BT-Drucksache 16/11247

Keine NATO-Erweiterung - Sicherheit und Stabilität mit und nicht gegen Russland

Vom 3. Dezember 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/11247
16. Wahlperiode 03. 12. 2008

Antrag
der Abgeordneten Paul Schäfer (Köln), Wolfgang Gehrcke, Monika Knoche,
Hüseyin-Kenan Aydin, Dr. Diether Dehm, Heike Hänsel, Inge Höger, Dr. Hakki
Keskin, Michael Leutert, Dr. Norman Paech, Alexander Ulrich und der Fraktion
DIE LINKE.

Keine NATO-Erweiterung – Sicherheit und Stabilität mit und nicht gegen
Russland

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, die Aufnahme
Georgiens und der Ukraine in den NATO Membership Action Plan abzulehnen.

Berlin, den 3. Dezember 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Begründung

1. Die Anträge der Ukraine und Georgiens auf dem Bukarester NATO-Gipfel
(NATO: North Atlantic Treaty Organization) im April 2008 in den Member-
ship Action Plan (MAP) aufgenommen zu werden, wurden angesichts inter-
ner Differenzen in der NATO zu dieser Frage abgelehnt. Um die Differenzen
zwischen den USA, die auf eine Aufnahme drängen, und einigen europäi-
schen Staaten, die der Aufnahme eher kritisch gegenüberstehen, zu überwin-
den, wurde ein für die USA vorteilhafter und weitreichender Kompromiss in
der Gipfelerklärung festgehalten, der den europäischen Bedenken kaum noch
Handlungsspielräume eröffnet: Die Entscheidung legt fest, sich den Aufnah-
mebegehren der beiden Länder auf dem anstehenden NATO-Außenminister-
treffen im Dezember dieses Jahres erneut anzunehmen. Darüber hinaus
wurde in der Bukarester Abschlusserklärung explizit festgehalten, dass der
„MAP der nächste Schritt der Ukraine und Georgiens“ auf ihrem „direkten
Weg“ in die NATO-Mitgliedschaft sei. Diese explizite Nennung der künfti-
gen NATO-Mitgliedschaft erübrigte sich im Grunde, da der ausschließliche

Sinn und Zweck des MAP die Heranführung an die NATO-Standards und der
erste Schritt zur Aufnahme in das Bündnis ist. Dass sie dennoch erfolgt, ist
bezeichnend für den massiven Druck der USA auf die seinerzeit zunächst
noch zögerlichen europäischen Verbündeten, dem Expansions- und Eskala-
tionskurs gegen Russland zu folgen.

2. Eine Aufnahme Georgiens und der Ukraine bedeutete keinen Sicherheits-
und Stabilitätszugewinn für Europa – im Gegenteil: Beide Staaten würden

Drucksache 16/11247 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
die Faktoren ihrer inneren Instabilitäten in die NATO hineintragen, was
negative Konsequenzen für die europäische Sicherheit und Stabilität zur
Folge hätte.

Die Bevölkerung der Ukraine, die in erheblichem Maße russischsprachig ist,
äußert sich mehrheitlich gegen eine NATO-Mitgliedschaft. Die permanente
innenpolitische Krise der Ukraine ist zum Teil auf den heftigen Konflikt zwi-
schen NATO-Beitrittsbefürwortern und -befürworterinnen sowie -Beitritts-
gegnern und -gegnerinnen zurückzuführen. Dieser Konflikt hat die Qualität,
die Ukraine einer staatlich-territorialen Zerreißprobe auszusetzen, da Befür-
worter und Befürworterinnen sowie Gegner und Gegnerinnen sich ziemlich
exakt entlang der Trennlinie zwischen der West- und der Ostukraine ein-
schließlich der Krim verteilen.

Der georgisch-russische Krieg hat die Unwägbarkeiten einer georgischen
NATO-Mitgliedschaft eindrücklich unter Beweis gestellt. Wäre Georgien zu
diesem Zeitpunkt NATO-Mitglied gewesen, hätte der regionale Krieg eine
nicht mehr zu kontrollierende Eigendynamik entfalten können. Die Bevölke-
rung Deutschlands scheint sich der Gefahr einer weiteren NATO-Osterweite-
rung, nämlich der Vertiefung der Trennlinie zu Russland, bewusst zu sein.
Laut einer Umfrage der forsa Gesellschaft für Sozialforschung und statisti-
sche Analysen mbH sprechen sich 68 Prozent der Bürger Deutschlands gegen
eine NATO-Mitgliedschaft Georgiens aus. Die russische Regierung geht von
einer wachsenden Unsicherheit und Instabilität aus, wenn Russland weiter
von der NATO militärisch eingekreist wird.

3. Die US-Regierung versprach der damaligen Sowjetunion 1989 im Kontext
der Beendigung des Kalten Krieges und der Herbeiführung der deutsch-deut-
schen Einheit, die NATO nicht um osteuropäische Staaten zu erweitern.
Diese vertrauensbildende Maßnahme Washingtons ist durch die Charta von
Paris, in der eine europäische Friedensordnung auf partnerschaftlicher
Grundlage beschlossen wurde, bekräftigt worden und beförderte sodann die
friedliche Entwicklung in Europa zu Beginn der 1990er Jahre. Die Entschei-
dung über eine zweite Erweiterungsrunde der NATO in den postsowjetischen
Raum und somit abermals direkt an die Grenzen der Russischen Föderation
bedeutet nicht die Schaffung von kooperativer Sicherheit mit, sondern von
konfrontativer Sicherheit gegen Russland. Das Argument, die osteuropäi-
schen Staaten seien souverän und könnten dementsprechend frei entscheiden,
ob sie der NATO beitreten oder nicht – Russland dürfe hierbei „kein Veto-
recht“ haben –, suggeriert einen nicht vorhandenen Beitrittsautomatismus
und dokumentiert den Unwillen der politischen Eliten einiger NATO-Staaten,
das überkommene Blockdenken abzulegen und der historischen Chance ei-
nes kooperativen Sicherheitsverständnisses Raum zu geben. Das gilt auch
deshalb, weil Russland nicht das Recht eingeräumt wurde, Mitglied der
NATO zu werden. Mit diesem, dem Blockdenken immer noch verhafteten
aggressiven Sicherheitsverständnis provoziert die NATO ohne Not eine
weitere Verhärtung der Konfliktlinien mit Russland, was zumindest nicht im
europäischen Interesse ist.

Sicherheits- und Stabilitätstransfer für Europa auf Kosten Russlands ist nicht
nur nicht wünschenswert, er ist gegen Russland auch nicht möglich. Viel-
mehr birgt dieses konfrontative und anachronistische Sicherheitsverständnis
die konkrete Gefahr eines neuen Rüstungswettlaufs. Sollen Sicherheit und
Stabilität hingegen nicht bloß eine verkappte imperiale Machtprojektion sein,
gilt es, die Grundlagen eines kooperativen sicherheits- und friedenspoliti-
schen Konzepts zu diskutieren und zu beschreiten. Die Grundlagen koopera-
tiver europäischer Sicherheits- und Friedenspolitik müssen von den europäi-
schen Staaten bestimmt werden.

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