieren, gibt die mexikanische
Regierung 2 US-Dollar zusätzlich. Der Bundesstaat Zacatecas und die Inter-
amerikanische Entwicklungsbank stellen Infrastruktur und Kredite für Migran-
ten zur Verfügung, die neue Arbeitsplätze z. B. in der Verarbeitung von Agrar-
produkten schaffen.

Auch die G8-Staaten haben sich verpflichtet, in ihren Ländern Initiativen zu er-
greifen, die zu einer deutlichen Reduzierung der Überweisungskosten führen
sollen. Über die Kostensenkung hinaus steckt in der Steuerung von Über-
weisungen ein enormes Entwicklungspotenzial. Ziel sollte es sein, vermehrt
Empfängern von Rücküberweisungen, die bisher ohne Zugang zu Finanzdienst-
leistungen waren, den Zugang zu Girokonten, Krediten und Sparbüchern zu
ermöglichen. Eine Integration bislang nicht bankfähiger Kunden kann somit zu
einer Stärkung und Stabilisierung des formellen Finanzsystems führen. Die
Rahmenbedingungen für Entwicklung würden so erheblich verbessert.

Häufig zeigt sich, dass Investitionsprojekte von Migranten aufgrund der Kennt-
nisse des Herkunftslandes auf solideren Beinen stehen als die von ausländi-
schen Investoren. Sind die Investitionen darüber hinaus mit der Remigration
oder „Zirkulation“ verbunden, so kann das im Ausland erworbene Know-how
zusammen mit dem eingesetzten Kapital und der Landeskenntnis Synergien
entfalten. Aufgrund der neuen Kommunikationsmittel ist Know-how-Transfer
nicht mehr nur an die dauerhafte Rückkehr von Fachkräften in ihre Herkunfts-
länder gebunden. Bedeutsamer ist die Mobilität in beide Richtungen bzw. die
globale Mobilität. Auch für Deutschland wäre eine größere Flexibilität hilf-
reich. Migranten würden mehr für ihre Herkunftsländer tun, wenn sie nicht
schon nach einer über sechsmonatigen Abwesenheit ihr Aufenthaltsrecht ver-
lieren würden. Die entwicklungspolitische Förderung der Rückkehr von Fach-
kräften aus Entwicklungsländern muss im Sinne einer umfassenderen entwick-
lungspolitischen Zusammenarbeit mit Diasporagemeinden ausgeweitet werden.

So hat z. B. Thailand ein Thai Diaspora Institute eingerichtet, das weltweit den
Austausch mit Migranten fördert. In einem „Brain Mobility“-Projekt wird über
das Internet der Kontakt mit hoch qualifizierten Emigranten gehalten und die
Mitarbeit in nationalen Projekten stimuliert. Dadurch wird das Know-how aus
der Ferne genutzt und durch die Vernetzung mit lokalen und nationalen Projek-
ten eine Tür für die Remigration offen gehalten.

Heute ist der Informationsaustausch zwischen Diaspora und Herkunftsland oft
kontinuierlicher und intensiver als zwischen Stadt und Land in vielen Entwick-
lungsländern. Da diese Möglichkeiten sich gerade erst entfalten, sind ihre
sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen bzw. entwicklungspolitischen Auswir-
kungen erst ansatzweise zu erkennen. Deutlich erkennbar ist schon die wach-
sende Rolle von Diaspora-Gemeinschaften in Konflikten ihrer Herkunftsländer.
Bisher wurden vorwiegend konfliktverschärfende Aktivitäten (z. B. Finanzie-
rung von Bürgerkriegen) wahrgenommen. Es gibt aber ebenso mäßigende und
friedensstiftende Beiträge von Diasporagemeinschaften wie in jüngerer Zeit
beim Tamilen-Konflikt in Sri Lanka.

Die Entwicklungspotenziale der Diaspora-Gemeinden in Deutschland, Europa
und weltweit sind bisher im Hinblick auf die Entwicklung ihrer Herkunftslän-
der und für den wirtschaftlichen Austausch zwischen Aufnahme- und Her-
kunftsländern nicht ausreichend erkannt worden. Dies sollte sich im Interesse

der Menschen in den Herkunfts- und Zielländern schnell ändern. Durch 2 von

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der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) vor kurzem
veranstaltete internationale Konferenzen und eine Anhörung im Deutschen
Bundestag (2004) wurden die Potenziale der Diasporagemeinden für die Ent-
wicklungszusammenarbeit unterstrichen.

Nach den verheerenden Terroranschlägen in New York und Washington am
11. September 2001 hat sich die Migrationsdiskussion stark emotionalisiert.
Die vormalige Bundesregierung hat mit dem verabschiedeten Zuwanderungs-
gesetz und dem Bericht des Rates für Zuwanderung und Migration im Oktober
2004 und den darin enthaltenen Empfehlungen zur Versachlichung der Diskus-
sion beigetragen und die Einwanderung auf eine neue gesetzliche Grundlage
gestellt. Gleichwohl sind weitere Flexibilisierungen des Ausländerrechts not-
wendig, um entwicklungspolitisch sinnvolles Engagement aus den Diaspora-
Gemeinden heraus stärker zu fördern.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. für die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit ein Konzept zu entwickeln,
wie in den Entwicklungsländern eine stärkere Vernetzung von entwick-
lungspolitischen Maßnahmen mit unternehmerischen Tätigkeiten und ge-
meinnützigen Aktivitäten der Diaspora-Gemeinden erreicht werden kann;

2. sich für eine kohärente Zusammenarbeit von Entwicklungs- und Finanzin-
stitutionen einzusetzen, die an der Verbesserung von Finanzdienstleistun-
gen für Migranten arbeiten;

3. sich für einen verbesserten Zugang zum formellen Finanzsystem in
Ursprungs- und Empfängerländern einzusetzen;

4. Diaspora-Banken dabei zu unterstützen, notwendige Standards insbeson-
dere der Transparenz einzuhalten, um Steuerflucht und Geldwäsche zu
vermeiden;

5. Vorschläge zur Verbesserung von Geldüberweisungen in die Herkunfts-
länder zu erarbeiten und sich international dafür einzusetzen, dass es im
Sinne von Transparenz und Effizienz zur Senkung von Überweisungs-
kosten kommt;

6. wirtschaftliches Handeln aus Diaspora-Gemeinden in Deutschland dadurch
zu fördern, dass ohne bürokratischen Aufwand bei einer vorübergehenden,
entwicklungspolitisch sinnvollen Tätigkeit im Herkunftsland bzw. in der - re-
gion eine größtmögliche aufenthaltsrechtliche Flexibilität geschaffen wird;

7. gezielte Fördermaßnahmen von Diaspora-Unternehmen wie eine spezielle
Wirtschaftsmesse oder die Einrichtung entsprechender Segmente bei beste-
henden Messen zu prüfen;

8. über die Organisationen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit Exis-
tenzgründungen und Auslandsinvestitionen von Diaspora-Unternehmen
gezielt zu fördern, sofern sie entwicklungspolitisch zielführend sind;

9. wissenschaftliche Kooperation und wissenschaftliche Netzwerke zu stär-
ken, die den Know-how-Transfer in Entwicklungsländern fördern;

10. die Kooperation mit Institutionen der Diaspora-Politik in den Entwick-
lungsländern weiter auszubauen;

11. Diaspora-Organisationen stärker in die Integrationsförderung einzubezie-
hen;

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12. im Rahmen der Integrationspolitik von Migranten in Deutschland die
Brückenfunktion der Diaspora mit dem Herkunftsland zu stärken und eine
Einflussnahme auf dessen Politik und Gesellschaft in einem entwicklungs-
fördernden und friedensstiftenden Sinne zu unterstützen; hier ist insbeson-
dere die besondere Rolle der Frauen zu berücksichtigen;

13. über die entwicklungspolitische Inlandsarbeit auch Fortbildungen für Dias-
pora-Mitglieder anzubieten;

14. bei den Beratungen der Vereinten Nationen im Herbst dieses Jahres die
Forderungen der Global Commission on International Migration zu unter-
stützen;

15. sich auf europäischer Ebene für eine Koordination der Diaspora-Politik
einzusetzen;

16. frauenpolitische Ansätze entsprechend der Handlungsmaxime der Bundes-
regierung in den oben genannten Bereichen besonders zu fördern;

17. die Migrationsforschung zu stärken und dafür Sorge zu tragen, dass deren
Erkenntnisse für die Entwicklungspolitik fruchtbar gemacht werden.

Berlin, den 31. Mai 2006

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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