BT-Drucksache 16/12530

Pressefreiheit in der Türkei

Vom 27. März 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/12530
16. Wahlperiode 27. 03. 2009

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Hüseyin-Kenan Aydin, Dr. Dieter Dehm,
Wolfgang Gehrcke, Heike Hänsel, Inge Höger, Ulla Jelpke, Dr. Hakki Keskin,
Dr. Norman Paech, Alexander Ulrich und der Fraktion DIE LINKE.

Pressefreiheit in der Türkei

In der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 12. März 2009 zu dem
Fortschrittsbericht 2008 über die Türkei heißt es: „Das Europäische Parlament
(…) bedauert, dass die Meinungs- und Pressefreiheit in der Türkei noch immer
nicht vollständig geschützt sind; ist der Ansicht, dass der Pressefreiheit in einer
demokratischen, pluralistischen Gesellschaft weder durch häufige Sperrungen
von Websites noch durch Druck auf kritische Presseorgane und Prozesse gegen
sie gedient ist.“

Die jüngsten Entwicklungen hinsichtlich der Presse- und Meinungsfreiheit in
der Türkei bestätigen die oben zitierten Feststellungen im Fortschrittsbericht
2008. Berufsverbände der Journalisten wie der Verein Zeitgenössischer Journa-
listen (Çag˘das¸ Gazeteciler Derneg˘i – ÇGD) und die Gewerkschaft der Journa-
listen in der Türkei (Türkiye Gazeteciler Sendikasi – TGS) beklagen sich in
letzter Zeit vermehrt darüber, dass ihre Mitglieder im Falle kritischer Bericht-
erstattung über den „Ergenekon-Prozess“ vor Gerichte zitiert werden und mit
Hilfe dieses Drucks eine Autozensur bezweckt wird.

Nach Angaben von ÇGD wurden in der Amtszeit der Regierungspartei AKP in
über 2 500 Fällen mit dem Vorwurf des Verstoßes gegen Artikel 301 des Türki-
schen Strafgesetzbuches Gerichtsverfahren gegen Journalisten eingeleitet. 745
Verfahren endeten mit der Verurteilung der Angeklagten. Die Durchsuchung im
Rahmen des Ergenekon-Prozesses durch die Ermittlungsbehörden in den Räu-
men eines Fernsehsenders im Januar 2009 kommentierte der ÇGD-Vorsitzende
Ahmet Abakay wie folgt: „Die regierungskritische Haltung des Senders offen-
bart sich als der wahre Grund für diese Razzia. Der Ergenekon-Prozess wird zu
einem Prozess umfunktioniert, der der Einschüchterung der Bevölkerung und
der Medien dient.“ (http://bianet.org/bianet/kategori/bianet/112091/tgs-ve-cgd-
ergenekonda-muhaliflere-baskiyi-gordu)

Der Druck, dem sich die Medien im Rahmen des Ergenekon-Prozesses ausge-
setzt sehen, wird auch von der TGS als Anlass zur „Sorge um die Zukunft der
Demokratie im Lande“ bezeichnet. In einer Erklärung anlässlich der Durch-

suchungen in den Redaktionsräumen eines Fernsehsenders schrieb sie: „Wir
sind besorgt darüber, dass der Ergenekon-Prozess nicht zur Aushebelung und
Verurteilung von kriminellen Vereinigungen eingesetzt wird, sondern den
politischen Machthabern als ein Druckmittel gegen Intellektuelle, Medien und
demokratische Organisationen dient. Der steigende Druck auf Presse- und Mei-
nungsfreiheit ist höchst bedenklich.“ (http://bianet.org/bianet/kategori/bianet/
112091/tgs-ve-cgd-ergenekonda-muhaliflere-baskiyi-gordu)

Drucksache 16/12530 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Darüber hinaus rief der türkische Ministerpräsident Erdogan in jüngster Ver-
gangenheit mehrmals dazu auf, Medien und Presseorgane zu boykottieren,
denen er Verbreitung von Falschmeldungen und Lügenpropaganda vorwarf. Zu
diesen Boykottaufrufen sagte der ÇGD-Vorsitzende Abakay: „Ich finde es nicht
zeitgemäß, wenn der Ministerpräsident kritische Medien zu Feinden erklärt und
zum Boykott aufruft. Ich glaube, dass solche Boykottaufrufe international auf
Befremden stoßen werden.“ (http://www.tumgazeteler.com/?a=4130036)

Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch die gegen die Dog ˘an Yayın
Holding (DYH) verhängte Strafe in Höhe von knapp 850 Mio. TL (umgerech-
net ca. 390 Mio. Euro), die mit einem Verstoß gegen Steuergesetze begründet
wird. Auch diese Strafe wird von Berufsverbänden der Journalisten als „ein
Versuch, missliebige Medien gleichzuschalten“ (ÇGD) oder „eine politische
Entscheidung der Machthaber, um kritische Medien auf Linie zu bringen“
(TGS) bewertet.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Teilt die Bundesregierung die Auffassung des Europäischen Parlaments,
dass die Meinungs- und Pressefreiheit in der Türkei noch immer nicht voll-
ständig geschützt sind?

Wenn ja,

a) in welchen Bereichen ist ihrer Ansicht nach der vollständige Schutz der
Pressefreiheit in der Türkei nicht gegeben,

b) welche Kenntnisse hat sie über die Verletzung der Presse- und Meinungs-
freiheit in der Türkei durch staatliche Behörden bzw. Regierungskreise?

2. Teilt die Bundesregierung die Auffassung des Europäischen Parlaments,
„dass die Änderung von Paragraph 301 des Strafgesetzbuches, die im April
2008 angenommen wurde, nicht ausreichend ist, da immer noch Menschen
auf der Grundlage dieses und anderer Paragraphen des Strafgesetzbuches,
des Antiterrorgesetzes oder des Pressegesetzes verfolgt werden, weil sie ihre
Ansichten gewaltlos zum Ausdruck bringen“, wie es zum Beispiel bei Leyla
Zana oder bei den zu Freiheitsstrafen verurteilten Journalisten Ahmet Sami
Belek und Ugras Vatandas von der Tageszeitung „Evrensel“ der Fall war?

3. Teilt die Bundesregierung die Besorgnis der türkischen Journalistengewerk-
schaft TGS darüber, „dass der Ergenekon-Prozess nicht zur Aushebelung
und Verurteilung von kriminellen Vereinigungen eingesetzt wird, sondern
den politischen Machthabern als ein Druckmittel gegen Intellektuelle,
Medien und demokratische Organisationen dient“?

4. Teilt die Bundesregierung die Auffassung des türkischen Vereins Zeitgenös-
sischer Journalisten ÇGD, dass Boykottaufrufe türkischer Regierungsvertre-
ter gegen kritische Medien nicht zeitgemäß sind?

5. Inwieweit ist die Bundesregierung darüber informiert, dass gegen die Dog ˘an
Yayın Holding eine Strafe in Millionenhöhe wegen Verstoßes gegen Steuer-
gesetze verhängt wurde, und in diesem Zusammenhang bei dem vorgewor-
fenen Verstoß gegen Steuergesetze auch der Verkauf von Anteilen von
Dog˘an TV an die Axel Springer AG eine Rolle spielt?

6. Teilt die Bundesregierung die Ansicht von TGS, dass die Strafe gegen die
Dog ˘an Yayın Holding „eine politische Entscheidung der Machthaber (ist),
um kritische Medien auf Linie zu bringen“?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/12530

7. Inwieweit ist die Bundesregierung der im Antrag der Koalitionsfraktionen
vom 22. April 2008 (Bundestagsdrucksache 16/8871) enthaltenen Auf-
forderung, „sich auf bi- und multilateraler Ebene für die Wahrung der Mei-
nungs- und Pressefreiheit in allen Staaten der Welt einzusetzen und auf die
Einhaltung der eingegangenen völkerrechtlichen Verträge, in denen auch
die Meinungs- und Pressefreiheit festgeschrieben ist, zu drängen“, im Hin-
blick auf die Türkei nachgekommen?

8. Inwieweit ist die Bundesregierung der im Antrag der Koalitionsfraktionen
vom 22. April 2008 (Bundestagsdrucksache 16/8871) enthaltenen Auffor-
derung, „bei bi- und multilateralen Gesprächen darauf zu bestehen, dass
das Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit ein universelles, unteilbares
Menschenrecht ist, das ohne Einschränkungen nicht nur für politisch
Andersdenkende gilt, sondern auch für ethnische, religiöse und sexuelle
Minderheiten“, im Hinblick auf die Türkei nachgekommen?

9. Inwieweit ist die Bundesregierung der die im Antrag der Koalitionsfrak-
tionen vom 22. April 2008 (Bundestagsdrucksache 16/8871) enthaltenen
Aufforderung, „im Rahmen internationaler Organisationen von den Mit-
gliedern die strenge Einhaltung der Meinungs- und Pressefreiheit einzufor-
dern“, im Hinblick auf die Türkei nachgekommen?

10. Inwieweit ist die Bundesregierung der im Antrag der Koalitionsfraktionen
vom 22. April 2008 (Bundestagsdrucksache 16/8871) enthaltenen Auffor-
derung, „sich bei den Regierungen von Staaten, in denen Journalisten ge-
fährdet sind, für deren Schutz einzusetzen“, im Hinblick auf die Türkei
nachgekommen?

11. Welche Informationen hat die Bundesregierung darüber, dass zahlreiche
Internetseiten durch staatliche Behörden oder Gerichte in der Türkei seit
der Annahme des Antrags auf Bundestagsdrucksache 16/8871 am 19. Juni
2008 gesperrt wurden?

12. Inwieweit ist die Bundesregierung der im Antrag der Koalitionsfraktionen
vom 22. April 2008 (Bundestagsdrucksache 16/8871) enthaltenen Auffor-
derung, „im Rahmen aller genannten Forderungen auch und insbesondere
die Zensur im Internet zu thematisieren und dieser entgegenzutreten“, im
Hinblick auf die Türkei nachgekommen?

Berlin, den 27. März 2009

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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