BT-Drucksache 16/1126

Die Beziehungen zwischen EU und Lateinamerika solidarisch gestalten - Kein Freihandelsabkommen EU-Mercosur

Vom 4. April 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/1126
16. Wahlperiode 04. 04. 2006

Antrag
der Abgeordneten Heike Hänsel, Dr. Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke,
Monika Knoche, Ulla Lötzer, Hüseyin-Kenan Aydin, Dr. Hakki Keskin,
Michael Leutert, Dr. Norman Paech, Paul Schäfer (Köln), Dr. Kirsten Tackmann,
Alexander Ulrich und der Fraktion DIE LINKE.

Die Beziehungen zwischen EU und Lateinamerika solidarisch gestalten –
Kein Freihandelsabkommen EU-Mercosur

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Am 12. und 13. Mai 2006 findet in Wien das nunmehr IV. Gipfeltreffen der
Staats- und Regierungschefs Lateinamerikas und der Karibik sowie der Euro-
päischen Union statt. Parallel dazu veranstaltet eine Vielzahl sozialer Bewegun-
gen und politischer Organisationen jetzt bereits den zweiten Alternativengipfel
Lateinamerika/Karibik und Europa aunter dem Motto „Enlazando Alternativas 2“
(Alternativen verknüpfen). Beide Treffen erfordern und ermöglichen in ihrer
Parallelität eine offensive und öffentliche Auseinandersetzung über die Ent-
wicklung beider Regionen und über die künftige Gestaltung ihres Verhältnisses
zueinander. Dazu muss auch das deutsche Parlament einen politischen Beitrag
leisten.

1. Von der Europäischen Kommission und führenden Repräsentanten der Mit-
gliedstaaten der Europäischen Union wird seit 1999 eine „strategische Part-
nerschaft“ zwischen der EU und Lateinamerika angestrebt. Diese soll in
Wien einen entscheidenden Impuls erhalten. Für die Repräsentanten der EU
geht es vor allem um die Verwirklichung eines „interregionalen Assoziie-
rungsabkommens“. Ihre Verhandlungsführung steht in einer Wechselbezie-
hung zu den laufenden WTO-Verhandlungen (WTO: Welthandelsorganisa-
tion). Es werden weitergehende Ergebnisse bezüglich der Liberalisierung des
Handels mit Waren und Dienstleistungen zwischen den Regionen angestrebt
als dies im Rahmen der WTO augenblicklich realisierbar scheint. Den Kern
soll ein Assoziations- und Handelsabkommen zwischen der EU und dem
„Gemeinsamen Markt des Südens“ Mercosur bilden, dem inzwischen neben
Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay auch Venezuela als Vollmit-
glied (noch ohne Stimmrecht) sowie Bolivien, Peru, Ecuador, Kolumbien
und Chile als assoziierte Mitglieder angehören.
2. In Lateinamerika mehren sich indes die Kräfte, die einer solchen strategi-
schen Partnerschaft mit Europa kritisch gegenüberstehen und die in der ange-
strebten Freihandelszone Vorteile vor allem für die Großunternehmen der EU
und weniger für die Menschen in den lateinamerikanischen Ländern sehen.
Die Europäische Union ist zwar nach wie vor wichtigster Wirtschaftspartner
des Mercosur sowie zweitgrößter Handelspartner und Investor in Lateiname-
rika. Seit dem ersten Gipfel EU-Lateinamerika/Karibik im Jahr 1999 haben

Drucksache 16/1126 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

sich aber die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Rahmenbedingungen
in verschiedenen Ländern Lateinamerikas grundlegend verändert.

a) Die 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts waren in Lateinamerika gekenn-
zeichnet durch eine weitgehende Deregulierung der Märkte, eine Privati-
sierungswelle und eine neoliberale Wirtschaftspolitik. Diese Politik
schlug sich nieder im Abschluss mehrerer bilateraler Handelsabkommen,
auch mit der EU, in der Vereinbarung des nordamerikanischen Freihan-
delsabkommens NAFTA und im Beginn der Verhandlungen über eine Ge-
samtamerikanische Freihandelszone (ALCA). Davon versprachen sich die
Beteiligten ein kräftiges Wirtschaftswachstum, das zur Überwindung von
Armut und der stark ausgeprägten sozialen Ungleichheit führen sollte. Das
auf diese Weise erzielte Wirtschaftswachstum war und ist aber unbestän-
dig und stark von äußeren Faktoren abhängig. Es findet eine Konzentra-
tion auf den Export von Rohstoffen und landwirtschaftlichen Produkten
agrarischer Großproduzenten und allenfalls noch Zulieferprodukten statt.
Zur Entwicklung hochwertiger Produktionen kommt es kaum. Die Ver-
schuldung Lateinamerikas stieg in diesem Zeitraum stark an. Besonders
dramatisch war die Entwicklung in Argentinien, die sich mit der Koppe-
lung der eigenen Währung an den US-Dollar zu einer Staatskrise zu-
spitzte.

b) Die radikale Liberalisierung und die zunehmende Verschuldung Latein-
amerikas in den vergangenen 15 Jahren vollzogen sich auf Kosten der
wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung. Die marktradikale Politik
führte in Lateinamerika zu weiter zunehmender ungleicher Verteilung des
wirtschaftlichen Fortschrittes zwischen den gesellschaftlichen Gruppen.
Die Einkommens- und Vermögensverhältnisse wurden nicht angeglichen.
Die Sozialleistungen wurden drastisch gekürzt. Nach den Kriterien der
CEPAL (UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik)
gelten von den 520 Millionen Einwohnern Lateinamerikas über 200 Mil-
lionen als arm, davon knapp 90 Millionen als extrem arm. Jeder fünfte
Einwohner Lateinamerikas hat keinen Zugang zu den Gesundheitsdiens-
ten und weniger als ein Drittel ist sozial abgesichert. Armut, Ausgrenzung,
fehlender Zugang zu den sozialen Basisdiensten und Gesundheitspro-
bleme treffen vor allem strukturell benachteiligte Gruppen der Gesell-
schaft wie Frauen und Jugendliche, insbesondere aber die indigenen und
die Bevölkerungsgruppen afrikanischer Abstammung.

c) Die wirtschaftlichen und sozialen Krisenprozesse führten in Lateiname-
rika zu einschneidenden Veränderungen der politischen Kräfteverhält-
nisse. In der Region wachsen die Kräfte, die neoliberale Politik ablehnen.
In Argentinien, Venezuela, Brasilien und Bolivien kamen neue linke
demokratische Regierungen ins Amt und konnten sich zum Teil gegen un-
demokratische Machenschaften behaupten. Der externe Einfluss auf die
Region wird zunehmend kritisch gesehen. Dies gilt insbesondere für die
Einmischung der USA in die Konflikte in Kolumbien und die damit ver-
bundene Militarisierung der Konflikte, die eine friedliche Lösung und eine
demokratische Entwicklung dieses Landes behindern. Neu an der Ent-
wicklung Lateinamerikas ist auch, dass Kuba seine Isolierung durchbre-
chen konnte. In weiten Teilen der lateinamerikanischen Bevölkerung fin-
den die von kubanischen Kräften geleistete medizinische und technische
Hilfe und die Unterstützung bei der Alphabetisierung besondere Anerken-
nung. Ohne dass auf Kritik an manchen Erscheinungen kubanischer Poli-
tik verzichtet würde, gibt es für eine Blockade- und Sanktionspolitik ge-
gen Kuba dort kein Verständnis mehr.
d) Die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Veränderungen in Latein-
amerika haben dazu beigetragen, dass die Absichten der USA, eine Ge-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/1126

samtamerikanische Freihandelszone (ALCA) zu errichten, zumindest vor-
erst gescheitet sind. Im Zentrum steht heute eine Politik, die den Kampf
gegen Armut und Ungleichheit in ihren Mittelpunkt stellt und dies mit
einer ökonomischen Strategie verbindet, die darauf ausgerichtet ist, wert-
schöpfungsreichere und dynamischere Exportsektoren hervorzubringen
und zugleich Impulse für die Binnenwirtschaftsentwicklung zu geben.
Auch geht es um eine breitere Integration in der Region, wie sie in der
Gründung der Südamerikanischen Staatengemeinschaft im Dezember
2004 zum Ausdruck kam.

3. Die Verhältnisse innerhalb der Europäischen Union haben sich ebenfalls ver-
ändert. Die seit Mitte der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts erfolgende
neoliberale Ausrichtung der EU wird von breiten Teilen der Bevölkerung
nicht mehr ohne weiteres hingenommen. Das zeigt sich an zunehmenden
Arbeitskämpfen in verschiedenen Ländern, am Scheitern des Verfassungs-
vertrags wie am erfolgreichen Widerstand gegen die Liberalisierung der
Hafendienstleistungen. Das wird zudem deutlich am anhaltenden Kampf ge-
gen die Dienstleistungsrichtlinie, der mit dem Kompromiss im Europäischen
Parlament nicht beendet ist. Es wächst auch die Kritik an der Ausrichtung der
auswärtigen Politik der EU auf die Ausbeutung anderer Länder und Regionen
und auf die Beherrschung von Rohstoffvorkommen im Interesse der trans-
national agierenden Großunternehmen. Nicht zuletzt stößt die Militarisierung
der EU auf immer stärkere Ablehnung.

4. Im Vorfeld des Gipfels von Wien lässt die Europäische Kommission und las-
sen relevante Teile des Europäischen Parlaments in der Person des spani-
schen Abgeordneten José Ignacio Salafranca Sánchez-Neyra erkennen, dass
sie trotz der deutlichen Veränderungen in Lateinamerika wie innerhalb der
Bevölkerung der Europäischen Union die alte neoliberale und imperiale
Handels- und Außenpolitik gegenüber Lateinamerika fortsetzen wollen. Von
diesen verfehlten und überholten Leitvorstellungen sind die Mitteilung der
Kommission vom 8. Dezember 2005 an das Europäische Parlament und den
Rat und mehr noch der Entwurf für eine Entschließung des Europäischen
Parlaments vom 18. Januar 2006 geprägt.

a) Die Verhandlungen über ein Assoziations- und Freihandelsabkommen mit
dem Mercosur wurden bereits 1999 – unter der deutschen Präsidentschaft –
initiiert. Zuletzt scheiterten sie auf dem gemeinsamen Gipfel 2004. Den-
noch soll jetzt unter Beibehaltung der eigenen überholten Position der EU
massiver Druck auf die Verhandlungspartner aus Lateinamerika ausgeübt
werden. Konkret bedeutet das, es sollen jetzt völkerrechtlich verbindliche
Verpflichtungen des Mercosur zu weiterer Liberalisierung und Privatisie-
rung durchgesetzt werden, die später auch gegenüber der größeren ge-
samtregionalen südamerikanischen Gemeinschaft Geltung haben.

b) Offenbar wird zudem versucht, die Europäische Sicherheitsstrategie mit
ihrer Vermengung von zivilen und militärischen Maßnahmen auf Latein-
amerika zu übertragen und dadurch weiteren Einfluss zu gewinnen.

c) Aus einer sich als überlegen verstehenden Position zur Demokratie, der es
nicht um die demokratische Einflussnahme und Partizipation der Men-
schen geht, sondern um die Vermittlung von Regierungspolitik an sie, soll
in den Verhandlungen von Wien den Partnern „demokratische Regierbar-
keit“ nahe gebracht werden. Bis ins Einzelne wird ihnen auch vorgeschla-
gen, wie sich ihr Anteil an einer „Transatlantischen Versammlung EU-
Lateinamerika“ zusammensetzen soll, und dass ein bürokratisches ge-
meinsames Sekretariat geschaffen wird.

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II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, darauf hinzu-
wirken, dass

1. die politischen Diskussionen über eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen
der Europäischen Union und den Ländern Lateinamerikas zukünftig offen
und öffentlich stattfinden. Die wechselseitigen Angebote und Forderungen
aus den laufenden Verhandlungen sind offen zu legen und die Verhandlungs-
positionen der EU-Kommission sowie ihre eigene Haltung dazu im Deut-
schen Bundestag in Form einer Regierungserklärung noch vor dem Gipfel in
Wien zur Debatte zu stellen. Die schon in Kraft befindlichen Abkommen mit
Mexiko (1997) und Chile (2002) sind hinsichtlich ihrer schichtspezifischen,
sozialen, ökologischen, menschenrechtlichen, frauenpolitischen und volks-
wirtschaftlichen Wirkungen in den Partnerländern zu evaluieren und die Er-
gebnisse der Evaluation dem Deutschen Bundestag schnellstmöglich zur
Kenntnis zu geben;

2. die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten der EU den gegen-
wärtigen Prozess der regionalen Neuordnung Lateinamerikas respektieren,
der sich in Abwendung von der Schaffung einer Gesamtamerikanischen Frei-
handelszone (ALCA) unter der Leitidee ALBA (Alternativa Bolivariana) als
Südamerikanische Gemeinschaft der Nationen (Südamerikanische Staaten-
gemeinschaft) hin zu einer Südamerikanischen Union (Unasur) vollzieht. Ein
solcher Prozess darf nicht durch eine vorherige völkerrechtliche Festschrei-
bung neoliberaler Strukturen in den Ländern des Mercosur konterkariert
werden. Deshalb ist von einer solchen Regelung im vorbereiteten Handels-
abkommen Abstand zu nehmen. Die jetzigen und zukünftigen autonomen
Entscheidungen Lateinamerikas für seinen eigenen weiteren Integrationspro-
zess sind abzuwarten und zu akzeptieren;

3. darauf verzichtet wird, Lateinamerika scheinparlamentarische Strukturen
und der gemeinsamen Partnerschaft ein Sekretariat als bürokratische Über-
wachungsinstanz überzustülpen. Den fragwürdigen Ansätzen der EU-Kom-
mission und von Teilen des Europäischen Parlaments ist kritisch zu begeg-
nen. Auf dem Gipfel selbst ist jeglichen Bevormundungsversuchen der EU
gegenüber Lateinamerika entgegenzuwirken. Die solidarische Gestaltung der
Beziehungen zwischen der EU und Lateinamerika erfordert die Anwendung
des Prinzips des Multilateralismus in den internationalen Beziehungen;

4. die Verhandlungen der Europäischen Kommission mit einzelnen Staaten und
regionalen Zusammenschlüssen Lateinamerikas in Zukunft von uneinge-
schränktem Respekt vor deren Souveränität und Gleichrangigkeit getragen
sein werden. Das gilt besonders für die Verfügung über die eigenen natür-
lichen Reichtümer und für die souveräne Organisation der Daseinsvorsorge
und der öffentlichen Ausschreibungen in den jeweiligen Staaten. Eine Preis-
gabe dieser auf souveräner Staatlichkeit beruhenden Rechte widerspricht de-
mokratischen Grundsätzen und darf nicht verlangt werden. Auch müssen die
Interessen der einzelnen Unternehmen, und seien es noch so große transna-
tional agierende Konzerne, hinter sozialen, ökologischen und menschrecht-
lichen Standards zurückstehen. Schließlich ist jeglicher Druck von Seiten der
Europäischen Kommission und des Europäischen Parlaments in Richtung auf
einen kurzfristigen Abschluss des Abkommens mit dem Mercosur gegenüber
gleichberechtigten Partnern völlig inakzeptabel. Aus dem gesamten Verhand-
lungspaket sind die Teile aus den Bereichen „Dialog“ und „Kooperation“, die
bereits ausverhandelt sind, herauszunehmen und unabhängig von den ande-
ren Teilen zu vereinbaren und in Kraft zu setzen. Auf den Abschluss eines
Freihandelsabkommens ist zu verzichten;

5. zwischen der Europäischen Union und regionalen Akteuren Lateinamerikas

eine Regelung zum Abbau der internationalen Schulden der lateinamerikani-
schen Staaten in einer Weise stattfindet, dass von ihnen kein Zwang mehr zu

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/1126

einem binnenwirtschaftlich, ökologisch und sozial unverträglichen exzessi-
ven Export ausgeht. Die Bundesregierung ist aufgefordert, im eigenen Ver-
antwortungsbereich, im Rahmen der EU und im Zusammenhang mit anderen
Ländern in diesem Sinne für eine gerechte Lösung der Verschuldensproble-
matik für Lateinamerika und darüber hinaus Sorge zu tragen und sich für
einen kompletten Schuldenerlass für die ärmeren und ein Moratorium für die
wirtschaftlich stärkeren Länder Lateinamerikas einzusetzen;

6. bei den Verhandlungen über die Handelsaspekte eines Abkommens zwischen
der Europäischen Union und dem Mercosur, wenn sie nach dem Gipfel ohne
jeden zeitlichen und politischen Druck fortgeführt werden, sowie bei den ge-
planten Verhandlungen zwischen der EU auf der einen Seite und der Anden-
gemeinschaft, Mittelamerika und den karibischen Staaten auf der anderen
über Assoziierungsabkommen die nachfolgend benannten Aspekte beachtet
werden. Gegenüber der Kommission und auf dem Gipfel wie in den verschie-
denen Ratsformationen ist auf die Umsetzung dieser Forderungen zu drän-
gen:

a) Die Liberalisierung und Privatisierung der Daseinvorsorge, insbesondere
der Wasserversorgung, der Abwasser- und Abfallentsorgung, der Energie-
versorgung und des öffentlichen Transports dürfen nicht verlangt werden.
Stattdessen sind Angebote zur Unterstützung bei einer effizienteren Ge-
staltung dieser Bereiche zu unterbreiten;

b) die Zuständigkeit für Regelungen über den Zugang zu und die Ausübung
von Post-, Telekommunikations- und Finanzdienstleistungen sollte bei
den jeweiligen Ländern bzw. bei den regionalen Gemeinschaften verblei-
ben. Allerdings könnte es beiderseitigen Interessen entsprechen, ein
Gleichbehandlungsgebot im Verhältnis zu Inländern zu regeln, wodurch
bestehende staatliche Monopole jedoch nicht berührt würden;

c) das auf Initiative der EU-Delegation in die Assoziierungsverhandlungen
einbezogene Thema des geistigen Eigentums darf nicht Bestandteil der
Vereinbarung werden. Stattdessen ist das Thema, entsprechend der brasi-
lianisch-argentinischen Initiative, nur im Rahmen eines einzurichtenden
ständigen Patentausschusses bei der WIPO (World Intellectual Property
Organization) zu verhandeln;

d) in den Ländern Lateinamerikas müssen die Möglichkeiten zur Durchfüh-
rung von Maßnahmen der Landreform gewährleistet bleiben. Die EU soll
darauf verzichten, von den Mercosur-Staaten die Streichung des Vor-
behalts zum Schutz der Agrarreform aus dem Investitionsangebot zu for-
dern. Dasselbe gilt für die geplanten Abkommen mit den Anden- und
Karibikstaaten;

e) bei den Verhandlungen über Agrarproduktion und Agrarexporte muss das
Ziel der Ernährungssouveränität Vorrang haben vor einer Überschusspro-
duktion und einer Ausweitung der Exporte. Das erfordert den Abbau von
Subventionen beim Agrarexport auf Seiten der EU. Insoweit sind die Fest-
legungen bei den WTO-Verhandlungen vom 13. bis 18. Dezember 2005 in
Hongkong zu beachten;

f) grundsätzlich ist dafür Sorge zu tragen, dass die regionale Versorgung
durch kleine und mittlere Unternehmen und deren wirtschaftliche Exis-
tenz durch großvolumige Importe nicht gefährdet werden. Im Gegenteil
muss gestattet werden, dass diese Bereiche durch Importzölle und interne
Stützungsmaßnahmen stabilisiert werden. Das gilt besonders für die klein-
bäuerliche Produktion von Milch und Milchprodukten im Bereich des
Mercosur;

Drucksache 16/1126 – 6 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

g) auch im Bereich des Produzierenden Gewerbes muss die Möglichkeit er-
halten oder geschaffen werden, neue Produktionszweige aufzubauen bzw.
im Aufbau befindliche – erforderlichenfalls auch mittels Einfuhrbeschrän-
kungen – abzusichern und damit die binnenwirtschaftliche Erschließung
in Lateinamerika zu stützen;

h) in den Verhandlungen mit den karibischen AKP-Staaten (Cariforum)
(AKP: Afrika, Karibik und Pazifik) über sog. Wirtschaftspartnerschaftsab-
kommen im Rahmen des Cotonou-Prozesses soll die EU darauf verzich-
ten, Druck auf die karibischen Partner auszuüben, ihre Märkte noch weiter
für Waren und Güter aus der EU zu öffnen;

i) der Anbau der traditionellen Nutzpflanze Koka und ihre herkömmliche
Nutzung dürfen nicht behindert werden. Bemühungen, alternative An-
wendungen in der Pharma- und Lebensmittelindustrie zu etablieren, sollen
unterstützt werden. Die Illegalisierung des Anbaus und Handels von
Kokablättern ist aufzuheben, damit der Export von z. B. Kokatee ermög-
licht wird. Zusätzlich soll der Anbau alternativer Produkte zu erzeugerge-
rechten Preisen zur Existenzsicherung gestützt werden. Die Illegalität der
Verarbeitung und Verbreitung der Droge Kokain ist hiervon nicht berührt;

j) es muss insgesamt gewährleistet werden, dass im Kontext der Assoziie-
rungsverhandlungen die ILO-Kernarbeitsnormen (ILO: Internationale Ar-
beitsorganisation) ungeschmälert Berücksichtigung finden. Vor dem Hin-
tergrund bisheriger Erfahrungen in der exportorientierten Produktion ist
besonders auf die Einhaltung der Vereinigungsfreiheit und auf die Besei-
tigung der geschlechtsbezogenen Diskriminierung zu achten. Das Gleiche
gilt für die ILO-Konvention über indigene und in Stämmen lebende Völker;

7. vertragliche Vereinbarungen über eine verstärkte Entwicklungszusammen-
arbeit mit den einzelnen lateinamerikanischen Staaten, insbesondere mit den
Ländern der Karibik, getroffen werden. Die EU-Mitgliedstaaten und ins-
besondere die Bundesregierung sind aufgefordert, die finanziellen Mittel für
die entsprechenden Ausgaben zu erhöhen, damit bilateral und im Rahmen der
Entwicklungszusammenarbeit der EU die Unterstützung für Lateinamerika
und die Karibik verstärkt werden kann. Qualitativ fordert der Deutsche Bun-
destag eine weitgehende Neuausrichtung der Entwicklungszusammenarbeit:

a) In Abkehrung von den alten Leitbildern der 90er Jahre muss in der Ent-
wicklungszusammenarbeit die Stärkung der Handlungsfähigkeit der staat-
lichen Verwaltungen zum wichtigen Entwicklungsziel werden, müssen in
diesem Sinne die Verwaltungen der lateinamerikanischen Staaten darin
unterstützt werden, Leistungen der Daseinsvorsorge in eigener Verantwor-
tung effizienter zu erbringen. Die Privatisierung von Vorsorgeunterneh-
men darf nicht länger gefördert werden. Die Beteiligung privater Unter-
nehmen im Rahmen der Öffentlich-Privaten Partnerschaft ist sorgfältig
auf einen wirksamen Beitrag zu nachhaltiger Entwicklung zu überprüfen
und gegebenenfalls einzustellen;

b) programme und Projekte zur Armutsbekämpfung, zur Förderung von Bil-
dung und zur Verbesserung des Gesundheitswesens müssen darauf ausge-
richtet werden, strukturell benachteiligte Gruppen in die Lage zu verset-
zen, ihre Interessen zu artikulieren und durchzusetzen. Dabei sollen
bestehende Strukturen der Selbstorganisation gestärkt werden. Die Betrof-
fenen müssen in allen Phasen der Umsetzung Entscheidungsbefugnisse
und Mitwirkungsrechte haben. Besondere Aufmerksamkeit verdienen in
diesem Zusammenhang die sog. Misiones (Gemeindeprogramme zur
medizinischen Versorgung, Alphabetisierung u. a.) in Venezuela als Modell
für dezentrale, partizipative Entwicklungsarbeit;

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 7 – Drucksache 16/1126

c) maßgeblich muss ein neues ökologisches Leitbild in die Entwicklungs-
zusammenarbeit mit Lateinamerika Eingang finden, das die sozialen und
wirtschaftlichen Ursachen von Rodung und anderen Umweltbelastungen
berücksichtigt. In diesem Sinne sind Wiederaufforstungsprogramme mit
Angeboten für alternative Einkommensquellen für die Bewohner und
Nutzer der Primärwälder zu verbinden. Gefordert ist auch eine neue Aus-
richtung der Energiegewinnung und -nutzung. In der Umstellung auf
regenerative Energien können Europa und Lateinamerika eine nachhaltige
Zusammenarbeit entwickeln, die beiden Partnern hilft, ökologische und
soziale Probleme zu überwinden;

d) die Entwicklungszusammenarbeit der EU mit Lateinamerika muss da-
rauf ausgerichtet sein, diskriminierungsfreie Zugänge zu Bildung und zu
einer effektiven flächendeckenden Gesundheitsvorsorge herzustellen. Im
Sinne der Armutsbekämpfung sind außerdem Schritte zu einer Landre-
form zu befördern, um die weithin bestehenden sozialen Probleme der
Landlosigkeit einzudämmen, bäuerliche Landwirtschaft und kleinräu-
mige Versorgungskreisläufe zu stützen. Insoweit muss die Sozialbindung
des Eigentums Vorrang vor einer bindungslosen Nutzung durch Groß-
grundbesitzer haben;

8. die fragwürdige „Europäische Sicherheitspartnerschaft“ von der Agenda
der Verhandlungen in Wien abgesetzt, stattdessen in den Verhandlungen
großes Gewicht darauf gelegt wird, wie friedliche Konfliktlösungsmöglich-
keiten befördert und Ansätze zu militärischer Intervention zurückgedrängt
werden können. Als Beitrag zu einer Friedenslösung in Kolumbien muss die
EU ihre Unterstützung für den „Plan Colombia“ aufgeben. Nicht die USA,
sondern die subregionalen Organisationen sowie die Vereinten Nationen
müssen bei der Lösung der Konflikte eine wesentliche Rolle spielen. Auch
deshalb erwartet der Deutsche Bundestag neue Vorschläge zur Stärkung der
Vereinten Nationen und für mehr Einfluss der Länder des Südens, auch
Lateinamerikas, in ihnen. Entsprechend diesen Erwartungen ist ein Beitrag
zu den Verhandlungen in Wien zu leisten;

9. Initiativen zur atomaren Abrüstung in Europa, zum Abbau der europäischen
Rüstungsexporte nach Lateinamerika und für eine atomwaffenfreie Zone in
Lateinamerika ergriffen werden;

10. staatliche Souveränität und demokratische Willensbildung wichtige Prin-
zipien im Rahmen der Gespräche über eine Partnerschaft zwischen
Lateinamerika und der Europäischen Union werden und eine deutliche Dis-
tanzierung von Versuchen erfolgt, demokratisch gewählte Regierungen mit
Gewalt zu stürzen oder solche Umsturzversuche von innen oder außen zu
unterstützen, wie es bei dem Militärputsch gegen den Präsidenten von Ve-
nezuela, Hugo Chavez, geschah. Der Gipfel soll dazu eine entsprechende
unmissverständliche Erklärung abgeben. Des Weiteren ist jeglicher Form
von Boykott und Blockade in den Beziehungen zu Lateinamerika, auch zu
Kuba, eine deutlich formulierte Absage zu erteilen;

11. darauf verzichtet wird, anderen die eigenen Vorstellungen von einer demo-
kratischen Staats- und Gesellschaftsordnung aufzudrängen. Stattdessen sind
die neuen Ansätze partizipativer Demokratie – wie sie in Venezuela in der
Verfassung niedergelegt sind und gegenwärtig in Bolivien unter Einbezie-
hung indigener Organisationsformen und in den brasilianischen Beteili-
gungshaushalten entwickelt und praktiziert werden – zu akzeptieren. Eine
Diskussion darüber, welche Anregungen aus den lateinamerikanischen Ini-
tiativen für unser Land genutzt werden können, soll initiiert werden.

Drucksache 16/1126 – 8 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
III. Der Deutsche Bundestag nimmt den Gipfel von Wien zum Anlass, an die
Bundesregierung, die politischen Parteien und gesellschaftlichen Organisa-
tionen zu appellieren, stärker als bisher Verhandlungen über Außen- und
Außenhandelspolitik mit ihren gesellschaftlichen Auswirkungen zum Ge-
genstand breiter offener und öffentlicher Diskussion zu machen. In diesem
Sinne begrüßt er auch ausdrücklich die Initiierung und Durchführung des
Alternativengipfels.

Berlin, den 4. April 2006

Heike Hänsel
Dr. Jörg Dehm
Wolfgang Gehrcke
Monika Knoche
Ulla Lötzer
Hüseyin-Kenan Aydin
Dr. Hakki Keskin
Michael Leutert
Dr. Norman Paech
Paul Schäfer (Köln)
Dr. Kirsten Tackmann
Alexander Ulrich
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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