BT-Drucksache 16/1384

Position der Bundesregierung in den Verhandlungen über die Modalitäten zu den NAMA-Vereinbarungen von Hongkong

Vom 4. Mai 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/1384
16. Wahlperiode 04. 05. 2006

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Lötzer, Heike Hänsel, Hüseyin-Kenan Aydin,
Dr. Barbara Höll, Monika Knoche und der Fraktion DIE LINKE.

Position der Bundesregierung in den Verhandlungen über die Modalitäten
zu den NAMA-Vereinbarungen von Hongkong

Der Handel mit Industriegütern macht mehr als 75 Prozent des gesamten Welt-
handels aus. Seit den 1990er Jahren wird die weltweite Produktion vermehrt
durch große Produktionsnetzwerke organisiert, die in mehreren Ländern operie-
ren, entweder durch direkte Tochterunternehmen oder Vertragspartner. Diese
Netzwerke und globalen Wertschöpfungsketten werden von den transnationalen
Konzernen mit Hauptsitz in den USA, Europa und Japan dominiert.

Eine wichtige Einnahmequelle für Entwicklungsländer und Hauptinstrument
ihrer Industriepolitik ist das Erheben von Einfuhrzöllen. Die Ergebnisse der
NAMA-Verhandlungen (Non-agricultural market access – NAMA) werden des-
halb gravierende Auswirkungen auf die Einnahmen der Entwicklungsländer ha-
ben. Ihr industriepolitischer Gestaltungsspielraum wird durch die angestrebte
Zollsenkung stark eingeschränkt.

Auf der 6. WTO-Ministerkonferenz in Hongkong wurde zum ersten Mal die so
genannte Schweizer Formel als Grundlage der angestrebten Zollsenkungen für
Industriegüter und Rohstoffe festgelegt. Dies bedeutet, dass höhere Zölle stär-
ker gesenkt werden müssen als niedrige. Das wiederum würde dazu führen, dass
Entwicklungsländer, die in der Regel höhere Zölle haben als Industrieländer,
stärker von den Auswirkungen betroffen wären. Die Erklärung von Hongkong
sieht „Koeffizienten“ für die anzuwendende Formel vor, die jedoch nicht näher
definiert wurden.

Darüber hinaus ist vorgesehen, eine Bindung von Zollsätzen mit ihrer gleichzei-
tigen Senkung zu verknüpfen. Eine Bindung von Zöllen bedeutet, dass sich das
jeweilige Land auf verbindliche Obergrenzen für seine Zölle festlegt. Die Zoll-
bindung reduziert die politische Flexibilität eines Landes, da es als Reaktion auf
eine Importschwemme oder zum Schutz junger Industrien seine Zölle nicht über
die gebundene Obergrenze hinaus erhöhen kann. Das Binden von Zöllen wird
deshalb im Kontext internationaler Handelsvereinbarungen als beträchtliche
Verpflichtung gewertet, da damit für das jeweilige Land ein Verlust an Souverä-
nität über seine Handelspolitik einhergeht (siehe Artikel XXVIII bis 2(a) des

GATT).

Ebenfalls im Blickpunkt steht der Abbau von so genannten nichttarifären Han-
delshemmnissen. Dies sind Maßnahmen zu Einfuhrregelungen, die keine Zölle
sind. Hierunter fallen Subventionen, aber auch Zertifizierungssysteme, Gütesie-
gel, Ausfuhr- und Einfuhrverbote, soziale, ökologische und Gesundheitsstan-
dards. Mit dem Abbau stehen daher wesentliche Möglichkeiten zur nachhaltigen
Gestaltung des Handels zur Disposition.

Drucksache 16/1384 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass das Erheben von hohen und
variablen Schutzzöllen ein wichtiges Instrument der Industriepolitik fast al-
ler erfolgreichen Industrieländer gewesen ist, und wie begründet sie ihre
Haltung?

2. Welche Gründe könnten nach Meinung der Bundesregierung dafür spre-
chen, den Entwicklungsländern eine solche Möglichkeit zu verwehren?

3. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass Wirtschaftszweige in den
Entwicklungsländern, die sich gerade im Aufbau befinden (infant indus-
tries), ohne Schutzzölle mit den hochproduktiven Unternehmen der Industrie-
länder und ihren Importen meist nicht konkurrieren können, und wie begrün-
det sie ihre Haltung?

4. Sieht die Bundesregierung vor diesem Hintergrund andere Entwicklungs-
perspektiven für weniger produktive Wirtschaftszweige in Entwicklungs-
ländern außer der zeitlich befristeten Ausbildung von Zulieferersektoren für
Unternehmen aus den Industrieländern auf der Grundlage von Niedrigstlöh-
nen und prekären Arbeitsverhältnissen, und wenn ja, welche?

5. Welchen Beitrag könnte nach Meinung der Bundesregierung die Ausbil-
dung stabiler binnenwirtschaftlicher Produktions- und Vertriebskreisläufe
in den Ländern des Südens für die Armutsbekämpfung leisten?

6. Welche Haltung nimmt die Bundesregierung gegenüber dem Einwand ein,
dass der verbilligte Zugang zu importierten Waren nach dem Abbau von
Schutzzöllen in den Entwicklungsländern einhergeht mit der Verdrängung
einheimischer Produzenten von ihren Märkten und dass dadurch sowohl die
Existenz vieler kleiner traditioneller Gewerbetreibender gefährdet als auch
der Aufbau von Beschäftigungsalternativen im industriellen Sektor verhin-
dert wird?

7. Wie beurteilt die Bundesregierung vor diesem Hintergrund die Kohärenz
zwischen den Entwicklungszielen der Millenniumskonferenz, insbesondere
des Ziels der Armutsbekämpfung, und der Verhandlungsführung der EU in
den NAMA-Verhandlungen?

8. Mit welchen konkreten Positionen geht die Europäische Union in die Ver-
handlungen um die Modalitäten der Zollsenkungsformel und der zugrunde
zu legenden Koeffizienten, und welche konkreten Forderungen stellt die
Bundesregierung hierzu?

9. Wie beurteilt die Bundesregierung die Tatsache, dass die Schweizer Formel
die Entwicklungsländer zu höheren Zollsenkungen verpflichten würde als
die Industrieländer, obwohl im Doha-Mandat festgelegt wurde, dass die
Entwicklungsländer „weniger als völlig reziproke“ Verpflichtungen zu Zöl-
len übernehmen müssten?

10. Welche Position bezieht die Bundesregierung dazu, dass eine gleichzeitige
Bindung und Senkung von Zollsätzen eine doppelte Last für die Entwick-
lungsländer bedeuten würde, von der die Industrieländer, von denen fast alle
bereits eine 100-prozentige Bindung haben, verschont blieben?

11. Welche möglichen Auswirkungen einer Zollsenkungsvereinbarung auf die
Haushalte solcher Länder, deren Zollaufkommen bislang ein Drittel bis die
Hälfte der gesamten Steuereinnahmen ausmachen, und auf deren politische
und administrative Handlungsfähigkeit sieht die Bundesregierung, und wel-
che Maßnahmen könnten nach Meinung der Bundesregierung dazu geeignet
sein, diese Ausfälle zu kompensieren?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/1384

12. Welche Alternativvorschläge wird die Bundesregierung einbringen, um –
wie es die Doha-Erklärung verlangt – die „Bedürfnisse und Interessen der
Entwicklungsländer ins Zentrum zu stellen“, nachdem die von der EU und
anderen durchgeführten NAMA-Simulationen vom März dieses Jahres ge-
zeigt haben, dass die so genannten Paragraph-8-Flexibilitäten einen ver-
schwindend geringen Effekt auf die endgültigen durchschnittlichen Zölle
der Entwicklungsländer haben würden?

13. Wird die Bundesregierung sich vor diesem Hintergrund gegen die EU-For-
derung nach einem Trade-off zwischen Paragraph-8-Flexibilitäten und
einem höheren Koeffizienten für Entwicklungsländer in der Schweizer
Formel stellen, und wie begründet sie ihre Haltung?

14. Welche Folgeabschätzungen bezüglich der Auswirkungen der diskutierten
Koeffizienten auf die Arbeitsplatzsituation, die wirtschaftliche Entwicklung
und die Wohlfahrtsentwicklung in Deutschland und der Europäischen Uni-
on wurden durch die Bundesregierung und die Europäische Union im Hin-
blick auf die Verhandlungen veranlasst?

15. Welche Ergebnisse aus solchen Abschätzungen liegen der Bundesregierung
vor, und welche Schlussfolgerungen zieht sie daraus?

16. Sollte es solche Folgeabschätzungen nicht geben, auf welcher Basis werden
dann mögliche Verhandlungspositionen zu Koeffizienten auf Seiten der
Bundesrepublik Deutschland und der EU ermittelt?

17. Gibt es vergleichbare Folgeabschätzungen für die Entwicklungsländer, und
inwieweit werden Ergebnisse aus solchen Abschätzungen in der Verhand-
lungsführung der Bundesregierung und der Europäischen Union eine Rolle
spielen?

18. Auf welche Länder zielt die Bundesregierung mit ihrer Forcierung der
Marktöffnung für Nicht-Agrargüter vor allem?

19. Welche Position hat die Bundesregierung zu den Sektorverhandlungen, und
welche sind in diesem Rahmen nach Ansicht der Bundesregierung die für
die deutsche Industrie bedeutsamen Sektoren bei den Industriegütern?

20. Ist ein Industrieverband mit konkreten Interessen an die Bundesregierung
herangetreten, und wenn ja, welcher und mit welchen Interessen?

21. Verfügt die Bundesregierung aus der Durchführung von sog. Sustainability
Impact Assessments oder anderen vergleichbaren Untersuchungen über Er-
kenntnisse bezüglich der Auswirkungen der geplanten Liberalisierungs-
maßnahmen für die einzelnen Sektoren?

22. Wenn ja, über welche, und inwiefern fließen diese Erkenntnisse in die Ver-
handlungsposition der Bundesregierung innerhalb der EU ein?

23. Wie beurteilt die Bundesregierung die Aussage der von der Europäischen
Kommission in Auftrag gegebenen Studie „Sustainability Impact Assess-
ment of Proposed WTO Negotiations: Final report for the forest sector stu-
dy“ vom 19. Juni 2005, die darauf hinweist, dass eine weitere Handelslibe-
ralisierung in Ländern, die über unzureichende sog. Forest-Governance-
Systeme verfügen, negative Nachhaltigkeitstrends verstärken und in Län-
dern mit hoher Biodiversität wie Brasilien oder Indonesien zu irreversiblen
negativen Auswirkungen auf die Biodiversität führen kann?

24. Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung in Anbetracht der in vie-
len Ländern vorzufindenden unzureichenden Forest-Governance-Systeme
aus dieser Aussage für die laufenden NAMA-Verhandlungen?
25. Welche Auswirkungen auf die Steigerung des weltweiten Holzeinschlages
und des weltweiten Handels mit forstwirtschaftlichen Produkten sieht die

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Bundesregierung durch eine Senkung der Zölle wie auch durch eine Besei-
tigung nichttarifärer Handelshemmnisse (NTB)?

26. Mit welchen negativen Auswirkungen auf die globale Umwelt kann das
nach Ansicht der Bundesregierung verbunden sein, und wie will die Bun-
desregierung diesen möglichen negativen Auswirkungen begegnen?

27. Welche Auswirkungen auf die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und
die Überfischung der Meere sieht die Bundesregierung durch eine Senkung
der Zölle auf Fisch und Fischprodukte wie auch durch eine Beseitigung
nichttarifärer Handelshemmnisse (NTB)?

28. Wie will die Bundesregierung diesen möglichen negativen Auswirkungen
begegnen?

29. Mit welchen Mitteln will die Bundesregierung verhindern, dass über den
Abbau nichttarifärer Handelshemmnisse Gesundheits- und Umweltstan-
dards abgesenkt, Kennzeichnungen über Energieverbrauch, Produktions-
und Handelsbedingungen und generelle Importverbote aus ökologischen
Gründen als „protektionistisch“ untersagt werden?

30. Unterstützt die Bundesregierung den von der EU-Kommission vorbereite-
ten Vorschlag zum weitgehenden Verbot von Exportsteuern, benannt „Ne-
gotiating Proposal on Export Taxes by the European Communities And
Their Member States“, und teilt sie die Auffassung, dass ein solches Verbot
dem Wesen einer „Entwicklungsagenda“ entgegenlaufend letztendlich nur
Entwicklungsländer treffen würde, da dieses legitime und WTO-konforme
Instrument politischer Steuerung fast ausschließlich von Entwicklungslän-
dern angewandt wird und die im Vorschlag enthaltenen Flexibilitäten nur
Scheinflexibilitäten sind?

31. Was sind die Beweggründe der EU-Kommission einen solchen Vorschlag
im jetzigen Stand der Doha-Runde einzubringen bzw. der Bundesregierung
diesen Vorschlag zu unterstützen?

32. Hält die Bundesregierung angesichts der bisherigen Interessengegensätze
im Bereich der NAMA-Verhandlungen und der Absage der für Anfang Mai
dieses Jahres in Genf geplanten Ministerrunde das Ziel, im Jahre 2006 zu
einem Abschluss der Doha-Runde zu kommen, noch für realistisch?

33. Auf welchem Wege und mit welchen Angeboten oder Ultimaten sollen die
Beteiligten zu einem Konsens gebracht werden?

Berlin, den 8. März 2006

Ulla Lötzer
Heike Hänsel
Hüseyin-Kenan Aydin
Dr. Barbara Höll
Monika Knoche
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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