BT-Drucksache 16/12687

Zukunft schaffen, Bildung stärken - Bildungspolitische Herausforderungen als gesamtstaatliche Aufgabe ernst nehmen

Vom 22. April 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/12687
16. Wahlperiode 22. 04. 2009

Antrag
der Abgeordneten Krista Sager, Kai Gehring, Priska Hinz (Herborn),
Ekin Deligöz, Katrin Göring-Eckardt, Britta Haßelmann, Grietje Staffelt
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Zukunft schaffen, Bildung stärken – Bildungspolitische Herausforderungen
als gesamtstaatliche Aufgabe ernst nehmen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

2005 ist die große Koalition mit dem Anspruch angetreten, die Rahmenbedin-
gungen für Bildung und Wissenschaft von der frühkindlichen Förderung über
Ausbildung, Studium und Forschung bis zur Weiterbildung umfassend zu ver-
bessern. Im Koalitionsvertrag hob sie Bildung und Wissenschaft als Schlüssel
für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands hervor und sprach von einem zentralen
Anliegen, das eine große gesamtstaatliche Kraftanstrengung erfordere.

Diesen Schlüssel haben CDU/CSU und SPD nur wenige Monate nach Re-
gierungsantritt leichtfertig aus der Hand gegeben. Im Zuge der Föderalismus-
reform I beschränkten sie die Mitwirkungsmöglichkeiten des Bundes bei der
Bildung. Durch das weitgehende Kooperationsverbot bei der Bildung, aber auch
durch das Aufgeben der Rahmenkompetenz des Bundes im Hochschulbereich
sowie die Abschaffung der Gemeinschaftsaufgaben Hochschulbau und Bil-
dungsplanung nahm die große Koalition der Bundesebene fast jede Möglichkeit,
wirkungsvolle Impulse in der Bildungspolitik zu setzen.

Damit waren weite Teile der bildungspolitischen Agenda der großen Koalition
bereits kurz nach ihrem Amtsantritt Makulatur. Noch im Koalitionsvertrag hat-
ten CDU, CSU und SPD mehr ganztägige Bildung und Erziehung als ihr Ziel be-
nannt. Eine Neuauflage des Ganztagsschulprogramms ist nun aber aufgrund des
Kooperationsverbots rechtlich nicht mehr möglich. Nach der Föderalismus-
reform I durfte der Bund nicht einmal im Fall einer Störung des gesamtwirt-
schaftlichen Gleichgewichts Investitionsmittel für Schulen gewähren. Für an-
dere bildungspolitische Vorhaben wie die Anhebung der Studienanfängerquote
auf 40 Prozent eines Altersjahrgangs oder die Erleichterung des Hochschulzu-
gangs für Menschen ohne Studienzugangsberechtigung sind durch die Födera-
lismusreform neue Hürden entstanden. Denn jede Unterstützung von Initiativen
an Hochschulen durch den Bund bedarf seither der Zustimmung aller Länder.
Trotz der falschen Weichenstellungen im Zuge der Föderalismusreform I gibt
die Bundesregierung dennoch weiterhin vor, Bildung als gesamtstaatliche Auf-
gabe wahrzunehmen und alle staatlichen Ebenen in die Pflicht zu nehmen. In der
Realität scheitert sie mit diesem Anspruch aber auf breiter Ebene. Nachdem sie
die bildungspolitischen Einflussmöglichkeiten des Bundes selber drastisch re-
duziert hatte, ist es ihr nicht gelungen, den notwendigen gesamtstaatlichen Bil-
dungsaufbruch tatsächlich zu initiieren und den widerstreitenden Länderinteres-

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sen zum Trotz verbindliche gemeinsame Festlegungen zu erzielen. Selbst die
von der großen Koalition eingeleiteten Einzelmaßnahmen wie Kinderförde-
rungsgesetz, Hochschulpakt, Reform des Meister-BAföGs oder Ausbildungs-
bonus greifen zu kurz, sind unterfinanziert, verfehlen ihre Ziele oder sind in ent-
scheidenden Punkten unverbindlich.

Zum Ende der Legislatur zeigt sich nun, dass die große Koalition weder in der
Lage ist, die Erwartungen, die sie geweckt hat, zu erfüllen, noch den bildungs-
politischen Herausforderungen annähernd gerecht zu werden. Dies führt zum
Vertrauensverlust in die Glaubwürdigkeit ihrer bildungspolitischen Zielsetzun-
gen. Denn auch in der jüngsten Vergangenheit ließ die Bundesregierung Gele-
genheiten ungenutzt, hier endlich gegenzusteuern und eine grundlegende Kurs-
korrektur in Richtung Vorrang für Bildung vorzunehmen. Viele vermeintliche
Impulse stellten sich als symbolpolitisch und substanzlos heraus.

Beispiel Bildungsgipfel: Schon die Vorbereitung des Gipfels durch die Bundes-
regierung war nicht darauf ausgerichtet, mit den Ländern tatsächlich zu verbind-
lichen Verabredungen über konkrete Maßnahmen zu gelangen. Entsprechend
unkonkret und unverbindlich waren folglich die Ergebnisse des Gipfels. Zwar
wurde das Ziel formuliert, zukünftig sieben Prozent des Bruttoinlandprodukts
für Bildung ausgeben zu wollen. Wie eine solche Steigerung der Bildungsausga-
ben aber erreicht werden kann und welche gemeinsamen Bildungsziele Bund
und Länder damit umsetzen wollen, blieb offen. Stattdessen wurden all diese
Fragen um Jahresfrist vertagt. Dass ausgerechnet parallel zu den Bundestags-
wahlen die Verhandlungen zwischen Bund und Ländern zur Bildungsfinanzie-
rung erfolgreich abgeschlossen werden, erscheint zweifelhaft.

Der Bildungsgipfel ist damit eine verpasste Chance der Regierung, ihre bloßen
politischen Willensbekundungen in verbindliche Vorhaben umzusetzen. Nötig
gewesen wären Vereinbarungen über zusätzliche finanzielle Anstrengungen mit
begleitenden Strukturreformen in einer Reihe von Bereichen. Dazu gehören, wie
von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gefordert: Verbesserungen von der frühkind-
lichen Förderung bis zur Weiterbildung, die Senkung der Schulabbrecherzahlen,
längeres gemeinsames Lernen an Schulen bei individueller Förderung, Ausbau
der Ganztagsschulen, eine Strukturreform der beruflichen Ausbildung und der
qualitative und quantitative Ausbau der Studienplatzkapazitäten.

Beispiel Föderalismusreform II: Mit einem Anteil von 5,1 Prozent am Brutto-
inlandsprodukt (BIP) liegt Deutschland bei den Bildungsausgaben deutlich unter
dem OECD-Mittelwert von 6,1 Prozent (OECD: Organisation für wirtschaft-
liche Zusammenarbeit und Entwicklung). Um überhaupt den Anschluss ans Mit-
telfeld zu schaffen, müssten demnach jedes Jahr 22 Mrd. Euro mehr in die Bil-
dung fließen. Die Föderalismus-II-Kommission hatte den Auftrag, Vorschläge
zur Modernisierung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen zu erarbeiten. Es be-
stand also die Möglichkeit, die gesamtstaatliche Bildungsfinanzierung auf eine
zukunftsfähige Grundlage zu stellen und auch die Fehler der Föderalismusre-
form I zu korrigieren.

Leider klammerten die große Koalition und die beiden Kommissionsvorsitzen-
den Dr. Peter Struck und Günther Oettinger die Bildungsfinanzierung vollstän-
dig aus. Die Föderalismusreform II brachte weder eine Modernisierung des
Investitionsbegriffs noch die Rücknahme des Kooperationsverbots noch eine
Veränderung des Artikels 104b des Grundgesetzes (GG) dahingehend, dass
zukünftig wieder Bund-Länder-Initiativen im Schulbereich wie das Ganztags-
schulprogramm verfassungsrechtlich möglich sind. Damit ließ die Bundesregie-
rung auch diese Gelegenheit ungenutzt verstreichen, die Prioritäten zugunsten
von Bildung zu setzen. Einzig bei Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen
Notsituationen soll der Bund nun Investitionshilfen in Bereichen ohne eigene

Gesetzgebungsbefugnisse geben dürfen.

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Die enormen Herausforderungen im Bildungsbereich existieren aber unabhän-
gig von akuten Ausnahmesituationen. Sie bleiben eine gesamtstaatliche Auf-
gabe. Neben der Aufhebung des Kooperationsverbots haben BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN daher in der Föderalismuskommission II eine Reihe weiterer Vor-
schläge gemacht, wie Länder und Gemeinden finanziell besser in die Lage versetzt
werden, ihrer Verantwortung bei der Bildung besser nachzukommen. Ein wichti-
ges Instrument dazu ist die schrittweise Umwandlung des Solidaritätszuschlags in
einen Bildungssoli. Dabei sollen überschüssigen Mittel des Solidaritätszuschlags,
nach Abzug von Mitteln für eine Altschuldenhilfe des Bundes, gezielt für bessere
Bildung eingesetzt werden. Ferner bedarf es einer Modernisierung des Investi-
tionsbegriffs, der Investitionen in Köpfe bei der Bildung nicht schlechter stellt als
Investitionen in Beton. Ein so modernisierter Investitionsbegriff schafft Anreize,
stärker in Bildung, Wissenschaft und Forschung zu investieren.

Beispiel Konjunkturprogramm: Zuletzt hätte im Zuge der Finanz- und Wirt-
schaftskrise die Chance zu einem gesamtstaatlichen Kraftakt für Zukunftsinves-
titionen in Bildung bestanden. Doch auch diese Chance wurde verpasst. Die mit
dem Konjunkturpaket II in Aussicht gestellten Investitionen im Bildungsbereich
werden vor allem in die Modernisierung von Gebäuden fließen. Investitionen für
Qualitätsverbesserungen und Personal in Kindertagesstätten, Schulen und
Hochschulen sieht das Konjunkturprogramm hingegen nicht vor, obwohl dies
die Konjunktur kurzfristig stützen und langfristig stärken würde. Diese falsche
Prioritätensetzung – auch eine Folge der verfehlten Föderalismusreformen – ist
ein eklatanter Fehler. Denn die Fähigkeit, die Krise und ihre Belastungen lang-
fristig zu bewältigen, hängt maßgeblich davon ab, inwieweit jetzt in Bildung,
Aus- und Weiterbildung der Menschen investiert wird.

Obendrein fehlt jede Garantie, dass die eingesetzten Mittel beim Konjunkturpro-
gramm tatsächlich zusätzlich dem Bildungsbereich zugute kommen werden.
Der Bund kann die Länder nicht daran hindern, in den Folgejahren ihre Bil-
dungsausgaben zu kürzen. Denn durch die ebenfalls im Konjunkturpaket be-
schlossenen Steuersenkungen verschlechtert sich die Einnahmesituation der
Länder und Gemeinden, so dass mittelfristig noch größerer Druck auf die perso-
nalintensiven Bildungsausgaben entsteht. Zudem wurden keine ausreichenden
Vorkehrungen dafür getroffen, dass die Mittel auch an die finanziell schlechter
gestellten Kommunen fließen.

Darüber hinaus zeichnet sich mittlerweile immer stärker ab, dass die Ausgaben
für die Konjunkturprogramme und die damit einhergehende Rekordverschul-
dung auf Kosten von Bund-Länder-Programmen zur Förderung der Wis-
senschaft gehen. Bei den aktuellen Verhandlungen über die Fortsetzung des
Hochschulpakts, des Pakts für Forschung und Innovation sowie der Exzellenz-
initiative mehren sich die Anzeichen, dass weniger Mittel bereitgestellt werden
sollen als ursprünglich geplant. Hier rächt sich, dass auf dem Bildungsgipfel
keine verbindlichen Ergebnisse erzielt wurden.

Aber auch in den bildungspolitischen Feldern, bei denen der Bund auch nach der
Föderalismusreform I noch Einfluss- oder sogar Gesetzgebungskompetenz hat,
bleiben die Taten der Bundesregierung weit hinter den bildungspolitischen Er-
fordernissen zurück.

Beispiel Kinderförderungsgesetz: Notwendige Qualitätsverbesserungen und der
bedarfsgerechte Ausbau der Infrastruktur im vorschulischen Bereich werden
nach wie vor vernachlässigt. Die Bundesregierung hatte mit ihrer Initiative für
den Ausbau der Kinderbetreuung die Gelegenheit, für alle Kinder ab den ersten
Jahr einen verbindlichen Rechtsanspruch auf einen qualitativ hochwertigen,
ganztägigen Betreuungsplatz zu schaffen. Für beide Elemente, den Anspruch auf
ganztägige Betreuung und die Sicherstellung qualitativ hochwertiger Angebote,

haben sich BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN immer wieder eingesetzt. Tatsächlich
konnte sich die Bundesregierung aber nur zu einem Rechtsanspruch durchringen,

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der kein Recht auf Ganztagsbetreuung beinhaltet und zudem erst ab 2013 gilt. Sie
hat es zudem versäumt, den quantitativen Ausbau der Betreuungskapazitäten mit
einer Initiative zur Verbesserung der Qualität in der Kinderbetreuung zu verbin-
den. Im gesamten vorschulischen Bereich fehlt es an verbindlichen Qualitätsstan-
dards und Qualitätssicherungsinstrumenten. Hier ist, wie von BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN gefordert, eine Qualitätsoffensive nötig. Diese umfasst Maßnahmen
zu einer umfassenden Aufwertung der Erzieherinnenausbildung, eine vernünftige
Grundqualifikation für Tagesmütter sowie einheitliche und verbindliche Grund-
standards im gesamten Kinderbetreuungsbereich.

Beispiel berufliche Bildung: Im Koalitionsvertrag haben CDU, CSU und SPD
noch das Ziel formuliert, jedem ausbildungswilligen und -fähigen Jugendlichen
ein Ausbildungsangebot zu machen. Mittlerweile ist von diesem Ziel nicht mehr
viel übrig. Zwar ging die Zahl der unversorgten Bewerber kurzfristig zurück,
dies beruhte aber allein auf konjunkturellen und demografischen Effekten. Nach
wie vor drehen hunderttausende Altbewerber Warteschleifen im Übergangssys-
tem. Hier erwartet sie ein undurchschaubares Dickicht von berufsvorbereiten-
den Maßnahmen, ohne die Möglichkeit der Ankerkennung der Qualifizierungs-
schritte für eine spätere Berufsausbildung. Das hat zur Folge, dass viele
Jugendliche weiterhin ihre Lebenszeit verschwenden müssen. Aber anstatt mit
einer Reform des Ausbildungssystems endlich das Recht auf Ausbildung für alle
Jugendliche umzusetzen, wurde beim Bildungsgipfel lediglich das vereinbart,
was schon längst beschlossen war. Einzelmaßnahmen, wie der Ausbildungsbo-
nus oder die wiederholte Durchführung von Modellprojekten, bringen keine
wirklichen Fortschritte.

Nur eine Ergänzung des dualen Systems durch den Ausbau von überbetrieb-
lichen Ausbildungsstätten als drittem Lernort kann die dringend benötigten zu-
sätzlichen Ausbildungsplätze schaffen. Dies bedeutet, dass Jugendliche weiter-
hin in Betrieb und Berufsschule ausgebildet werden. Dabei werden einige
betriebliche Ausbildungsanteile von überbetrieblichen Ausbildungsstätten über-
nommen. Dadurch sind auch kleinere und spezialisierte Betriebe in Zukunft in
der Lage, Ausbildungsplätze anzubieten. Darüber hinaus müssen berufsvorbe-
reitende Qualifizierungsmaßnahmen voll auf eine zukünftige Ausbildung anre-
chenbar sein. Das bisherige Übergangssystem als Sackgasse darf es so nicht
mehr geben. Voraussetzung dafür ist eine Modularisierung des Ausbildungssys-
tems unter Beibehaltung des Berufsprinzips.

Beispiel Weiterbildung: Im Koalitionsvertrag verkündeten CDU, CSU und SPD
noch, die Weiterbildung werde zur 4. Säule des Bildungssystems aufgewertet.
Beim Bildungsgipfel hieß es, die Beteiligung an der Weiterbildung solle bis
2015 von 43 Prozent auf 50 Prozent der Erwerbsbevölkerung steigen. An Ziel-
marken für den dringend benötigten Ausbau der Weiterbildungsförderung fehlt
es also nicht – allerdings fehlen die notwendigen Initiativen, um die Ziele zu
erreichen. Die von der großen Koalition beschlossene Reform des „Meister-
BAföGs“ wird den Anforderungen an ein zukunftsfähiges Erwachsenenbil-
dungsgesetz nicht gerecht. Anstatt die Weiterbildung für alle zu fördern, werden
einige wenige Berufsfelder neu in die Förderung aufgenommen und kleine Ver-
besserungen formuliert. Immer noch werden damit viel zu wenige Berufs-
gruppen und nur eine Weiterbildung pro Person gefördert. Ein Studium ist als
Weiterbildung erst gar nicht förderungsfähig. Gemessen am tatsächlichen Be-
darf und an den Zielen der Bundesregierung ist dies deutlich zu wenig. Auch die
von der Bundesregierung eingeführte Weiterbildungsprämie ist mit 154 Euro
viel zu gering bemessen, um die nötige Anreizwirkung zu entfalten. Das aus
EU-Mitteln finanzierte Bildungssparen ist wiederum eine zeitlich begrenzte
Initiative, die vor allem die bereits Weiterbildungsaktiven begünstigt.
Anstatt vieler unausgereifter Einzelmaßnahmen ist es höchste Zeit, ein umfas-
sendes Erwachsenenbildungsgesetz auf den Weg zu bringen. Mit einem „Er-

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wachsenen-BaföG“ muss der Lebensunterhalt während einer staatlich anerkann-
ten Weiterbildung mit einem einkommens- und vermögensabhängigen Mix aus
Zuschuss und Darlehen gefördert werden.

Beispiel Hochschulpakt: In den nächsten Jahren ergibt sich durch doppelte Abi-
turientenjahrgänge und steigende Studierendenzahlen eine einmalige Chance
auf mehr Hochschulabsolventen. Dieses Zeitfenster gilt es zu nutzen, bevor der
demografische Wandel auch die Hochschulen erreicht. Denn bis 2020 müssen
viele Akademiker, die aus dem Berufsleben scheiden, ersetzt werden, und das
bei sinkenden Schülerzahlen. Der Hochschulpakt, mit dem Bund und Länder
den dafür notwendigen Kapazitätsausbau an den Hochschulen voranbringen
wollen, hat sich bisher jedoch als weitgehend untauglich und erfolglos gezeigt,
da er grundlegende Konstruktionsfehler hat. Er ist unterfinanziert, denn die Kos-
ten pro Studienplatz sind viel zu niedrig angesetzt. Ein Großteil der Pakt-Mittel
wird für den bloßen Erhalt von Studienplätzen gebraucht. Was fehlt, sind aus-
reichend Mittel für die Schaffung zusätzlicher attraktiver Studienplätze. Auch
der Verteilungsmechanismus ist zu unflexibel und ineffizient. Die Bundesregie-
rung hat zudem versäumt, einen gerechten Lastenausgleich zu schaffen zwi-
schen jenen Ländern, die überproportional viel ausbilden, und jenen, deren Aus-
bildungsleistung unterdurchschnittlich ist. Der Hochschulpakt I hat dieses
Strukturproblem nicht gelöst.

Bei den Verhandlungen um eine Fortsetzung des Hochschulpakts zeichnet sich
ab, dass seine Konstruktionsfehler fortgeschrieben werden: Die pro Jahr vorge-
sehenen 6 500 Euro pro Studienplatz liegen deutlich unter den Erfordernissen
für gute Studienbedingungen, erst recht für teurere Studiengänge wie Medizin,
Natur- und Ingenieurwissenschaften. Auf das Prinzip „Geld folgt Studierenden“
konnten sich die Länder wieder nicht verständigen. Ein echter Lastenausgleich
zwischen den Ländern ist damit weiterhin nicht gewährleistet.

Was wir jetzt dringend brauchen, ist ein wirksamer „Pakt für die Studierenden“,
der die skizzierten Mängel behebt und damit auch dafür sorgt, dass für die Stu-
dierenden endlich flächendeckend gute Lehre und bessere Studienbedingungen
angeboten werden können. Nur mit guten Lernbedingungen und einer damit ein-
hergehenden höheren Studierendenzufriedenheit können die viel zu hohen Stu-
dienabbrecherzahlen reduziert werden. Das ist neben der Erhöhung der Studien-
anfängerquote auf mindestens 40 Prozent eines Altersjahrgangs eine wichtige
Voraussetzung, um den Fachkräfte- und Akademikermangel zu überwinden so-
wie das Bildungs- und Qualifizierungsniveau nachhaltig zu erhöhen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

ihrer gesamtstaatlichen Verantwortung für den Bildungsbereich endlich gerecht
zu werden. Mit den Ländern müssen dafür verbindliche Verabredungen für ein
gerechteres Bildungssystem getroffen werden. Die gesamtstaatlichen Ausgaben
für Bildung, Wissenschaft und Forschung sind auf ein international wettbe-
werbsfähiges Niveau zu steigern. Alle Länder und Gemeinden müssen hinsicht-
lich ihrer Finanzausstattung in die Lage versetzt werden, ihrer Verantwortung im
Bildungsbereich nachzukommen. Insbesondere muss die Bundesregierung sich
dafür einsetzen,

● das weitreichende Kooperationsverbot zwischen Bund, Ländern und Kom-
munen im Bildungsbereich aufzuheben,

● den Solidaritätszuschlag schrittweise in einen Bildungssoli umzuwandeln
und als Erstes einen Teil der bis 2019 anfallenden, überschüssigen Einnah-
men aus dem Solidaritätszuschlag gezielt für Bildung einzusetzen,

● den Investitionsbegriff so zu modernisieren, dass Anreize für vermehrte Aus-

gaben für Bildung, Wissenschaft und Forschung entstehen,

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● die durch sinkende Geburtenzahlen entstehende Demografiereserve im Bil-
dungssystem zu belassen und für Qualitätsverbesserungen in der Bildung ein-
zusetzen.

III. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung darüber hinaus auf,
dafür einzutreten,

1. dass jedes Kind einen Rechtsanspruch auf einen ganztägigen und qualitativ
hochwertigen Kita-Platz ab Vollendung des 1. Lebensjahres erhält. Unter
Beteiligung des Bundes muss eine Qualitätsoffensive gestartet werden, mit
einheitlichen Qualitätsstandards für die Kinderbetreuung. Nur so können
möglichst viele Kinder möglichst früh von guter Bildung profitieren. Zu-
gangshürden durch Elternbeiträge müssen schrittweise abgebaut werden. In
einem ersten Schritt soll ein Betreuungsjahr für jedes Kind gebührenfrei
sein;

2. dass Kinder und Jugendliche individuell gefördert werden. Nur so können
deutlich mehr Kinder bessere Schulabschlüsse machen, ohne dass ihre sozi-
ale Herkunft eine Rolle spielt. Ein flächendeckender Ausbau von Ganztags-
schulen bis 2020 schafft die Grundlage dafür. Deshalb muss noch 2009 ein
Ganztagsschulausbauprogramm II vereinbart werden. Kinder sollen in ei-
nem integrativen Schulsystem länger gemeinsam lernen – über das 4. Schul-
jahr hinaus. Der Bund muss sich daher bei seinen Verhandlungen mit den
Ländern dafür einsetzen, dass sich die Länder zu ersten Schritten dahin ver-
pflichten. Kinder und Jugendliche mit besonderem Förderbedarf wollen wir
in Regelschulen unterrichten, die Abschiebung in Sonderschulen muss end-
lich ein Ende finden. Um mehr Bildungsgerechtigkeit zu verwirklichen,
müssen Kindern und Jugendlichen aus sozial schwächeren Familien die
Kosten für Mittagessen, Lernmittel und Schultransport erstattet werden;

3. dass das Recht auf Ausbildung für Jugendliche umgesetzt wird. Dazu muss
eine qualifizierte Ausbildung nach dem dualen Prinzip unter Einbeziehung
von überbetrieblichen Ausbildungsstätten ermöglicht werden. Jede Qualifi-
zierungsmaßnahme und jeder Ausbildungsabschnitt muss auf eine zukünf-
tige Berufsausbildung anrechenbar sein. Für Schulabbrecher wollen wir
mehr Angebote nach dem Prinzip der Produktionsschulen, an denen Schul-
abschlüsse nachgeholt und der Einstieg in die Ausbildung vorbereitet wer-
den können;

4. dass deutlich mehr junge Menschen studieren können. Dafür müssen sich
Bund und Länder auf einen effektiveren Hochschulpakt II einigen. Bis 2020
muss jedem, der studieren kann und will, ein Studienplatz mit besseren Stu-
dienbedingungen und hochwertiger Lehre zur Verfügung stehen. Darüber hi-
naus müssen bestehende Zugangshürden abgebaut, das bestehende bundes-
weite Zulassungswirrwarr überwunden und beruflich Qualifizierten der
Hochschulzugang entsprechend dem Beschluss der Kultusministerkonfe-
renz vom 6. März 2009 bundesweit erleichtert werden;

5. dass lebenslanges Lernen konsequent gefördert und Weiterbildung zur
4. Säule unseres Bildungssystems wird. Ein umfassendes Erwachsenenbil-
dungsförderungsgesetz mit einem Rechtsanspruch auf Förderung von Schul-
abschlüssen und beruflicher Weiterbildung muss erarbeitet werden. Damit
muss die Finanzierung des Lebensunterhaltes in der Weiterbildungsphase
durch Zuschüsse und Darlehen entsprechend der individuellen Einkom-
mens- und Vermögenssituation gesichert werden.

Berlin, den 22. April 2009
Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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