BT-Drucksache 16/10637

Aktuelle Situation irakischer Flüchtlinge

Vom 15. Oktober 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/10637
16. Wahlperiode 15. 10. 2008

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Elke Hoff, Hartfrid Wolff (Rems-Murr), Dr. Werner Hoyer, Jens
Ackermann, Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, Uwe Barth, Rainer Brüderle,
Angelika Brunkhorst, Ernst Burgbacher, Jörg van Essen, Otto Fricke, Dr. Edmund
Peter Geisen, Hans-Michael Goldmann, Miriam Gruß, Dr. Christel Happach-Kasan,
Heinz-Peter Haustein, Birgit Homburger, Dr. Heinrich L. Kolb, Gudrun Kopp,
Jürgen Koppelin, Heinz Lanfermann, Sibylle Laurischk, Harald Leibrecht,
Ina Lenke, Michael Link (Heilbronn), Markus Löning, Horst Meierhofer, Patrick
Meinhardt, Jan Mücke, Burkhardt Müller-Sönksen, Dirk Niebel, Hans-Joachim
Otto (Frankfurt), Detlef Parr, Cornelia Pieper, Gisela Piltz, Frank Schäffler,
Dr. Konrad Schily, Marina Schuster, Dr. Rainer Stinner, Carl-Ludwig Thiele,
Florian Toncar, Christoph Waitz, Dr. Claudia Winterstein, Dr. Volker Wissing,
Dr. Guido Westerwelle und der Fraktion der FDP

Aktuelle Situation irakischer Flüchtlinge

Die humanitäre Situation im Irak ist weiterhin überaus kritisch. Aufgrund des
hohen, teils religiös-ideologisch motivierten Gewaltniveaus im Irak sind viele
Angehörige von Minderheiten auf der Flucht. Sowohl die ca. 2,4 Millionen
Binnenvertriebenen als auch die knapp 2 Millionen irakischen Flüchtlinge in
Syrien und Jordanien leben unter schwierigsten Bedingungen. Für Syrien
(1,4 Millionen Flüchtlinge) und Jordanien (ca. 500 000 Flüchtlinge) ist die Be-
lastung für die Infrastruktur, das Gesundheits- und Bildungssystem erheblich.
Die aufnehmenden Länder sind nicht mehr in der Lage, diese Herausforderung
alleine zu tragen und benötigen dringend internationale Hilfe. Irakische Flücht-
linge dürfen in den aufnehmenden Ländern nicht arbeiten und sind deshalb auf
ihre Ersparnisse oder fremde Hilfe angewiesen. Vielen Flüchtlingen bleibt oft
nur der Weg in die Illegalität und die Prostitution. Aufgrund dieser Situation
strengte die Bundesregierung im Frühjahr 2008 eine Initiative zur Aufnahme
verfolgter irakischer Minderheiten auf EU-Ebene an. Diese Initiative beruhte
auf der Einsicht, dass die Bundesrepublik Deutschland und die EU mehr iraki-
sche Flüchtlinge ungeachtet ihrer religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit,
sondern orientiert an der Schwere der individuellen Bedrohung aufnehmen
sollte. Zunehmend scheint sich in der Bundesregierung aufgrund der Beurtei-
lung des Bundeskanzleramtes die Auffassung zu verfestigen, dass weniger

Flüchtlinge in Europa aufzunehmen seien als vor wenigen Monaten vermutet
wurde, weil sich die Lage im Irak verbessert habe und die meisten Flüchtlinge,
die sich in den Nachbarländern aufhalten, in den Irak zurückkehren würden
(Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. September 2008). Diese Einschät-
zung beruht scheinbar auf der Wahrnehmung, dass es den irakischen Flücht-
lingen in Syrien und Jordanien vergleichsweise gut gehe. Diese steht im ekla-
tanten Widerspruch zur Beurteilung der Lage von Mitgliedern des Deutschen

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Bundestages und hochrangigen Kirchenvertretern, die sich wiederholt ein Bild
von der Situation vor Ort machen konnten.

Aufgrund der neuen Einschätzung der Bundesregierung vertagten die EU-In-
nenminister am 25. September 2008 in Brüssel erneut die Entscheidung über
eine gemeinsame europäische Aktion zur Aufnahme von irakischen Flüchtlin-
gen, die seit Frühjahr 2008 durch die deutsche Bundesregierung betrieben wird.
Die EU-Kommission möchte nun zunächst eine gemeinsame Mission mit dem
VN-Flüchtlingskommissariat zur Lagebeurteilung in die Region entsenden, an
der sich auch die EU-Mitgliedstaaten beteiligen können. Sie soll Personen iden-
tifizieren, die für eine Aufnahme in Frage kommen. Eine solche Mission war
ursprünglich bereits im Juli 2008 verabschiedet worden, ist aber mangels Einig-
keit innerhalb der EU bisher nicht zustande gekommen. Einzelne Bundesländer
haben der Bundesregierung bereits signalisiert, dass sie nicht mehr bereit seien,
eine Einigung innerhalb der EU abzuwarten und auch ohne eine solche bereit
seien, irakische Flüchtlinge aufzunehmen.

Obwohl die irakische Regierung Flüchtlinge immer wieder ermuntert, in ihre
Heimat zurückzukehren, zögern die meisten von ihnen nach VN-Angaben noch
mit diesem Schritt. So seien etwa am Grenzübergang Al Tanf im August 2008
mehr Iraker nach Syrien ein- statt ausgereist. Eine Rückkehr von Flüchtlingen
findet in erheblichem Umfang nur in den wenigen stabilen Regionen des Irak
statt. Zu diesen zählt der kurdisch geprägte Norden des Landes, insbesondere
die Provinzen Dohuk, Erbil und Suleimanja. So ist die Stadt Erbil aufgrund der
Rückkehr von Flüchtlingen, aber auch des Zuzugs von Irakern aus anderen we-
niger stabilen Landesteilen in den letzten Jahren von ehemals 700 000 Einwoh-
nern inzwischen auf 1,2 Millionen Einwohner angewachsen. Mit etwa 150 000
irakischen Kurden verfügt die Bundesrepublik Deutschland über die größte
Diaspora außerhalb des Irak. Viele der in der Bundesrepublik Deutschland,
Österreich und der Schweiz lebenden Kurden kehren derzeit in die Region
zurück, um beim Wiederaufbau ihrer Heimat mitzuwirken. Sowohl die Rück-
kehrbereitschaft von im Ausland lebenden Irakern als auch der Zuzug von Bin-
nenflüchtlingen erfordern Verbesserungen der Infrastruktur in den stabileren
Regionen. Insbesondere Angebote in den Bereichen der Grund- und Berufsbil-
dung sowie im Gesundheitssystem sind notwendig. Viele Kinder von zurück-
kehrenden Flüchtlingen sind in einem deutschsprachigen Umfeld aufgewachsen.
Daher besteht ein großer Bedarf zur Gründung einer deutschen Schule in Erbil.
Allein in Erbil sind derzeit mehr als 100 deutschsprachige Kinder auf verschie-
dene Schulen verteilt.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie schätzt die Bundesregierung die Lage der irakischen Binnenflüchtlinge
ein?

2. Wie beurteilt die Bundesregierung die Lage der irakischen Flüchtlinge in
Syrien und Jordanien?

3. Welche neuen Erkenntnisse über die Situation der Flüchtlinge konnte die
Reise nach Syrien und Jordanien vom 7. bis 10. Oktober 2008 vom Staats-
minister im Auswärtigen Amt, Günter Gloser, zur Lageeinschätzung beitra-
gen?

4. Teilt die Bundesregierung insgesamt die Auffassung des Bundeskanzleram-
tes, dass weniger Flüchtlinge in Europa aufzunehmen seien als ursprünglich
geplant, weil sich die Lage im Irak verbessert habe und die meisten Flücht-
linge in den Irak zurückkehren würden?

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5. Wie beurteilt die Bundesregierung die Divergenz zwischen der Auffassung
des Bundeskanzleramtes und den vom UNHCR (United Nations High
Commissioner for Refugees) belegten niedrigen Rückkehrerzahlen?

6. Wie erklärt sich die Bundesregierung die unterschiedliche Einschätzung
der Lage in Syrien und Jordanien seitens hochrangiger Kirchenvertreter
und Mitgliedern des Deutschen Bundestages, die sich ein Bild vor Ort
machen konnten?

7. Wie soll die humanitäre Situation der Flüchtlinge in Syrien und Jordanien
verbessert werden?

8. Hat der in Sharm el Sheikh begonnenen Nachbarstaatenprozess zu einer
Verbesserung der Situation der Flüchtlinge geführt?

9. Welche konkreten Ergebnisse hat der in Sharm el Sheikh begonnene Nach-
barstaatenprozess erreicht?

10. Plant die Bundesregierung sich stärker als bisher für die Verbesserung der
Lebenssituation der irakischen Flüchtlinge in Syrien und dem Irak einzu-
setzen?

Wenn ja, mit welchen Mitteln?

11. Anhand welcher Kriterien soll die gemeinsame Mission des VN-Flücht-
lingskommissariats und der EU-Kommission Personen identifizieren, die
für eine Aufnahme in der EU in Frage kommen?

12. Plant die Bundesregierung die im Frühjahr 2008 begonnene Initiative zur
Aufnahme verfolgter irakischer Minderheiten auf EU-Ebene weiter zu ver-
folgen?

Wenn ja, wann rechnet die Bundesregierung mit der Aufnahme der ersten
irakischen Flüchtlinge auf Grundlage einer Beschlussfassung der EU- Innen-
minister?

13. Wie beurteilt die Bundesregierung die Bereitschaft einzelner Bundesländer,
irakische Flüchtlinge auch ohne eine Einigung innerhalb der EU aufzuneh-
men?

14. In welchen Provinzen des Irak ist nach Einschätzung der Bundesregierung
eine Rückkehr von Flüchtlingen in nennenswerter Größenordnung derzeit
möglich?

15. Mit welchen Mitteln plant die Bundesregierung und die EU die stabilen
Provinzen im Irak bei der Errichtung von Infrastruktur zu unterstützen, die
für die Aufnahme von zurückkehrenden Flüchtlingen aus dem Ausland und
den Zuzug von Binnenflüchtlingen notwendig sind?

16. Unterstützt die Bundesregierung die Eröffnung einer deutschen Schule in
Erbil?

Wenn ja, mit welchen Mitteln, und bis wann soll das Projekt umgesetzt
werden?

17. Plant die Bundesregierung über die Eröffnung des Generalkonsulats Erbil
hinaus weitere diplomatische Vertretungen zu eröffnen?

Berlin, den 15. Oktober 2008

Dr. Guido Westerwelle und Fraktion

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