BT-Drucksache 16/12612

Alt und behindert - Auswirkungen des demografischen Wandels auf das Leben von Menschen mit Behinderungen

Vom 9. April 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/12612
16. Wahlperiode 09. 04. 2009

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Jörn Wunderlich, Klaus Ernst, Katja Kipping,
Monika Knoche und der Fraktion DIE LINKE.

Alt und behindert – Auswirkungen des demografischen Wandels auf das Leben
von Menschen mit Behinderungen

Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung veröffentlichte kürzlich
die Untersuchung „Alt und behindert – Wie sich der demografische Wandel auf
das Leben von Menschen mit Behinderung auswirkt“. Darin wird festgestellt,
dass die Lebenserwartung der Menschen mit Behinderung auch zukünftig deut-
lich ansteigen und sich weiter der allgemeinen Lebenserwartung annähern
wird. Zusätzlich wächst durch die demografische Entwicklung die Gruppe alter
Menschen mit Pflege- und Unterstützungsbedarf sowie die Gruppe chronisch
und psychisch kranker Menschen mit angemeldetem Hilfebedarfe stark. Gesell-
schaft wie Behörden und Dienstleistungsanbieter sind – so die Studie – auf die
künftige Situation nicht vorbereitet.

Aufgrund der sich zum Teil ähnelnden Bedarfslagen sogenannter geistig behin-
derter und demenzkranker Menschen im Alter wird es für Behörden zuneh-
mend schwierig zu entscheiden, ob Betreuungsleistungen über die Eingliede-
rungshilfe oder die Pflegeversicherung zu finanzieren sind. Weiterhin ist unge-
löst, wie und wo Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Werkstätten für behin-
derte Menschen unterstützt werden, wenn sie in das Renteneintrittsalter
kommen und durch das Ausscheiden aus der Werkstatt ihren Lebensmittelpunkt
sowie die Unterstützung ihrer betagten Eltern verlieren. Angemahnt werden
außerdem bessere Betreuung für Familien mit behinderten Kindern und ge-
meinsame schulische Ausbildung mit nicht behinderten Kindern, da Abgänge-
rinnen und Abgänger von Sonderschulen später meistens in Behindertenwerk-
stätten arbeiten, die von der ohnehin schon sehr belasteten Eingliederungshilfe
finanziert werden. Der steigende Zulauf psychisch kranker Menschen und teils
auch Langzeitarbeitsloser in Behindertenwerkstätten wird die Ausgaben weiter
in die Höhe treiben, wenn keine Alternativen bereitgestellt werden.

Die künftige Entwicklung ist schwer abschätzbar, da der Unterstützungsbedarf
in der Bevölkerung uneinheitlich und unvollständig erfasst wird. Bewältigen
lassen wird sich die Lage nicht nur mit Geld. Zusätzlich sind zur Milderung des
Anstiegs von Behinderungen Prävention sowie gemeindenahe Modelle zum
Umgang mit Behinderung erforderlich, die Inklusion ermöglichen und langfris-

tig Kosten sparen. Umfassende Inklusion fordert auch die UN-Behinderten-
rechtskonvention. Fazit der Studie: Die Situation zwingt dazu, zwei vordring-
liche Ziele der Sozialpolitik zu vereinen: Kosten zu begrenzen und gleichzeitig
mehr Teilhabe für Menschen mit Behinderungen zu ermöglichen.

Drucksache 16/12612 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie hat sich nach Kenntnis der Bundesregierung die Zahl der Menschen
mit Behinderungen sowie deren Lebenserwartung vom Jahr 1990 an ent-
wickelt – sowohl zusammengefasst als auch getrennt nach den verschiede-
nen Behinderungsarten (geistige Behinderung/Körperbehinderung/Gehör-
losigkeit/Blindheit/psychische Behinderung/Mehrfachbehinderung)?

2. Wann und wie wird die Bundesregierung für ein bundesweit einheitliches
Bedarfsfeststellungsverfahren sorgen, damit auch der Unterstützungsbedarf
in der Bevölkerung einheitlich erfasst und dadurch die künftige Entwick-
lung besser abgeschätzt werden kann?

3. Was wird die Bundesregierung tun, um die amtliche Schwerbehindertensta-
tistik so zu differenzieren, dass sie detaillierte Aussagekraft über den Hilfe-
bedarf für die sehr unterschiedlichen Behindertengruppen hat und damit
zur Planungsgrundlage werden kann?

4. Wie wird die Bundesregierung Länder und Kommunen in Bezug auf die
örtlichen Präventionsangebote – zum Beispiel bei der Suchtprävention und
-behandlung – unterstützen, um den Anstieg von kostenintensiven Folge-
krankheiten und -behinderungen zu mildern?

5. Wann und wie wird die Bundesregierung die „Nordstedter Erklärung“ des
Bundesverbandes für Körper- und Mehrfachbehinderte (www.bvkm.de)
umsetzen, die unter anderem Bürokratieabbau für Eltern behinderter Kin-
der fordert, wenn diese Frühförderung oder andere Unterstützung beantra-
gen?

6. In welchen Fällen sieht die Bundesregierung eine Entscheidungsproblema-
tik für Behörden, ob eine Betreuungsleistung über die Eingliederungshilfe
(SGB XII) oder die Pflegeversicherung (SGB XI) zu finanzieren ist?

Wie soll mit diesen Schnittstellen umgegangen werden?

7. Wie steht die Bundesregierung zur Forderung des Berlin-Instituts für Be-
völkerung und Entwicklung, dass die Pflegeversicherung auch stationäre
Einrichtungen der Behindertenhilfe als „Häuslichkeit“ anerkennen sollte,
damit die dort pflegebedürftigen Bewohnerinnen und Bewohner den vollen
Satz und nicht nur eine Pauschale von der Pflegeversicherung bekommen?

8. Hält es die Bundesregierung – auch mit Blick auf die UN-Behinderten-
rechtskonvention – für notwendig, einen für alle Sozialgesetzbücher gel-
tenden einheitlichen Behinderungsbegriff zu entwickeln, auf den sich dann
auch die Feststellung einer Behinderung und die Bedarfsfeststellung stützen?

Falls ja, wird dieser Behinderungsbegriff analog dem Pflegebedürftigkeits-
begriff unter Einbindung eines wissenschaftlichen Instituts und der Behin-
dertenbewegung entwickelt?

Falls nein, wie wird die Bundesregierung sonst den Artikeln 2 und 4 der
UN-Behindertenrechtskonvention gerecht werden?

9. Wie trägt die Bundesregierung zur Klärung der Wohn- und Betreuungssi-
tuation künftiger Abgängerinnen und Abgänger von Behindertenwerkstätten
bei, da es sich dabei um die erste zahlenmäßig große Generation geistig
und mehrfach behinderter Menschen handelt, die in das Rentenalter
kommt?

10. Wie wird generell die Wohn- und Betreuungssituation der Menschen mit
Behinderungen sichergestellt, die sich bisher auf Unterstützung und Be-
gleitung ihrer Eltern verlassen konnten bzw. können, wenn ihre Lebens-
erwartung deutlich steigt und sie ihre Eltern überleben bzw. die Eltern al-

ters- und gesundheitsbedingt bisher geleistete Betreuung, Assistenz und
Pflege nicht mehr erbringen können?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/12612

11. Wie wird die Bundesregierung dafür sorgen, dass sich Sozialhilfeträger
und Pflegekassen über die Finanzierung der Behindertenhilfe und der
Altenhilfe einigen und diese beiden Bereiche als gemeinsame Aufgabe be-
greifen?

12. Wie steht die Bundesregierung zur Forderung des Berlin-Instituts für Be-
völkerung und Entwicklung, dass Kostenträger in Bezug auf das persön-
liche Budget sowohl wohnortnahe Beratungsleistungen als auch Budget-
assistenz mitfinanzieren sollten?

13. Wo sieht die Bundesregierung die Ursachen für die stark steigende Inan-
spruchnahme von Leistungen aus der Eingliederungshilfe psychisch kran-
ker Menschen und deren Zustrom in die Behindertenwerkstätten?

Wo sind die Alternativen?

14. Welche Veränderungen in der Gesellschaft sind nötig und möglich, um
psychischen Krankheiten vorzubeugen?

15. Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung für die inklusive Bildung
behinderter Kinder in Regelschulen angesichts des Untersuchungsergeb-
nisses, dass „[d]ie empirischen Daten aus den drei Untersuchungsregionen
bestätigen, dass der Gemeinsame Unterricht insgesamt – bei Einbeziehung
aller Kosten – nicht mehr öffentliche Gelder verbraucht als der Unterricht
in Sonderschulen, sondern eher weniger.“ (siehe „Von der Integration zur
Inklusion“, Hrsg. Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Berlin, 2005,
S. 31)?

16. Wie unterstützt bzw. fördert die Bundesregierung die Schaffung von Bar-
rierefreiheit im Sinne des „Design für Alle“ in den Ländern und Kommu-
nen, im Personennah- und Fernverkehr und allen anderen Bereichen der
öffentlichen Infrastruktur?

Berlin, den 7. April 2009

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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