BT-Drucksache 16/1413

zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zur Europapolitik

Vom 9. Mai 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/1413
16. Wahlperiode 09. 05. 2006

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Dr. Diether Dehm, Alexander Ulrich, Dr. Hakki Keskin,
Monika Knoche, Heike Hänsel, Hüseyin-Kenan Aydin, Wolfgang Gehrcke,
Dr. Norman Paech, Paul Schäfer (Köln), und der Fraktion DIE LINKE.

zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin

zur Europapolitik

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Europapolitik der gegenwärtigen Bundesregierung wird den aktuellen Auf-
gaben nicht gerecht: Unmittelbar vor dem Gipfeltreffen der Staats- und Regie-
rungschefs der EU mit denen Lateinamerikas und der Karibik in Wien ist die
Bundesregierung gegenüber dem demokratischen Aufbruch in Lateinamerika
sprachlos. Problemen der Energiesicherheit will sie durch eine „neue Ostpoli-
tik“, eine „Offensive in Richtung Kaukasus“, und durch die Einbeziehung der
Energieversorgung in eine „vernetzte Sicherheitspolitik“ begegnen. Gegenüber
der inneren Krise der EU, dem Scheitern des Verfassungsvertrags, kündigt die
Bundesregierung eine „Initiative“, einen „operativen Plan zur Ratifizierung“
an; mehr als den neuen Namen „Grundlagenvertrag für Europa“ und die Idee
eines rechtlich unverbindlichen „Sozialprotokolls“ hat sie aber nicht zu bieten.
Zugleich unterstützt die Bundesregierung weiter die Politik des sozialen und
ökologischen Dumping durch eine Dienstleistungsrichtlinie, für die die Kom-
mission einen geänderten Vorschlag vorgelegt hat, eine erneute Verschlechte-
rung gegenüber dem selbst schon fragwürdigen „Kompromiss“ des Euro-
päischen Parlaments.

1. Stärker noch als andere Regionen war Lateinamerika vollkommen be-
herrscht von der Deregulierung der Märkte, von Privatisierungen und neo-
liberaler Wirtschaftspolitik, war Objekt imperialer Ausbeutung. Wirtschaft-
licher Niedergang und Verschuldung waren die Folge. In den vergangenen
Jahren haben immer mehr lateinamerikanische Länder einen anderen, einen
eigenständigeren und sozialeren Entwicklungspfad eingeschlagen. Daran ist
die von den USA auf den Weg gebrachte gesamtamerikanische Freihandels-
zone ALCA gescheitert. Ins Stocken geraten sind auch die Bemühungen der
EU, unter dem Schlagwort einer „verstärkten Partnerschaft“, aber einseitig
zum Vorteil der europäischen Großunternehmen, ein Freihandelsabkommen

mit dem „Gemeinsamen Markt des Südens“ Mercosur abzuschließen. Noch
im Vorfeld des Wiener Gipfels wurde von der Europäischen Kommission am
18. Dezember 2005 und dem Europäischen Parlament am 27. April 2006
vehement der unmittelbare Abschluss auf dem Gipfel in Wien eingefordert.
Da es dennoch kaum dazu kommen wird, hat die Bundesregierung offenbar
entschieden, sich dazu in Schweigen zu hüllen. Stattdessen meint der

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Bundesminister des Auswärtigen, sich in Chile kritisch zur Regierung von
Bolivien äußern zu müssen, weil sie die Verfügung über die Erdöl- und Erd-
gasvorkommen auf dem Territorium des Landes in die eigene Verantwor-
tung übernommen hat.

2. Von Teilen der Regierungskoalition wird erneut die Nutzung der Atomener-
gie propagiert. Auch wird nach dem Erscheinen des Grünbuchs „Eine euro-
päische Strategie für eine nachhaltige, wettbewerbsfähige und sichere Ener-
gie“ eine „Energieaußenpolitik“ zur Diskussion gestellt, die das „Thema
Energieversorgung“ ins Blickfeld „vernetzter Sicherheitspolitik“ nimmt, wie
es der Bundesminister der Verteidigung in einem Zeitungsinterview formu-
lierte, in dem er ausdrücklich militärische Einsätze zur Sicherung von Ener-
gielieferungen bejahte. Eine solche Neudefinition von „Verteidigung“ dient
nicht nur zur ideologischen Rechtfertigung des Militäreinsatzes in Afghanis-
tan; es ist auch der Hintergrund, vor dem die Rede von einer Ostpolitik „bis
hin zum Kaukasus“ einen bedrohlichen Akzent bekommt.

3. Der Verfassungsvertrag vom 29. Oktober 2004 ist gescheitert: In den Refe-
renden der Republik Frankreich und des Königreichs der Niederlande ist der
vorliegende Verfassungsvertrag von einer Mehrheit der Bevölkerung abge-
lehnt worden. Auch das Ratifizierungsverfahren durch die Bundesrepublik
Deutschland ist aufgrund einer anhängigen Verfassungsbeschwerde und
Organklage nicht abgeschlossen worden. Andere Länder haben das Ratifi-
zierungsverfahren ausgesetzt. Eine bloße Fortsetzung des Ratifizierungsver-
fahrens, eine erneute Vorlage des unveränderten Textes bzw. dessen einfache
Ergänzung durch rechtlich nicht bindende Erklärungen verbietet sich daher
ebenso wie der Versuch, wesentliche Inhalte des Verfassungsvertrags ohne
öffentliche Diskussion in die geltenden Verträge zu übernehmen.

4. Die europaweiten Proteste gegen die geplante EU-Dienstleistungsrichtlinie
haben teilweise Erfolge gezeitigt und punktuelle Entschärfungen des ur-
sprünglichen Entwurfs der EU-Kommission bewirkt. In der Neufassung des
Kommissionsvorschlags sind aber, ohne im Einzelnen darauf hinzuweisen,
wieder erhebliche Verschlechterungen vorgenommen worden. Im Hinblick
auf die Unterschiede besteht dringender Aufklärungsbedarf.

Insgesamt zielt die Dienstleistungsrichtlinie in der Fassung des Europäischen
Parlaments und mehr noch im neuen Kommissionsvorschlag unverändert
auf eine umfassende Liberalisierung des Dienstleistungssektors, werden
weiterhin zentrale Kritikpunkte von Gewerkschaften, Verbänden und Parla-
menten der Mitgliedstaaten missachtet. Noch immer sind wirtschaftliche
Dienste von allgemeinem Interesse sowie die öffentliche Daseinsvorsorge
nicht grundsätzlich von der Richtlinie ausgeschlossen, noch immer werden
sozial- und beschäftigungspolitische Auflagen der Mitgliedstaaten an Dienst-
leistungserbringer erschwert oder verunmöglicht. Noch immer fördert der
vorliegende Entwurf Lohn- und Sozialdumping sowie Scheinselbständigkeit
im europäischen Binnenmarkt. Die Dienstleistungsrichtlinie gefährdet auch
nach ihrer Überarbeitung in eklatanter Weise das europäische Sozialmodell.

II. Die Bundesregierung wird aufgefordert,

1. auf eine grundlegende Änderung der Lateinamerikapolitik der Europäischen
Union hinzuwirken. Eine solche Politik muss auch im Hinblick auf eigen-
ständige Entwicklungen von jeglichen Bevormundungsversuchen Abstand
nehmen. Sie muss von uneingeschränktem Respekt vor der Souveränität und
Gleichrangigkeit der lateinamerikanischen Staaten getragen sein. Das gilt
für die souveräne Organisation der Daseinsvorsorge ebenso wie für die Ver-
fügung über die natürlichen Reichtümer der Länder. Maßnahmen wie Natio-

nalisierung von Erdöl und Erdgas durch die Regierung von Bolivien sind

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/1413

ausdrücklich zu respektieren. Die Bemühungen um den Abschluss eines
Freihandelsvertrags der EU mit dem Mercosur sind aufzugeben und durch
einen Vorschlag eines gleichberechtigten Abkommens über Handel und Zu-
sammenarbeit zu ersetzen;

2. dafür Sorge zu tragen, dass sich die Außenpolitik Deutschlands wie auch die
der Europäischen Union wieder uneingeschränkt am Völkerrecht orientiert
und Kriege und Militäreinsätze oder die Drohung damit nicht länger als
Mittel der Politik einsetzt. Energiesicherheit darf und kann nicht mit mili-
tärischen Mitteln erreicht werden. Der Krieg gegen den Irak zeigt das mit
erschreckender Deutlichkeit. – Einen Weg zurück zur Atomenergie darf es
nicht geben;

3. bei den Verhandlungen im Europäischen Rat sowie während der deutschen
Präsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 dafür zu sorgen, dass das ableh-
nende Votum der Wählerinnen und Wähler in Frankreich und den Niederlan-
den respektiert und nicht versucht wird, den vorliegenden Verfassungsver-
trag mit Verfahrenstricks oder durch die Hintertür doch noch durchzusetzen.
Die Bundesregierung wird aufgefordert, für eine grundlegende Überarbei-
tung des Verfassungsvertrags einzutreten. Ziel muss es sein, einen Verfas-
sungsvertrag zu schaffen, der die Grundintention eines sozialen, friedferti-
gen und demokratischen Europas im Geiste seiner Gründerinnen und
Gründer und im Einklang mit dem Willen der Bevölkerungsmehrheit in den
EU-Mitgliedstaaten widerspiegelt. Das kann nicht durch die bloße Heraus-
nahme der konkreten Vorschriften des Teils III des Vertrags geschehen, die
zum großen Teil schon Gegenstand der geltenden Verträge sind. Erforderlich
ist vielmehr eine inhaltliche Korrektur an dem Weg, der mit dem Vertrag von
Maastricht eingeschlagen wurde.

Ein europäischer Verfassungsvertrag muss sich auf die breite Zustimmung
der Bürgerinnen und Bürger in allen EU-Mitgliedstaaten stützen. Dies kann
nur erreicht werden, wenn ein verständlicher, klar gegliederter Text vorge-
legt wird, der den Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger Rechnung trägt.
Daher wird die Bundesregierung aufgefordert, Initiativen zu ergreifen, die
auch in Deutschland einen Volksentscheid über einen neuen Verfassungsver-
trag ermöglichen;

4. bei den Verhandlungen im Europäischen Rat den in Bundestag und Bundesrat
sowie von zahlreichen gesellschaftlichen Institutionen und Verbänden geltend
gemachten Einwänden und Besorgnissen Rechnung zu tragen und die Dienst-
leistungsrichtlinie abzulehnen. Die Bundesregierung soll sich stattdessen für
eine EU-weite Harmonisierung der Vorschriften über Dienstleistungen auf
hohem Niveau einsetzen. Dies betrifft die Qualität der Dienstleistungen,
Umwelt- und Verbraucherschutz und eine wirksame Wirtschaftsaufsicht
ebenso wie eine flankierende soziale Regulierung der Dienstleistungen. Gegen
bereits bestehende Missstände bei der Arbeitnehmerentsendung ist vorzuge-
hen – etwa durch die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns in Deutsch-
land, durch die Verschärfung des Arbeitnehmerentsendegesetzes sowie neue
Regelungen zur Bekämpfung von Scheinselbständigkeit.

Berlin, den 9. Mai 2006

Dr. Diether Dehm
Alexander Ulrich
Dr. Hakki Keskin
Monika Knoche
Heike Hänsel

Hüseyin-Kenan Aydin
Wolfgang Gehrcke
Dr. Norman Paech
Paul Schäfer (Köln)
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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