BT-Drucksache 16/13544

Staatliche Förderung von pflegenden Studierenden und Nachwuchswissenschaftlern

Vom 23. Juni 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/13544
16. Wahlperiode 23. 06. 2009

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Cornelia Hirsch, Klaus Ernst, Dr. Petra Sitte,
Dr. Martina Bunge, Inge Höger, Katja Kipping, Elke Reinke, Volker Schneider
(Saarbrücken) und der Fraktion DIE LINKE.

Staatliche Förderung von pflegenden Studierenden und
Nachwuchswissenschaftlern

Jede/Jeder vierte Studierende in der Regelstudienzeit erhält heute Förderung
nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetzt (BAföG). Zusätzlich werden
über die Begabtenförderwerke etwa 20 000 Studierende und Promovierende
mit öffentlichen Mitteln gefördert. Die Förderung erlischt bei Überschreitung
einer vorgegebenen Regelzeit, die von Fall zu Fall variieren kann (im Diplom-
studium beträgt sie meist neun Semester, bei Doktorandinnen und Doktoranden
in der Regel zwei Jahre). Eine Fristverlängerung wird in besonderen Fällen ge-
währt. So ist etwa im BAföG die Verlängerung der Förderungshöchstdauer für
studierende Eltern genau geregelt: durch eine Schwangerschaft verlängert sich
die Förderungshöchstdauer um ein Semester. Weitere Zusatzsemester werden
bei Kindern unter fünf Jahren pro Lebensjahr, bei Kindern im Alter von fünf bis
zehn Jahren pro zwei Lebensjahre gewährt. Für promovierende Eltern verlän-
gert sich auf Grund der Kinderbetreuung die Förderung um maximal ein Jahr.
Weitere Gründe für eine Verlängerung sind das Vorliegen einer Behinderung
oder einer chronischen Erkrankung des/der Geförderten, sowie ehrenamtliches
Engagement in den Gremien der akademischen Selbstverwaltung.

Hingegen wird keine Verlängerung der Förderungshöchstdauer von BAföG-
Beziehenden und Stipendiatinnen und Stipendiaten auf Grund der Betreuung
und Pflege von erwachsenen oder jugendlichen Familienangehörigen mit Be-
hinderungen und/oder chronischer Erkrankungen gewährt. Mit anderen Wor-
ten: Dass Eltern ihre Kinder betreuen ist vorgesehen, der umgekehrte Fall je-
doch, dass etwa erwachsene Kinder ihre behinderten Eltern pflegen, nicht. In
den Bestimmungen zur Begabtenförderung des Bundesministeriums für Bil-
dung und Forschung (BMBF) heißt es zwar: „Die spezifische Situation Behin-
derter ist entsprechend § 1 des Gesetzes zur Gleichstellung behinderter Men-
schen mit dem Ziel der Vermeidung von Benachteiligungen bei der Förderung
besonders zu berücksichtigen.“ (IV.3) Jedoch wird hier die Möglichkeit, dass
behinderungsbedingte Benachteiligungen auch die pflegenden Angehörigen
betreffen können, nicht einbezogen. Dabei wurde erst am 3. Juni 2009 durch
eine Studie der Techniker Krankenkasse (TK) wieder bestätigt, dass die Pflege

von Angehörigen mit enormen psychischen und körperlichen Belastungen ein-
hergeht. Sechs von zehn Pflegenden leiden demnach unter Rückenschmerzen,
jede/jeder Fünfte unter Herz-Kreislauf-Beschwerden. Jede/Jeder vierte Pfle-
gende schläft schlecht, und jedem und jeder Fünften drückt die Last auf den
Magen. Beinahe die Hälfte der über zwei Millionen pflegebedürftigen Men-
schen in Deutschland wird ausschließlich von den eigenen Angehörigen
versorgt. „Um ihnen so lange wie möglich das Zuhause zu erhalten, betreuen

Drucksache 16/13544 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Eltern ihre schwerkranken Kinder, pflegen Kinder ihre Eltern und Eheleute ihre
Partner – manchmal rund um die Uhr“, so die TK-Studie. „Die Pflege ist eine
anstrengende Arbeit, bei der viele Angehörige an ihre Grenzen geraten“. Fast
jede/jeden Zweiten bringe die Aufgabe an den Rand eines Burnouts (http://
www.tk- online.de/tk/pressemitteilungen/gesundheit-und-service/166198).

Es ist vor diesem Hintergrund nicht zu bestreiten, dass die Pflege der behinder-
ten Eltern oder des schwerkranken Partners zweifellos Ursache einer Mehr-
belastung und Benachteiligung von Stipendiatinnen und Stipendiaten und
BAföG-Beziehenden sein kann, die unweigerlich zur Verzögerung des Stu-
diums oder der Promotion führt. In diesem Zusammenhang sei auf eine Ent-
scheidung des Europäische Gerichtshofs (C-303/06) hingewiesen, wonach die
Richtlinie über die Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (2000/78/
EG) und das darin enthaltende Verbot unmittelbarer oder mittelbarer Diskrimi-
nierung nicht für eine bestimmte Kategorie von Personen (z. B. Menschen, die
selbst behindert sind), sondern in Bezug auf die in der Richtlinie genannten
Gründe anzuwenden ist. Erfährt eine Arbeitnehmerin oder ein Arbeitnehmer
eine Benachteiligung wegen der Behinderung eines Kindes, für das er oder sie
im Wesentlichen die Pflegeleistung erbringt, dann, so urteilten die Richter, ver-
stößt eine solche Behandlung gegen das Diskriminierungsverbot. Diese Ent-
scheidung vom 17. Juli 2008 bedeutet eine erhebliche Ausweitung des Schut-
zes vor Diskriminierung im Arbeitsrecht. Sie könnte, den politischen Willen
vorausgesetzt, zum Signalgeber einer Bildungsgesetzgebung werden, welche
erstmals die besondere Situation pflegender Familienangehöriger während des
Studiums und der Promotion anerkennt.

Es ist davon auszugehen, dass der zeitliche Mehraufwand, der während des
Studiums oder der Promotion zur Pflege von Angehörigen aufgewendet wird,
überwiegend zu Lasten von Frauen geht, da diese nach wie vor den größten Teil
der familiären Reproduktionsarbeit übernehmen. Dadurch werde laut der Ge-
werkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) eine „Ausgrenzung von
Frauen aus der Wissenschaft“ gefördert. Die Bildungsgewerkschaft hat daher in
ihrem Ende April 2009 beschlossenen wissenschaftspolitischen Programm die
Rücksichtnahme auf die besonderen Belange von Menschen mit pflegebedürf-
tigen Familienangehörigen in den Strukturen und der Kultur der Wissenschafts-
einrichtungen gefordert. Das Ziel der Vereinbarkeit von Wissenschaft und
Familie sei nicht nur im Bereich der Kinderbetreuung zu verankern, sondern
auf alle Formen von Lebensgemeinschaften auszuweiten, in denen Menschen
füreinander Verantwortung übernehmen.

Gerade die Begabtenförderung im Hochschulbereich richtet sich laut Home-
page des BMBF an qualifizierte und auch außerfachlich engagierte Studierende
und Promovierende, die sich als „soziale Akteure mit Verantwortungsbereit-
schaft“ verstehen. Die Verantwortungsübernahme für pflegebedürftige Fami-
lienangehörige ist jedoch in den Förderrichtlinien nicht vorgesehen. Es ist zu
befürchten, dass gerade in diesen Förderprogrammen, welche laut ihrem
Selbstverständnis die zukünftigen Entscheidungsträger unserer Gesellschaft
hervorbringen wollen, eine Dynamik besteht, die dem Einzelnen nahe legt,
Prinzipien familiärer und damit auch gesellschaftlicher Solidarität der beruf-
lichen Karriere unterzuordnen.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie begründet die Bundesregierung, dass die Förderrichtlinien des BAföG
sowie die Bestimmungen zur Förderung begabter Studierender und Promo-
vierender die Pflege von kranken oder behinderten Eltern und anderen Fami-
lienangehörigen, im Gegensatz etwa zu Kinderbetreuung oder Gremientätig-

keit, nicht ausdrücklich als Grund zur Verlängerung der Förderungshöchst-
dauer definieren?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/13544

2. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass die Pflege von Familienange-
hörigen eine gesellschaftlich wertvolle Arbeit darstellt und die dadurch ent-
stehenden Nachteile von der Gesellschaft anerkannt werden müssen?

Wenn ja, warum resultiert diese Auffassung nicht auch in einer gesetzesmä-
ßig festgeschriebenen und rechtlich einklagbaren Anerkennung von Pflege-
zeiten bei der Berechnung der Förderungsdauer von Stipendiatinnen und Sti-
pendiaten und BAföG-Beziehenden, die kumulativ zu den bereits vorhande-
nen Verlängerungsmöglichkeiten angewendet wird und somit die Höchstför-
derungsdauer (bei Promotionsförderung bisher vier Jahre) entsprechend
verlängert?

3. Inwieweit ist die Nichtaufnahme von Pflegezeiten in den Kriterienkatalog
für die Verlängerung von Studien- und Promotionsförderung als Gering-
schätzung von Pflegetätigkeiten gegenüber anderen Reproduktionstätigkei-
ten bzw. sozialen Engagements seitens der Bundesregierung zu werten?

4. Inwieweit sieht die Bundesregierung bei der durch Begabtenförderung
betriebenen, institutionalisierten Elitenausbildung die Gefahr einer „egois-
tischen Sozialisation“ zukünftiger Entscheidungsträgerinnen und -träger, da
diese im Falle der Pflegebedürftigkeit von Familienmitgliedern solidarische
Verantwortungsbereitschaft der persönlichen Karriere opfern müssen?

5. Inwieweit sieht die Bundesregierung des Weiteren die Gefahr, dass durch
die beschriebene Praxis gerade solche Menschen systematisch von hochqua-
lifizierten Positionen ausgeschlossen werden, die ihre Handlungen an einer
Ethik der Fürsorge und familiären Verantwortungsübernahme ausrichten
und dadurch die Finanzierung ihrer Ausbildung gefährden?

6. Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, die beschriebene Praxis
dahingehend zu ändern, dass Studierende und Nachwuchswissenschaftler,
die Pflegeverantwortung in der Familie übernehmen, nicht strukturell von
den staatlichen Förderstrukturen benachteiligt werden?

Bis wann können diese Änderungen erfolgen?

7. Wie will die Bundesregierung Geschlechtergerechtigkeit herstellen und der
strukturellen Ausgrenzung junger Frauen aus der Wissenschaft entgegenwir-
ken, die besonders häufig die Betreuung pflegebedürftiger Angehöriger
übernehmen?

8. Welche Konsequenzen für staatlich geförderte Studierende und Promovie-
rende zieht die Bundesregierung aus dem EuGH-Urteil vom 17. Juli 2008
(C-303/06), wonach der Schutz vor Diskriminierung in Arbeit und Beruf
auch auf Familienangehörige von Menschen mit Behinderungen anzuwen-
den ist, wenn diese durch die Erbringung von Pflegeleistungen benachteiligt
werden?

Berlin, den 23. Juni 2009

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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