BT-Drucksache 16/12203

Kolonialismus, Rassismus und Migrationspolitik

Vom 9. März 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/12203
16. Wahlperiode 09. 03. 2009

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Hüseyin Aydin-Kenan, Wolfgang Gehrcke,
Heike Hänsel, Ulla Jelpke, Monika Knoche, Ulrich Maurer, Dr. Norman Paech,
Paul Schäfer (Köln) und der Fraktion DIE LINKE.

Kolonialismus, Rassismus und Migrationspolitik

Von November 2009 bis Februar 2010 jährt sich die Berliner Afrika-Konferenz
zum 125. Mal. Kolonialismus ist heute noch allgegenwärtig – in Mentalitäten
und Verhaltensweisen, aber auch im Stadtbild und im Selbstverständnis der
kolonisierenden und kolonisierten Länder und Gesellschaften.

Auf Einladung Bismarcks kamen am 15. November 1884 in Berlin die Vertreter
der USA, des Osmanischen Reiches und zwölf europäischer Staaten zusammen.
Während der folgenden Verhandlungen, die sich bis zum 25. Februar 1885 hin-
zogen, verständigten sich die Teilnehmer über die Aufteilung und Annexion
Afrikas. Nach der Berliner Afrika-Konferenz eignete sich das Deutsche Reich
die Kolonialgebiete Südwestafrika (heute Namibia), Togo, Kamerun, Ostafrika
(heute Tansania) und Inselgruppen im Pazifik, u. a. Samoa und Neuguinea, auch
Kaiser-Wilhelms-Land genannt, an.

Der Kolonialismus diente der Aneignung von menschlicher Arbeitskraft und
Naturressourcen in Übersee, er war verbunden mit gnadenloser Ausbeutung von
Mensch und Natur und mit der Zerstörung von Umwelt und gewachsenen
Siedlungs- sowie Kulturstrukturen und er führte zur Etablierung einer neuen
Welthandelsstruktur zu Lasten der Länder des Südens. Durchgesetzt wurde die
territoriale und wirtschaftliche Einflusssphäre mit militärischen Mitteln, ohne
Rücksicht auf die Zivilbevölkerung zu nehmen, wie beispielsweise der Völker-
mord an den Herero und Nama 1904 gezeigt hat.

Die Weltkonferenz gegen Rassismus im September 2001 im südafrikanischen
Durban stellte in ihrer Abschlusserklärung fest, „dass Kolonialismus zu Rassis-
mus, rassistischer Diskriminierung, Ausländerfeindlichkeit und damit zusam-
menhängender Intoleranz geführt hat und dass Afrikaner und Menschen afrika-
nischer und asiatischer Abstammung sowie Urvölker Opfer von Kolonialismus
waren und weiter unter seinen Folgen leiden … Wir bedauern ferner, dass die
Effekte und die Hartnäckigkeit dieser Strukturen und Praktiken zu den Faktoren
zählen, die heute zu andauernden sozialen und wirtschaftlichen Ungleichge-
wichten in vielen Teilen der Welt beitragen“.
Bis heute sind die Auswirkungen der Berliner Afrika-Konferenz und der darauf
folgenden Kolonisierung und Staatenbildung spürbar in strukturellem Rassis-
mus, in ungerechten Wirtschaftsstrukturen, in Unruhen und Kriegen. In der Ab-
schlusserklärung von Durban wurde deshalb mit Besorgnis festgehalten, „dass
Rassismus, Rassendiskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und damit zusam-
menhängende Intoleranz unter anderem durch eine ungerechte Verteilung des
Reichtums, Marginalisierung und soziale Ausgrenzung verschlimmert werden

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können“ und der daraus erwachsenen Migration nicht mit Migrationspolitiken
begegnet werden dürfe, die „auf Rassismus, Rassendiskriminierung, Fremden-
feindlichkeit und damit zusammenhängender Intoleranz basieren“. Alle Staaten
wurden aufgefordert, Einwanderungspolitiken, die nicht mit den internationalen
Rechtsakten auf dem Gebiet der Menschenrechte im Einklang stehen, zu über-
prüfen und erforderlichenfalls zu überarbeiten, mit dem Ziel, alle diskriminie-
renden Politiken und Praktiken gegenüber Migranten (…) zu beseitigen.

2006 beschloss die UNO-Generalversammlung, dass 2009 eine Nachfolgekon-
ferenz zur Weltkonferenz gegen Rassismus in Durban (2001) abgehalten werden
soll, um Fortschritte und auch Rückschläge im Kampf gegen Rassismus zu
diskutieren und aufzuzeigen. Außerdem sollen Empfehlungen ausgearbeitet
werden, wie die Staaten darauf hinarbeiten können, dass die gesetzten Ziele aus
dem Abschlussdokument der Durban-Konferenz umgesetzt werden können. Die
Nachfolgekonferenz wird vom 20. bis 24. April 2009 in Genf stattfinden.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Inwieweit teilt die Bundesregierung die Auffassung des Abschlussdoku-
ments der „UN-Weltkonferenz gegen Rassismus“ in Durban 2001, in dem es
heißt: „Die Täter und Nutznießer des transatlantischen Sklavenhandels, von
Sklaverei, Kolonialismus, Fremdherrschaft erkennen an, dass eine solche
Politik und Praxis Verbrechen gegen die Menschheit sind“, und sieht sie darin
eine Veranlassung, die Auseinandersetzung mit dem deutschen Kolonialis-
mus und der damit verbundenen historischen Schuld zu verstärken?

2. Weshalb sind im Nationalen Aktionsplan gegen Rassismus die von der
UN- Weltkonferenz 2001 empfohlenen Themenschwerpunkte Kolonialismus,
historische Schuld und Entwicklungszusammenarbeit nicht enthalten, ob-
wohl die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der
Fraktion DIE LINKE. (Bundestagsdrucksache 16/4689) die Auseinander-
setzung mit dem Kolonialismus und dessen Folgen als einen Beitrag zur
Bekämpfung des Rassismus bezeichnet hat?

3. Hat die Bundesregierung ein Konzept, wie sie mit der deutschen kolonialen
Vergangenheit umgehen möchte?

Wenn ja, wie sieht dieses Konzept aus?

Wenn nein, warum nicht?

4. Wie beurteilt die Bundesregierung das europaweit steigende Interesse an
einer Aufarbeitung des europäischen Kolonialismus und sollte die Bundes-
republik Deutschland nach Auffassung der Bundesregierung in diesem Pro-
zess eine führende Rolle einnehmen (bitte begründen)?

5. Welche Veranstaltungen von Forschungsinstituten, Wirtschaftsunternehmen,
Universitäten oder Nichtregierungsorganisationen anlässlich des 125. Jahres-
tages der Berliner Afrika-Konferenz sind der Bundesregierung bekannt?

6. Inwieweit wird die Bundesregierung den 125. Jahrestag für die kritische Aus-
einandersetzung mit dem Kolonialismus und seinem Erbe im Rahmen eige-
ner Veranstaltungen nutzen?

7. Inwieweit sucht die Bundesregierung Möglichkeiten der Kooperation mit in
diesem Bereich aktiven und engagierten Institutionen und Organisationen?

Welche Kooperationen wurden mit welchen Organisationen/Institutionen
vereinbart bzw. befinden sich in Planung?

8. Inwieweit hat die Bundesregierung politische Schritte eingeleitet, die sich auf
die einstimmige Entschließung des namibischen Parlaments zum Recht der

Herero und Nama auf Wiedergutmachung wegen des Völkermords der deut-
schen Kolonialmacht im ehemaligen „Deutsch-Südwestafrika“ beziehen?

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9. Plant die Bundesregierung Initiativen zur Wiedergutmachung ihrer histori-
schen Schuld, der weiteren Aufarbeitung der Kolonialvergangenheit
Deutschlands und der Aussöhnung mit den Bevölkerungen der ehemaligen
Kolonien des Deutschen Kaiserreiches?

Wenn ja, wo, und welche?

Wenn nein, warum nicht (bitte einzeln begründen)?

10. Wie ist die Haltung der Bundesregierung zur Auffassung von Juristen und
Juristinnen, dass Kompensationsleistungen lediglich bedeuten, im „Mitein-
anderabwägen“ von zwei Rechtspositionen einen Schaden auszugleichen,
der nicht böswillig herbeigeführt wurde (z. B. Unfall, Insolvenz, Enteig-
nung), also nur ein Ausgleich angestrebt wird, ohne das Verhältnis der
Parteien zu verändern, während Reparationen dagegen für schuldhaft von
staatlichen Institutionen (z. B. Militär) verursachte schwere Schäden geleis-
tet werden, die das Eingeständnis von Schuld einschließen?

11. Wie ist die Haltung der Bundesregierung zur Auffassung von Befürwortern
und Befürworterinnen von Reparationsforderungen, dass diese nicht nur
dem Anliegen dienen, das historische Gedächtnis der Öffentlichkeit in den
ehemaligen „Erobererstaaten“ aufzufrischen, ihr „moralisches Gewissen“
zu schärfen und ein „gesundes Unrechtsbewusstsein“ zu schaffen, sondern
die breite Palette von Benachteiligungen in den internationalen Beziehun-
gen, denen die einstigen Kolonien bis heute durch die einstigen Kolonial-
mächte ausgesetzt sind, zu thematisieren?

12. Wie ist die Haltung der Bundesregierung zur Auffassung, dass die sog. Ent-
wicklungshilfe bzw. Entwicklungszusammenarbeit kein Ersatz für Kom-
pensationsleistungen und Reparationszahlungen sein kann, da diese nicht
ohne Bedingungen, Gegenleistungen und ohne Anspruch auf die Beteili-
gung an der Verfügung geleistet wird?

13. Inwieweit würde sich die Bundesregierung dafür einsetzen, entsprechende
Kompensationsleistungen und Reparationszahlungen bedingungs- und ge-
genleistungsfrei in Fonds zu geben, die Infrastrukturmaßnahmen in den Ge-
bieten der zur Kolonialzeit am meisten betroffenen Bevölkerungsgruppen
finanziert, um so die durch die Kolonialisierung geschaffenen und seither
gesellschaftlich verankerten Benachteiligungen, die beispielsweise im post-
kolonialen Namibia weiter bestehen, zugunsten der Nachkommen der da-
mals Betroffenen zu mindern?

14. Inwieweit hält es die Bundesregierung für widersprüchlich, wenn sie sich
einerseits seit längerem für die Rückgabe der von den Alliierten als „Kom-
pensatorische Restitution“ nach 1945 in Deutschland getätigten Konfiska-
tionen, die durch Beschlüsse des Alliierten Kontrollrats gedeckt und damit
rechtens waren, einsetzt, andererseits aber Restitutionsforderungen oder
Anfragen ehemaliger Kolonialstaaten an deutsche Museen zur Ausleihe
von Kulturgütern aus ehemaligen Kolonialstaaten, die zumeist rechtlich
fragwürdige Besitztitel aufweisen, verweigert werden?

15. Inwieweit sieht sich die Bundesregierung mit

a) der so genannten Residenzpflicht,

b) dem Asylbewerberleistungsgesetz und hierbei besonders mit dem Sach-
leistungsprinzip,

c) den faktischen und tatsächlichen Ausbildungs- und Arbeitsverboten,

d) den Sondervorschriften für Flüchtlingskinder und Kinder ohne deut-
schen Pass, nach denen diese bereits ab einem Alter von 16 Jahren als

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„handlungsfähig“ und damit als voll verantwortlich angesehen werden
sowie

e) der Abschiebungshaft, bei der Menschen nur zu dem Zweck inhaftiert
werden, damit sie außer Landes gebracht werden können,

im Widerspruch zur Abschlusserklärung von Durban, nach der „diskrimi-
nierende Politiken und Praktiken gegenüber Migranten“ beseitigt werden
sollen?

16. Inwieweit ist die Bundesregierung der Auffassung, dass sie mit ihren Ände-
rungen der Regelungen zum Ehegattennachzug (Sprachanforderungen vor
Einreise, Mindestalter 18 Jahre) im Jahr 2007 der Forderung der Weltkon-
ferenz in Durban nachgekommen ist, „die Familienzusammenführung, die
sich positiv auf die Integration von Migranten auswirkt, rasch und wirksam
zu erleichtern und dabei dem Wunsch vieler Familienmitglieder nach unab-
hängigem Status gebührend Rechnung zu tragen“?

17. Inwieweit sieht die Bundesregierung einen Handlungsbedarf darin, dass so
genannte Russlanddeutsche noch 300 Jahre nach der Auswanderung als
Spätaussiedler/Spätaussiedlerinnen die deutsche Staatsangehörigkeit erhal-
ten, Menschen aus Afrika unter denselben „Abstammungsbedingungen“
die deutsche Staatsangehörigkeit auf gleiche Weise erleichtert zugänglich
zu machen (bitte begründen)?

18. In welchen deutschen Kolonialgebieten waren so genannte Rassenmisch-
ehen zwischen Deutschen und so genannten Eingeborenen zu welchen Zeit-
punkten nicht möglich oder verboten, und ist es zutreffend, dass viele
Kinder aus Beziehungen zwischen Deutschen und „Eingeborenen“ in den
deutschen Kolonialgebieten nur deshalb nicht die deutsche Staatsan-
gehörigkeit erwarben, weil die Eltern, z. B. infolge von rechtlichen oder
faktischen Eheverboten, nicht rechtswirksam verheiratet waren?

19. Ist die Bundesregierung bereit, gesetzliche oder untergesetzliche Maßnah-
men zu ergreifen, mit dem Ziel, die diskriminierenden Folgen dieser rassis-
tischen Eheverbote für die aus solchen Bindungen hervorgegangen Kinder
zu beseitigen, sprich: diesen Abkömmlingen die deutsche Staatsangehörig-
keit (nachträglich) zuzugestehen oder ihnen einen Zugang zu einer erleich-
terten Einbürgerung zu verschaffen, wenn sie dies möchten?

Wenn ja, welche Maßnahmen plant die Bundesregierung in welchen Zeit-
räumen, und wenn nein, warum nicht?“

20. Warum ist die Bundesregierung der Aufforderung der Weltkonferenz in
Durban – auch im Rahmen des Nationalen Aktionsplanes gegen Rassismus –
nicht nachgekommen, die „die regelmäßige Erfassung von Akten des Ras-
sismus, der Rassendiskriminierung, der Fremdenfeindlichkeit und damit
zusammenhängender Intoleranz im öffentlichen wie auch im privaten Sek-
tor vorzusehen, insbesondere auch wenn diese Akte von Strafverfolgungs-
beamten begangen wurden“, gefordert hat, und warum werden in der
Bundesrepublik Deutschland Straftaten nicht danach erfasst, ob die Tatver-
dächtigen beispielsweise Beamte oder Beamtinnen des Polizeivollzugs-
dienstes sind?

21. Teilt die Bundesregierung

a) eingedenk des skandalösen Falls des in Polizeigewahrsam zu Tode ge-
kommenen Oury Jalloh, in dem der Vorsitzende Richter von „offenkun-
digen Lügen, Widersprüche[n] und Ungereimtheiten“ seitens der Poli-
zeibeamten und Polizeibeamtinnen sprach und
b) eingedenk dessen, dass es in den Jahren zuvor weitere Fälle nicht eindeu-
tig geklärter Tode in staatlicher bzw. polizeilicher Obhut gegeben hat (es

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starben unter anderem Laya Alama Condé, N’deye Mareame Sarr, Halim
Dener, Michael Paul Nwabuisi genannt John Achidi, Laye Konde,
Zdravko Nikolov Dimitrov, Aamir Ageeb, Arumugasamy Subrama-
niam, Dominique Koumadio) und

c) eingedenk des Umstandes, dass bei Flüchtlingsräten und Opferbe-
ratungsstellen zahlreiche Beschwerden eingehen, die geltend machen,
dass sie ohne ersichtlichen Grund und offenbar anknüpfend allein an die
Hautfarbe durch die Polizei kontrolliert, diskriminiert und gedemütigt
werden,

die wiederholt geäußerte Besorgnis des UN-Ausschusses zur Beseitigung
von Rassendiskriminierung über rassistische Polizeigewalt in der Bundes-
republik Deutschland (http://www.fr-online.de/in_und_ausland/politik/
aktuell/?em_cnt=1642027 &em_loc=1231, bitte begründen)?

22. Welche Erklärung hat die Bundesregierung für die Erkenntnis einer Kom-
mission des Europarats, dass in der Bundesrepublik Deutschland über-
proportional viele Beschwerden über Polizeigewalt von Menschen mit
Migrationshintergrund stammen (http://www.fr-online.de/in_und_ausland/
politik/aktuell/?em_cnt =1642027&em_loc=1231), und welche konkreten
Schlussfolgerungen zieht sie daraus?

Berlin, den 9. März 2009

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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