BT-Drucksache 16/12168

Rücknahme der Klage gegen Italien vor dem Internationalen Gerichtshof und Entschädigung für italienische und griechische NS-Opfer

Vom 5. März 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/12168
16. Wahlperiode 05. 03. 2009

Antrag
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Wolfgang Neskovic, Sevim Dag˘delen, Heike Hänsel,
Jan Korte, Kersten Naumann, Dr. Norman Paech, Petra Pau, Paul Schäfer (Köln)
und der Fraktion DIE LINKE.

Rücknahme der Klage gegen Italien vor dem Internationalen Gerichtshof und
Entschädigung für italienische und griechische NS-Opfer

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die deutsche Wehrmacht und die Waffen-SS haben während des Zweiten
Weltkrieges auch in Italien grauenhafte Verbrechen begangen. Vor allem nach
dem auf den Sturz Mussolinis folgenden Ausscheiden Italiens aus der Allianz
mit dem nationalsozialistischen Deutschland im September 1943 hat es un-
zählige Massaker deutscher Einheiten an der Zivilbevölkerung gegeben.

2. Deutschland muss für diesen grauenhaften Terror Verantwortung überneh-
men. Dies ist bislang nur unzureichend geschehen. Gegenüber den vom
NS-Terror betroffenen Menschen hat sich die Bundesrepublik Deutschland
auf lediglich symbolische Gesten beschränkt.

3. Aufgrund der ausbleibenden Entschädigungszahlungen haben überlebende
NS-Opfer bzw. ihre Angehörigen vor italienischen Gerichten in der jüngeren
Vergangenheit mehrere Individual- und Sammelklagen gegen die Bundes-
republik Deutschland eingereicht. Einige dieser Klagen sind vom Obersten
Gericht Italiens, dem Corte di Cassazione, bereits rechtskräftig zugunsten der
NS-Opfer entschieden worden. Zuletzt wurde die Bundesrepublik Deutsch-
land im Oktober 2008 zu einer Entschädigung in Höhe von rund 1 Mio. Euro
an Familienangehörige von Menschen verurteilt, die im Sommer 1944 von
der Wehrmachts-Division „Hermann Göring“ in der Ortschaft Civitella er-
mordet worden waren. Rund 50 weitere Klagen sind gegenwärtig in Italien
anhängig. Hierzu gehören auch Gerichtsverfahren griechischer Opfer des
SS-Massakers in Distomo, die in Italien die Vollstreckbarkeit eines in Grie-
chenland ergangenen Urteils beantragen.

4. Die Bundesregierung hat es in allen Verfahren abgelehnt, den NS-Opfern Ent-
schädigung zu gewähren. Sie ist auch nicht bereit, die höchstrichterlichen
Urteile der italienischen Justiz anzuerkennen. Die Entscheidung des Corte di

Cassazione (Corte Suprema di Cassazione), in Fällen von Verbrechen gegen
die Menschlichkeit sei die Berufung auf die Staatenimmunität hinfällig, will
die Bundesregierung nicht akzeptieren.

5. Statt eine Entschädigung an die meist hochbetagten Menschen auszuzahlen,
strebt die Bundesregierung eine Klage gegen Italien vor dem Internationalen
Gerichtshof in Den Haag an. Diese Klage wurde im Dezember 2008 mit der

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Einreichung einer „application“ eingeleitet. Die Bundesregierung will durch
den Gerichtshof feststellen lassen, dass die italienische Justiz die Immunität
des deutschen Staates nicht beachtet habe.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die Klage gegen die Italienische Republik vor dem Internationalen Gerichts-
hof zurückzuziehen;

2. die höchstinstanzlichen Urteile der italienischen Justiz anzuerkennen;

3. den betroffenen NS-Opfern bzw. deren Angehörigen die von italienischen
Gerichten zugesprochene Entschädigung unverzüglich zukommen zu lassen;

4. die Entscheidungen der griechischen Justiz im „Distomo“-Fall anzuerkennen
und die dort zugesprochenen Entschädigungen zu bezahlen.

Berlin, den 4. März 2009

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Begründung

Eine angemessene Entschädigung für italienische NS-Opfer hat es bislang nicht
gegeben. Die einzige Zahlung, auf die sich die Bundesregierung beruft, war die
Globalzahlung in Höhe von 40 Mio. DM (ca. 20,5 Mio. Euro) im Jahr 1961.
Diese bezog sich aber nur auf Opfer sogenannter NS-typischer Verfolgung.

Nicht in diese Rubrik fallen etliche jener Verbrechen, welche die deutschen Trup-
pen während ihres Rückzuges in Norditalien in den Jahren 1943 und insbeson-
dere 1944 verübt haben. Im Rahmen der „Partisanenbekämpfung“ haben Wehr-
macht und Waffen-SS unzählige „Kollektivstrafen“ verhängt und Tausende von
Zivilisten ermordet. Diese Opfer wurden aus Mitteln der „Globalzahlung“ in
Höhe von 40 Mio. DM aus dem Jahre 1961 nicht entschädigt, aus damaliger
bundesdeutscher Sicht war dies auch nicht beabsichtigt. Zudem handelte es sich
bei dem Abkommen von 1961 nicht um eine abschließende Regelung sämtlicher
Entschädigungsforderungen.

Eines der größten Massaker fand im März 1944 in den Ardeatinischen Höhlen
nahe Rom statt. Als Rache für einen Bombenanschlag von Partisanen auf deut-
sche Einheiten wurden 335 Geiseln ermordet, meist politische Gefangene. Das
Verbrechen war von höchsten deutschen Dienststellen, darunter dem Ober-
befehlshaber Süd und dem Oberkommando der Wehrmacht angeordnet worden.

Am 12. August 1944 ermordete die 16. SS-Panzergrenadierdivision „Reichs-
führer SS“ in der toskanischen Gemeinde Sant’Anna di Stazzema etwa 560 Ein-
wohnerinnen und Einwohner – das Massaker war im Jargon der Täter eine
Aktion im Rahmen der „Partisanenbekämpfung“. Unter den Ermordeten waren
116 Kinder.

Nur wenig später verübte die gleiche Einheit eine regelrechte Serie von Massen-
morden rund um die Apenninen-Gemeinde Marzabotto. Fast 800 Einwohnerin-
nen und Einwohner wurden mit Handgranaten und Maschinengewehren umge-
bracht oder in Häuser gesperrt, die in Brand gesteckt wurden. 213 von ihnen
waren Kinder unter 13 Jahren. Das hielt die SS nicht davon ab, von den Ermorde-
ten als „Banditen und Bandenhelfern“ zu sprechen.
Es handelt sich bei diesen Verbrechen nicht um „Einzelfälle“, sondern um eine
gezielte Terrorpolitik der deutschen Besatzer, die von der obersten Führung ge-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/12168

wollt und von den unteren Einheiten umgesetzt wurde. Kennzeichnend dafür
sind einschlägige Befehle wie etwa des Oberbefehlshabers Süd, Generalfeldmar-
schall Albert Kesselring, beim Auftreten von Partisanenverbänden männliche
Zivilisten als Geiseln zu nehmen und zu ermorden.

Keinerlei Entschädigung hat bis heute auch die Mehrzahl der sogenannten
Militärinternierten erhalten. Den über 600 000 italienischen Soldaten, die 1943
in deutsche Gefangenschaft gerieten, wurde der Status als Kriegsgefangene und
damit der Schutz der Genfer Konvention verweigert. Die Gefangenen mussten
Zwangsarbeit leisten, mehrere Zehntausend wurden in der Rüstungsindustrie
oder für andere, direkt mit militärischen Zwecken verbundene Arbeiten einge-
setzt, was nach den Bestimmungen des Kriegsvölkerrechts ebenfalls widerrecht-
lich war. Die Sterblichkeit in den Lagern war aufgrund schlechter Haftbedingun-
gen extrem hoch.

Aufgrund eines von der Bundesregierung in Auftrag gegebenen Gutachtens wur-
den mehrere Zehntausend heute noch lebende ehemalige Militärinternierte von
der Zwangsarbeiterentschädigung im Rahmen der Stiftung Erinnerung, Verant-
wortung und Zukunft nicht berücksichtigt.

Die Bundesregierung beschränkt sich in ihrer Erinnerungspolitik weitgehend auf
symbolische Gesten, die zwar notwendig sind und ihren berechtigten Stellenwert
haben, aber keinen Ersatz darstellen für eine Entschädigung der sehr realen,
blutigen Verbrechen.

Ähnliche Erfahrungen mit der deutschen Entschädigungsverweigerung haben
auch die Opfer des SS-Massakers vom 10. Juni 1944 im griechischen Distomo
gemacht. 1997 verurteilte das Landgericht Livadia die Bundesrepublik Deutsch-
land zur Entschädigung von ca. 22 Mio. Euro (zuzüglich Zinsen und Kosten ins-
gesamt jetzt ca. 50 Mio. Euro); das Urteil wurde vom obersten griechischen
Gerichtshof (Aeropag) im Jahr 2000 bestätigt. Dennoch verweigert die Bundes-
regierung die Zahlung. Nachdem die Zwangsvollstreckung aufgrund diplomati-
scher Intervention der Bundesregierung in Griechenland gescheitert ist, unter-
nehmen die Kläger nun Schritte, das Urteil in Italien vollstrecken zu lassen. Die
italienischen Gerichte haben die Vollstreckbarkeit bestätigt.

Das höchste italienische Gericht hat beginnend mit dem Jahr 2004 mehrere Ent-
scheidungen gefällt, in denen es Deutschland die Berufung auf den Grundsatz der
Staatenimmunität im Falle der zugrunde liegenden massiven Verbrechen gegen
die Menschheit und Kriegsverbrechen verwehrt. Das entspricht der gegenwär-
tigen Entwicklung in der internationalen Rechtsauffassung, wonach Staaten für
solche, von ihnen zu verantwortenden Verbrechen auch gegenüber ihren Opfern
Verantwortung tragen müssen. Das gilt aber insbesondere angesichts der bei-
spiellosen Verbrechen gegen die Menschheit, welche das nationalsozialistische
Deutschland verübt hat.

Ohnehin wäre es ein Gebot der Menschlichkeit gewesen, den betroffenen
NS-Opfern Entschädigung anzubieten, anstatt sie zum langwierigen Gang vor
die Gerichte zu zwingen.

Dass die Bundesregierung sich weigert, die Entscheidungen des höchsten italie-
nischen Gerichts anzuerkennen, müssen die überlebenden NS-Opfer als Schlag
ins Gesicht empfinden. Die meisten von ihnen sind hochbetagt. Das bisherige
Verhalten der Bundesregierung ist eine Verhöhnung der Opfer und eine Blamage
für die Bundesrepublik Deutschland, die damit ihre offiziellen Beteuerungen, die
Menschenrechte seien die wichtigste Richtschnur ihrer Außenpolitik, unterläuft.

Die Bundesregierung wirft den NS-Opfern in ihrer „application“ an den Interna-
tionalen Gerichtshof vor, ihre Klagen hätten sich zu einer ernsthaften Belastung
für das deutsch-italienische Verhältnis entwickelt („serious stumbling block

adversely affecting the bilateral relationships“). Auf der Homepage des Auswär-

Drucksache 16/12168 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
tigen Amts wird sogar postuliert, „die Rückkehr zu einer dauerhaften Friedens-
ordnung“ sei gefährdet, wenn die Bundesrepublik Deutschland für NS-Ver-
brechen Entschädigungen zahlen müsse.

Diese Argumentation stellt eine Verdrehung der Realität dar. Wenn schwerste
Verbrechen nicht geahndet werden, dann gefährdet dies den Frieden, weil darin
eine Ermutigung zur Begehung zukünftiger Verbrechen liegt. Deutschland belas-
tet das Verhältnis zu Italien, wenn sie deren Staatsangehörigen die ihnen zu-
stehende Entschädigung verweigert. Friedensstiftend kann nur eine klare Ent-
schädigungsregelung gegenüber den Opfern nationalsozialistischer Verbrechen
sein.

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