BT-Drucksache 16/11019

Stahlwerkbau von ThyssenKrupp AG in Brasilien

Vom 24. November 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/11019
16. Wahlperiode 24. 11. 2008

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Heike Hänsel, Hüseyin-Kenan Aydin, Monika Knoche, Sevim
Dag˘delen, Inge Höger, Dr. Norman Paech, Paul Schäfer (Köln), Alexander Ulrich
und der Fraktion DIE LINKE.

Stahlwerkbau von ThyssenKrupp AG in Brasilien

Im Mai 2008 trat im Rahmen des anlässlich des EU-Lateinamerika-Gipfels in
Lima/Peru abgehaltenen Alternativgipfels der sozialen Bewegungen („Enla-
zando Alternativas“) das „Tribunal der Völker“ zusammen. Das Tribunal unter-
suchte soziale, menschenrechtliche und ökologische Verwerfungen, die aus den
unternehmerischen Tätigkeiten europäischer Konzerne in Lateinamerika resul-
tieren. Unter den angeklagten Konzernen befand sich, neben weiteren deutschen
Unternehmen, die ThyssenKrupp AG.

Die ThyssenKrupp AG ist zu 90 Prozent an dem Konsortium Atlantic Steel Com-
pany beteiligt. Gewerkschaften, Menschenrechts- und Umweltgruppen werfen
der Atlantic Steel Company vor, bei der Errichtung eines Stahlwerks in der
Bucht von Sepetiba im brasilianischen Bundesstaat Rio de Janeiro schwere Um-
weltschäden zu verursachen und die lokalen Fischerfamilien um ihre Existenz-
grundlagen zu bringen.

Angelockt durch großzügige Steuerbefreiungen und die finanzielle Unterstüt-
zung durch die brasilianische Entwicklungsbank BNDES (Banco Nacional de
Desenvolvimento Econômico e Social), tätigt die ThyssenKrupp AG in der
Bucht von Sepetiba eine der umfangreichsten deutschen Investitionen in Brasi-
lien überhaupt. Die immensen sozialen und ökologischen Kosten des Projektes
tragen die Menschen vor Ort. Durch die Aushebung von mit Schwermetallen be-
lastetem Schlamm wurden die Fischgründe von ca. 8 000 Fischerfamilien kon-
taminiert bzw. durch Ablagerungen versperrt. Darüber hinaus werden durch den
Bau des Stahlwerks und die damit im Zusammenhang stehenden Infrastruktur-
projekte die Mangrovenwälder und weitere Teile des Ökosystems der Bucht
nachhaltig beschädigt. Betroffenengruppen haben zwei Zivilklagen gegen die
Atlantic Steel Company angestrengt und fordern Entschädigung in Höhe von
insgesamt 300 Mio. R-Dollar (ca. 100 Mio. Euro). Außerdem verlangen sie eine
Überprüfung des behördlichen Verfahrens, das zur Vergabe einer Umweltlizenz
für das Bauvorhaben geführt hat.

Nach Ansicht von Menschenrechtsorganisationen ergibt sich aus dem Interna-

tionalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (WSK-Pakt)
eine Schutzpflicht Deutschlands gegenüber der durch die Unternehmenstätig-
keit eines deutschen Unternehmens beeinträchtigten lokalen Bevölkerung (nach
Artikel 2.1 des WSK-Paktes), in diesem Falle gegenüber den Fischerfamilien
und anderen Betroffenen an der Bucht von Sepetiba.

Seit April 2008 liegt der Entwurf eines Zusatzprotokolls zum WSK-Pakt vor.
Dieser ermöglicht ein Beschwerdeverfahren, so dass Personen einen Sachver-

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halt vor dem Ausschuss über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte der
Vereinten Nationen prüfen lassen können. Aktuell berät die UN-General-
versammlung über die Freigabe des Zusatzprotokolls als menschenrechtlichen
Vertrag zur Ratifikation. Bereits jetzt steht mit den „OECD-Leitlinien für multi-
nationale Unternehmen“ ein Instrument zur Verfügung, um Verstößen von
Unternehmen gegen Menschenrechte und international vereinbarte soziale und
ökologische Standards nachzugehen.

Die Fraktion DIE LINKE. fragte die Bundesregierung im Juni 2008 in einer
Kleinen Anfrage (Bundestagsdrucksache 16/9589), ob ihr die gegen die
ThyssenKrupp AG gerichteten Vorwürfe bekannt seien und ob sie gedenke,
diese zu prüfen. Die Bundesregierung antwortete (Bundestagsdrucksache
16/9921), ihr seien die Anschuldigungen bekannt und sie werde „den Vorwürfen
unter Einschaltung der deutschen Auslandsvertretungen, der betroffenen Unter-
nehmen und anderer geeigneter Informationsquellen nachgehen und die Zusam-
menhänge eingehend überprüfen.“

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Auf welche Informationsquellen hat die Bundesregierung bzw. haben die
deutschen Auslandsvertretungen im Rahmen der in der Antwort auf die
Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. (Bundestagsdrucksache 16/9921)
angekündigten eingehenden Prüfung zugegriffen?

2. Hat die Bundesregierung über die deutschen Auslandsvertretungen in dieser
Angelegenheit Kontakt zu den Fischerfamilien, Einwohnervereinen, Ge-
werkschaften, Menschenrechts- und Umweltgruppen vor Ort aufgenommen?

3. Falls ja, zu welchen Gruppen wurde Kontakt aufgenommen?

Wie ist diese Kontaktaufnahme erfolgt?

4. Falls nein, warum ist keine Kontaktaufnahme erfolgt bzw. hat die Bundesre-
gierung vor, zu den Fischerfamilien, Einwohnervereinen, Gewerkschaften,
Menschenrechts- und Umweltgruppen Kontakt aufzunehmen (bitte
begründen)?

5. Welches Bild konnte sich die Bundesregierung von der sozialen und öko-
nomischen Situation der betroffenen Fischerfamilien an der Bucht von
Sepetiba machen?

In welcher Weise wurde diese nach den Erkenntnissen der Bundesregierung
durch den Bau des Stahlwerks verändert?

6. Welche Erkenntnisse über die Wirkung des Projektes auf den lokalen
Arbeitsmarkt liegen der Bundesregierung vor?

7. Ist der Bundesregierung bekannt, dass die brasilianischen Behörden bereits
zweimal die Baustelle vorübergehend schließen ließen, weil die Atlantic
Steel Company die vorgeschriebenen Sicherheitsstandards für die Arbeitneh-
mer nicht einhielt bzw. weil dort chinesische Arbeiter ohne Papiere
arbeiteten, und wie bewertet die Bundesregierung diesen Vorgang?

8. Zu welchen Einschätzungen ist die Bundesregierung hinsichtlich der Auswir-
kungen des Stahlwerkbaus auf das Ökosystem der betroffenen Region ge-
kommen?

9. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung bezüglich der Auswirkungen der
von Umweltgruppen kritisierten Versenkung von kontaminiertem Aushub in
der Bucht?

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10. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung von den Umständen, unter
denen die Baustelle im Dezember 2007 von der brasilianischen Umwelt-
agentur IBAMA (Instituto Brasileiro do Meio Ambiente e dos Recursos
Naturais Renováveis) aufgrund mangelhafter Genehmigungsverfahren
gesperrt wurde?

11. Ist die Bundesregierung auf Hinweise darauf gestoßen, dass die betroffenen
Familien und Aktivistinnen und Aktivisten, die ihre Belange vertreten,
Repressalien durch private Sicherheitsdienste ausgesetzt sind?

12. In welcher Weise hat die Bundesregierung bzw. haben ihre Vertreterinnen
und Vertreter vor Ort gegenüber der Konzernleitung der Atlantic Steel
Company bzw. gegenüber der ThyssenKrupp AG die von Fischerfamilien,
Einwohnervereinen, Gewerkschaften, Menschenrechts- und Umweltgrup-
pen kritisierten Missstände angesprochen und welche Antwort haben sie er-
halten?

13. Wie beurteilt die Bundesregierung vor dem Hintergrund ihrer eigenen Er-
kenntnisse die Anklageschrift gegen die ThyssenKrupp AG, die auf dem
„Tribunal der Völker“ in Lima behandelt wurde und in der es heißt: „The
facilities of German corporation Thyssen Krupp have led to the environ-
mental destruction of Sepetiba bay in Brazil, causing serious impacts on
craft fishery as a result of the spill on mirror-still water“?

14. Ist die Bundesregierung der Meinung, dass sie eine politische Verantwor-
tung trägt für die Sozial- und Umweltverträglichkeit großer deutscher In-
vestitionsprojekte im Ausland (bitte begründen)?

15. Welche Möglichkeiten hat die Bundesregierung, auch im Rahmen von
Investitionsvorhaben deutscher Unternehmen, die sie weder durch Export-
garantien noch durch Investitionsgarantien unterstützt, auf die Einhaltung
ökologischer, sozialer und entwicklungspolitischer Standards wie etwa der
„OECD-Leitlinien für multinationale Unternehmen“ zu drängen?

16. Welcher Handlungsbedarf im Hinblick auf die „OECD-Leitlinien“ ergibt
sich für die Bundesregierung im Ergebnis ihrer Prüfung der Implikationen
der Tätigkeit der ThyssenKrupp AG an der Bucht von Sepetiba?

17. In welcher Weise will die Bundesregierung gegenüber der ThyssenKrupp AG
gegebenenfalls die Einhaltung der Standards der „OECD-Leitlinien“ ein-
fordern?

18. Wie will die Bundesregierung ihren menschenrechtlichen Verpflichtungen
nach Artikel 2.1. des WSK-Paktes im Falle der Auseinandersetzung um den
Stahlwerkbau an der Bucht von Sepetiba nachkommen?

19. Teilt die Bundesregierung die Meinung, dass sich für sie aus dem WSK-
Pakt eine Schutzpflicht gegenüber den von der Investitionstätigkeit der
ThyssenKrupp AG Betroffenen an der Bucht von Sepetiba ergibt (bitte be-
gründen)?

20. Falls ja, mit welchem Instrument plant die Bundesregierung, ihre
Schutzpflicht gegenüber den durch die Unternehmenstätigkeit der
ThyssenKrupp AG beeinträchtigten Familien an der Bucht von Sepetiba
einzuhalten?

Berlin, den 21. November 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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