BT-Drucksache 16/11694

Unterstützung der Bundesregierung für einen in der Türkei gefolterten und inhaftierten deutschen Staatsbürger

Vom 20. Januar 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/11694
16. Wahlperiode 20. 01. 2009

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Wolfgang Neskovic, Dr. Norman Paech
und der Fraktion DIE LINKE.

Unterstützung der Bundesregierung für einen in der Türkei gefolterten
und inhaftierten deutschen Staatsbürger

Ein deutscher Staatsbürger wurde in der Türkei wegen angeblicher Mitglied-
schaft in einer oppositionellen Partei festgehalten, gefoltert, verurteilt und inhaf-
tiert. Der 1959 im türkischen Tunceli geborene kurdischstämmige Mehmet
Desde lebt seit 1979 in der Bundesrepublik Deutschland und besitzt seit 2001
die deutsche Staatsbürgerschaft. Im Sommer 2002 war er zur Beerdigung seines
Vaters in die Türkei gereist und wollte anschließend noch einige Wochen im
Land bleiben. Zusammen mit dem in Berlin lebenden und mit einer deutschen
Staatsbürgerin verheirateten Journalisten Mehmet Bakir wurde er am 9. Juli
2002 90 Kilometer von Izmir entfernt festgenommen und zur Antiterror-Abtei-
lung der Polizei gebracht. Den Festgenommenen wurde die Mitgliedschaft in der
laut Amnesty International kleinen, gewaltlosen Oppositionsgruppe „Bolsche-
wistische Partei“ (Nordkurdistan/Türkei) vorgeworfen, in deren Namen zuvor
von Unbekannten Flugblätter verbreitet wurden. Die Männer bestritten jede Ver-
bindung zu der Organisation.

Ein detaillierter Bericht des von Ärzten geleiteten Zentrums für Folteropfer
„Stiftung für Menschenrechte“ in Izmir bestätigt, dass Mehmet Desde nach sei-
ner Festnahme mehrere Tage lang körperlich und psychisch gefoltert wurde und
an typischen Beschwerden wie Kopfscherzen, Gastritis, Taubheitsgefühle an
den Extremitäten, Depressionen und Albträumen leidet.

Mehmet Desde und Mehmet Bakir wurden aufgrund der unter Folter von Mit-
angeklagten erpressten Aussagen von einem Staatssicherheitsgericht zu einer
Haft- sowie Geldstrafe verurteilt. Es folgten zwei Neuverhandlungen vor zivilen
Gerichten. Am 25. Dezember 2006 hatte die 9. Kammer des obersten türkischen
Kassationsgerichts die im März 2006 gegen Mehmet Desde und Mehmet Bakir
gefällten Urteile von zweieinhalb Jahren Freiheitsstrafe wegen „Mitgliedschaft
in einer illegalen Organisation“ sowie gegen sechs weitere in der Türkei lebende
türkische Staatsbürger wegen Mitgliedschaft bzw. Unterstützung einer „illega-
len Organisation“ bestätigt und die Verurteilten mussten ihre Reststrafen antre-
ten.

Amnesty International setzte sich für die acht Männer als „gewaltlose politische

Gefangene“ ein, die „in einem unfairen Prozess hauptsächlich auf der Grundlage
von mutmaßlich unter Folter erpressten Aussagen schuldig gesprochen“ wur-
den. Die Menschenrechtsorganisation wertete die Bestätigung der Schuldsprü-
che im Februar 2007 „als ein weiteres Indiz für ein Muster an unfairen Gerichts-
verfahren, das im türkischen Strafrechtssystem nach wie vor zu beobachten ist“
(http://www.amnesty.de/umleitung/2007/eur44/002?lang=de%26mimetype%3D
text%2Fhtml).

Drucksache 16/11694 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Zwischen den Prozessen in erster und zweiter Instanz waren Mehmet Desde und
Mehmet Bakir zwar frei, durften aber die Türkei nicht verlassen und nicht arbei-
ten. Mehmet Desde, der aufgrund des Ausreiseverbots seine Arbeitsstelle und
Wohnung im niederbayrischen Landshut verlor, musste von deutscher Sozial-
hilfe leben. Mehmet Bakir konnte seit mehr als sechs Jahren seine in Berlin le-
bende Frau nicht mehr sehen, da diese aufgrund ihres kurdischen Migra-
tionshintergrundes Repressionen in der Türkei befürchtet. Mehmet Bakirs Ein-
bürgerungsantrag ist aufgrund seiner langen, erzwungenen Abwesenheit aus der
Bundesrepublik Deutschland hinfällig und seine Aufenthaltsgenehmigung mög-
licherweise gefährdet.

Während Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel im Falle des 2007 wegen mut-
maßlichen sexuellen Missbrauchs einer 13-jährigen Britin in Antalya inhaftier-
ten Uelzener Schülers Marco W. bei der türkischen Regierung direkt zugunsten
seiner Freilassung und Heimkehr intervenierte, wurden im Fall des gleichfalls
deutschen Staatsbürgers Mehmet Desde keine solchen Schritte der Bundesregie-
rung bekannt. „Ich bin eben nur ein Papierdeutscher, mein Vorname ist
Mehmet“, beklagt Mehmet Desde (Mehmets Albtraum, Süddeutsche Zeitung
29. Oktober 2008).

Im Dezember 2006 endete ein wegen der Folterung von Mehmet Desde ange-
strengtes Verfahren gegen vier Polizeibeamte mit Freisprüchen aus Mangel an
Beweisen. Am 6. Oktober 2008 wurde Mehmet Desde aus der Haft entlassen
und kehrte in die Bundesrepublik Deutschland zurück, wo er eine Therapie in
einem Behandlungszentrum für Folteropfer macht. Mehmet Bakirs Haftentlas-
sung steht im Mai 2009 an.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wann genau und auf welchem Weg haben das Deutsche Konsulat in Izmir
und die Deutsche Botschaft in Ankara von der Festnahme von Mehmet Desde
und Mehmet Bakir erfahren?

2. Welche konkreten Schritte haben die deutschen diplomatischen Stellen in der
Türkei seit der ersten Benachrichtigung über die Festnahme von Mehmet
Desde und Mehmet Bakir in dieser Angelegenheit unternommen (bitte detail-
liert nach Datum und Maßnahme aufzählen)?

3. Gab es in der Angelegenheit von Mehmet Desde und Mehmet Bakir direkte
Konsultationen zwischen der Bundesregierung und der türkischen Regierung?

a) Wenn ja, wann, zwischen welchen Regierungsstellen genau, mit welchem
Ziel, und welchem Ergebnis?

b) Wenn nein, warum nicht?

c) Warum erfolgte im Falle von Mehmet Desde kein mit dem von Bundes-
kanzlerin Dr. Angela Merkel im Falle des 2007 wegen mutmaßlichen se-
xuellen Missbrauchs in Antalya inhaftierten Marco W. vergleichbarer
öffentlicher Appell an die türkische Regierung, Mehmet Desde und
Mehmet Bakir frei- und zurück in die Bundesrepublik Deutschland reisen
zu lassen?

4. Welche sonstigen Hilfestellungen auch materieller und medizinischer Art
haben deutsche Behörden seit Sommer 2002 zugunsten von Mehmet Desde
und Mehmet Bakir geleistet (bitte detailliert nach Datum und Maßnahme auf-
zählen)?

5. Inwieweit hält die Bundesregierung die von Mehmet Desde geäußerten und
von den Ärzten der „Stiftung für Menschenrechte“ in Izmir bestätigten Fol-

tervorwürfe für zutreffend und glaubwürdig?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/11694

a) Welche konkreten Schritte haben deutsche Behörden unternommen, um
eine Untersuchung der Foltervorwürfe und eine Bestrafung der mutmaß-
lichen Täter herbeizuführen?

b) Welche Ergebnisse erbrachten diese Bemühungen?

6. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung der Menschenrechtsorgani-
sation Amnesty International, Mehmet Desde und seine Mitangeklagten
seien „in einem unfairen Prozess hauptsächlich auf der Grundlage von mut-
maßlich unter Folter erpressten Aussagen schuldig gesprochen“ worden?

a) Wenn ja, warum hat die Bundesregierung dann nicht öffentlich und
energisch auf eine Freilassung eines zu Unrecht in der Türkei festgehal-
tenen deutschen Staatsbürger gedrängt?

b) Wenn nein, warum hält sie die Vorwürfe von Amnesty International für
nicht gerechtfertigt?

7. Worauf führt die Bundesregierung die Tatsache zurück, dass die türkischen
Behörden im Falle des wegen mutmaßlichem sexuellem Missbrauchs ange-
klagten Uelzener Schülers Marco W. auf diplomatischen Druck von deut-
scher Seite – sofern dieser ausgeübt wurde – reagierten, nicht aber im Falle
des deutschen Staatsbürgers Mehmet Desde?

8. Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, dass Mehmet Desde
– und nach seiner Haftentlassung auch Mehmet Bakir – für die durch Folter,
Ausreiseverbot und Haft in der Türkei erlittenen Schäden Entschädigungen
erhalten können?

9. Inwieweit unterstützt die Bundesregierung die Auffassung der Fragesteller,
dass sich die durch türkische staatliche Stellen erzwungene mehr als sechs-
jährige Abwesenheit Mehmet Bakirs aus der Bundesrepublik Deutschland
nach seiner voraussichtlich im Mai 2009 erfolgenden Haftentlassung nicht
negativ auf seinen bereits gestellten Einbürgerungsantrag und seine Aufent-
haltsgenehmigung auswirken darf, wie ist der entsprechende Sach- und
Rechtsstand, und wird die Bundesregierung dementsprechend auf die zu-
ständigen Behörden in der Bundesrepublik Deutschland einwirken?

10. Inwieweit teilt die Bundesregierung die Einschätzung von Amnesty Inter-
national vom Februar 2007, wonach die Bestätigung der Schuldsprüche
gegen Mehmet Desde und seine Mitangeklagten durch das türkische
Kassationsgericht „ein weiteres Indiz für ein Muster an unfairen Gerichts-
verfahren“ ist, „das im türkischen Strafrechtsystem nach wie vor zu be-
obachten“ sei?

Berlin, den 14. Januar 2009

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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