BT-Drucksache 16/1063

Den Europäischen Bildungsraum weiter gestalten - Transparenz und Durchlässigkeit durch einen Europäischen Qualifikationsrahmen stärken

Vom 28. März 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/1063
16. Wahlperiode 28. 03. 2006

Antrag
der Abgeordneten Priska Hinz (Herborn), Grietje Bettin, Ekin Deligöz, Kai Boris
Gehring, Katrin Göring-Eckardt, Britta Haßelmann, Krista Sager, Kerstin Andreae,
Dr. Thea Dückert, Irmingard Schewe-Gerigk, Rainder Steenblock, Brigitte Pothmer
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Den Europäischen Bildungsraum weiter gestalten – Transparenz und
Durchlässigkeit durch einen Europäischen Qualifikationsrahmen stärken

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Mit der Einführung eines Europäischen Qualifikationsrahmens (EQR) wird es in
Zukunft möglich, Qualifikationen europaweit vergleichbar zu machen. Zugleich
bietet dieser Rahmen die Gelegenheit, das deutsche Berufsbildungssystem zu
straffen, sich überschneidende Ausbildungsgänge zu reformieren und die An-
schlussfähigkeit unterschiedlicher Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung
zu verbessern.

Bedauerlicherweise fehlt in Deutschland bisher eine öffentliche Debatte zum
EQR, obwohl er viele Menschen in ihrem Bildungs- und Berufsleben betreffen
wird. Deswegen muss sich der Deutsche Bundestag intensiver mit dem EQR be-
schäftigen und in diesen Prozess auch die Sozialpartner, die Bundesländer und
alle anderen Beteiligten einbeziehen.

Seit mehr als 30 Jahren arbeiten die Mitgliedstaaten der Europäischen Union im
Bereich der Bildung zusammen. Wichtigstes Ziel dabei war stets, die allgemeine
und berufliche Bildung durch Kooperationsanreize, die Unterstützung trans-
nationaler Projekte und die Förderung der Mobilität zu verbessern.

Denn auf dem Weg zu einem vereinten Europa ist Mobilität ein zentrales Ele-
ment. Ziele der europäischen Gemeinschaft wie die Freizügigkeit von Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmern, die Schaffung eines europäischen Bildungs-
raumes oder die Umsetzung von Konzepten für lebenslanges Lernen können nur
durch Mobilität und Durchlässigkeit in Bildung und Beruf erreicht werden. Da-
für sind offene Zu- und Übergänge im Bildungssystem und die Förderung von
Kompetenzerwerb notwendig. Ohne die gegenseitige Anerkennung von Quali-
fikationen kann dies aber nicht gelingen.

Bisherige europaweite Anerkennungsverfahren oder -richtlinien stellten vor

allem auf die Ausbildungsdauer, einen bestimmten Bildungsbereich und die Art
des Nachweises ab, das heißt auf Input-Kategorien. Diese Ausrichtung ist auf-
grund der unterschiedlichen Ausbildungswege in den europäischen Ländern
nicht sinnvoll. Stattdessen muss sich die gegenseitige Anerkennung an Lern-
ergebnissen (Outcome) orientieren und auch informelles Lernen in den zu
bewertenden Kompetenzerwerb einschließen.

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Dabei fehlt bisher ein gemeinsamer Bezugsrahmen für die Inhalte der indivi-
duellen Qualifikationen. Diesen Bezugsrahmen kann der EQR schaffen. Sein
Wert liegt darin, dass er die Idee des lebenslangen Lernens und der Gleichwer-
tigkeit der akademischen und beruflichen Bildung unterstützt und fördert, indem
er eine Stufung und Bewertung für Lernprozesse ermöglicht, die so abstrakt,
aber auch so offen ist, dass sie über bisherige formale Abschlüsse hinausreicht.
Der EQR kann als Transparenz-, Vergleichs- und Übersetzungsinstrument für
das Niveau von Qualifikationen verstanden werden. Er bildet sozusagen eine
Brücke, die die Zuordnung von Bildungsabschlüssen zu europäischen Niveau-
stufen ermöglichen wird. Dabei soll der EQR gestaltungsoffen sein und Anpas-
sungsdruck auf die unterschiedlichen Bildungssysteme vermeiden.

Zur praktischen Anwendung des EQR ist es zusätzlich notwendig, einen Natio-
nalen Qualifikationsrahmen (NQR) zu schaffen, der alle Bereiche des Bildungs-
wesens umfasst und sich an denselben Kriterien wie der EQR orientieren muss.

Bei der Gestaltung und Bewertung sowohl des EQR als auch des NQR müssen
die Potenziale im Mittelpunkt stehen. Der EQR soll die von der EU angestrebte
Mobilität fördern – sowohl im Bildungswesen als auch auf dem Arbeitsmarkt.
EQR und NQR sollen außerdem zu einer erhöhten Transparenz von Qualifika-
tionen in Europa bzw. in Deutschland beitragen und die Durchlässigkeit
zwischen und innerhalb der nationalen Bildungssysteme sowie zwischen Hoch-
schule und beruflicher Bildung verbessern. Durch die „Europäisierung“ des
EQR können außerdem gezielt Sprachkenntnisse sowie kulturelle und soziale
Kompetenz in der beruflichen Bildung aufgewertet werden.

Im Januar 2005 wurde bereits der EUROPASS eingeführt. Er führt alle europä-
ischen Dokumente, durch die die Transparenz von Qualifikationen erhöht wer-
den soll, zusammen. Er ermöglicht jeder und jedem Einzelnen, die eigenen Ler-
nergebnisse z. B bei Bildungseinrichtungen und Arbeitgebern einfach, klar und
flexibel zu präsentieren. Im Hochschulbereich war aufgrund der homogeneren
Strukturen ein schnelleres Voranschreiten möglich. Innerhalb des so genannten
Bologna-Prozesses wurde seit 1999 ein europäisches Leistungspunktesystem
(European Credit Transfer System – ECTS) entwickelt und ein gemeinsamer
Rahmen für Qualifikationen – Bachelor, Master und Doktorat – verabredet.

Für den Bereich der beruflichen Bildung wurde angelehnt an diese Vorgehens-
weise ebenfalls die Entwicklung eines Leistungspunktesystems für die berufli-
che Bildung beschlossen (European Credit Transfer System for Vocational Edu-
cation and Training – ECVET). Dieses sollte als wichtiger Grundstock für die
Entwicklung des EQR genutzt werden. Im Laufe des Jahres 2005 wurden die
beiden Entwicklungen allerdings voneinander abgekoppelt. Momentan befindet
sich das ECVET-System in einer eigenständigen Testphase, die im Laufe des
Jahres 2006 abgeschlossen und evaluiert werden soll. Daraufhin ist dann eine
Überarbeitung vorgesehen und die Verknüpfung mit dem EQR geplant.

Die Entwicklung von der Industrie- hin zur Wissensgesellschaft verlangt eine
Modernisierung des Lernens. Es wird immer wichtiger, das Lernen zu lernen
und das eigene Wissen und Können zu aktualisieren. Dementsprechend ist auch
das deutsche Bildungs- und Berufsbildungssystem in der zurückliegenden
Dekade schon verändert worden:

● In dem durch die von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
gebildete frühere Bundesregierung reformierten Berufsbildungsgesetz ist zur
Vermeidung von „Warteschleifen“ die Anrechnung von vollschulisch und an-
derweitig erworbenen Kompetenzen auf eine duale Qualifikation vorgese-
hen. Auch die Erweiterung einer dualen Ausbildung durch Zusatzqualifikati-
onen wurde im Gesetz verankert, und somit vertikale und horizontale Über-
gänge zwischen Qualifikationen zu Verbindungen von Aus- und Weiterbil-

dung angeregt.

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● Bei neuen Ausbildungsordnungen wurden schon seit Mitte der 90er Jahre of-
fene Strukturmodelle geschaffen, die den Übergang zwischen Qualifikatio-
nen erleichtern. So umspannt z. B. das IT-Weiterbildungssystem alle Qualifi-
kationsebenen. Es ermöglicht in einem sich besonders schnell entwickelnden
Bereich den Zugang zu formalen Qualifikationen über Berufserfahrung und
die Anrechnung beruflicher auf akademische Qualifikationen.

EQR und NQR müssen lernende Systeme sein, die auch angesichts der über die
EU hinausreichenden Teilnehmerstaaten gewährleisten, dass Erfahrungen und
Erkenntnisse umgehend in eine Weiterentwicklung des Qualifikationsrahmens
münden. Dafür muss sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene eine
Evaluierung gewährleistet werden. Der EU-weite Konsultationsprozess als Teil
des Erarbeitungsverfahrens wurde Anfang 2006 abgeschlossen. Von Seiten der
Bundesregierung ging in diesen Prozess eine erste, leider nur sehr kurze Stel-
lungnahme ein. Der politische Prozess zur Gestaltung und Einführung des EQR
geht jedoch weiter.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

nach einem Beratungsprozess mit dem Deutschen Bundestag baldmöglichst eine
zweite, differenziertere Stellungnahme nachzureichen, die die bisherigen Stel-
lungnahmen der Sozialpartner und Verbände berücksichtigt.

Zum EQR fordert der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auf, sich stärker
als bisher am politischen Gestaltungsprozess zu beteiligen und den Deutschen
Bundestag bei der Entwicklung von EQR und NQR kontinuierlich in Beratung
und Beschlussfassung einzubeziehen. Außerdem soll sich die Bundesregierung
im weiteren Umsetzungsprozess dafür einsetzen, dass folgende Bedingungen
berücksichtigt werden:

● Der EQR muss zur Qualitätssicherung und -entwicklung in der beruflichen
Qualifizierung beitragen und genutzt werden. Durch den EQR müssen die
Strukturen beruflicher Qualifizierung transparenter, durchlässiger und offe-
ner gemacht werden.

● Der EQR muss ausdrücklich einen Rahmen für das lebenslange Lernen
schaffen.

● Der EQR muss die unbürokratische, betriebsunabhängige Zertifizierung von
Qualifikationen ermöglichen, um die Mobilität und Beschäftigungsfähigkeit
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu verbessern.

● Die Unterschiedlichkeit der nationalen Ausbildungssysteme muss möglich
bleiben. Für Deutschland heißt dies insbesondere, dass die Ganzheitlichkeit
der Ausbildung gesichert werden muss.

● Bei der konkreten Ausgestaltung des EQR ist darauf zu achten, dass er sich
durchgehend an Lernergebnissen orientiert und auch beschäftigungsnahe
Qualifizierungsprozesse ausreichend anerkannt werden.

● Bei der Einstufung von Qualifikationen in den NQR und EQR ist darauf zu
achten, dass die Kompetenzstufen so aussagekräftig gefasst werden, dass
Kompetenzen aller Art passgenau eingeordnet werden können. Dazu müssen
die Niveaustufen aussagekräftiger als im bisherigen Entwurf der Kommis-
sion formuliert werden.

● Um die Gleichwertigkeit beruflicher und akademischer Bildung tatsächlich
zu erreichen, müssen alle Niveaustufen über verschiedene Bildungswege er-
reichbar sein. Zur Erreichung der höchsten Niveaustufe sollte Berufserfah-
rung verpflichtend vorausgesetzt werden, um dem Anspruch des lebens-

langen Lernens besser gerecht zu werden. Eine Erreichbarkeit der obersten

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Qualifizierungsebene allein durch akademische Abschlüsse wäre hier kontra-
produktiv.

● Der EQR muss das Ziel der Durchlässigkeit der Systeme und der Mobilität
tatsächlich erreichen. Dabei sollte darauf geachtet werden, dass dies nicht nur
für Lernende, sondern auch für Lehrende gilt.

● Darüber hinaus ist die Zusammenarbeit der Sozialpartner in der beruflichen
Bildung auch bei der Entwicklung, Erprobung, Evaluation und Anwendung
des EQR zu sichern.

● Die Anschlussfähigkeit des Systems muss gewährleistet sein, d. h. das Zu-
sammenwirken mit anderen Instrumenten muss dringend verbessert werden:

– Zwischen den EUROPASS-Dokumenten und den Referenzniveaus des
EQR sollten klare Verbindungen hergestellt werden. Weitere Entwicklun-
gen des EUROPASSES sollten die Umsetzung des EQR berücksichtigen.

– Die weiteren Beratungen zum EQR müssen wieder mit der Entwicklung
des Leistungspunktesystems ECVET verknüpft werden. Gleichzeitig
muss die Vereinbarkeit von ECVET mit dem ECTS gesichert werden.

– Aus den Systemen ECVET und ECTS ist ein Leistungspunktesystem für
das lebenslange Lernen insgesamt anzustreben.

● Der EQR muss als lernendes System verstanden und entsprechend konzipiert
und eingeführt werden. Das bedeutet kontinuierliche Evaluierung und jeder-
zeitige Möglichkeit zur Modifizierung. Eine intensive, mehrjährige Erpro-
bungsphase ist unerlässlich.

Bezüglich der Entwicklung eines NQR fordert der Deutsche Bundestag die
Bundesregierung auf, folgende Grundsätze zu beachten:

● Der NQR muss zur Qualitätsentwicklung und -sicherung in der beruflichen
Bildung sowie zur Förderung des lebenslangen Lernens beitragen und ge-
nutzt werden.

● Der NQR muss die unbürokratische, betriebsunabhängige Zertifizierung von
Qualifikationen ermöglichen, um die Mobilität und Beschäftigungsfähigkeit
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu verbessern.

● Die Entwicklung eines NQR muss sich direkt an die Erstellung des EQR an-
schließen.

● Der Prozess der Kompetenzbewertung muss so organisiert sein, dass alle
Unternehmen, unabhängig von ihrer Größe und Rechtsform, Anreize haben,
sich daran zu beteiligen.

● Die durch die Reform des Berufsbildungsgesetzes erfolgten Modernisie-
rungsschritte müssen bei der Erstellung des NQR berücksichtigt werden.

● Um die Durchlässigkeit zwischen den Systemen der beruflichen und akade-
mischen Bildung zu erhöhen, muss die Bundesregierung ein System zur An-
rechnung beruflicher Qualifikationen auf die Hochschulausbildung unterstüt-
zen.

● Während des Verfahrens zur Entwicklung des NQR ist der Deutsche Bundes-
tag kontinuierlich in die Diskussion und Beschlussfassungen miteinzube-
ziehen.

● Bei der Entwicklung des NQR ist die enge Einbindung der Sozial- und Wirt-

schaftspartner sowie der Bundesländer zu gewährleisten.

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● Darüber hinaus ist er in das föderale Bildungssystem einzupassen.

● Die Entwicklung und Einführung des NQR muss mit kontinuierlicher Evalu-
ierung und Rückkopplung geschehen.

Berlin, den 28. März 2006

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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