BT-Drucksache 16/10614

Angemessene Haftentschädigung für Justizopfer sicherstellen

Vom 15. Oktober 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/10614
16. Wahlperiode 15. 10. 2008

Antrag
der Abgeordneten Jörg van Essen, Mechthild Dyckmans, Jens Ackermann,
Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, Uwe Barth, Rainer Brüderle, Angelika
Brunkhorst, Ernst Burgbacher, Patrick Döring, Ulrike Flach, Paul K. Friedhoff,
Horst Friedrich (Bayreuth), Dr. Edmund Peter Geisen, Hans-Michael Goldmann,
Miriam Gruß, Joachim Günther (Plauen), Dr. Christel Happach-Kasan, Heinz-Peter
Haustein, Elke Hoff, Birgit Homburger, Dr. Werner Hoyer, Hellmut Königshaus,
Dr. Heinrich L. Kolb, Gudrun Kopp, Jürgen Koppelin, Heinz Lanfermann, Sibylle
Laurischk, Harald Leibrecht, Michael Link (Heilbronn), Markus Löning, Horst
Meierhofer, Patrick Meinhardt, Jan Mücke, Burkhardt Müller-Sönksen, Dirk Niebel,
Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Detlef Parr, Cornelia Pieper, Frank Schäffler,
Marina Schuster, Carl-Ludwig Thiele, Florian Toncar, Christoph Waitz, Dr. Claudia
Winterstein, Dr. Volker Wissing, Hartfrid Wolff (Rems-Murr), Dr. Guido Westerwelle
und der Fraktion der FDP

Angemessene Haftentschädigung für Justizopfer sicherstellen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Das Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen (StrEG)
aus dem Jahr 1971 begründet eine staatliche Verpflichtung zur Leistung von
Schadenersatz im Bereich der Strafrechtspflege. § 7 Abs. 1 StrEG sieht einen
Anspruch auf Entschädigung des durch die Strafverfolgungsmaßnahme ver-
ursachten Vermögensschaden vor. Im Falle der Freiheitsentziehung auf Grund
gerichtlicher Entscheidung besteht ein Anspruch auf einen Ausgleich von Schä-
den, die keine Vermögensschäden sind. Danach ist wegen des Entzugs der per-
sönlichen Freiheit eine Entschädigung für die durch die Inhaftierung erlittene
Beeinträchtigung zu leisten. Voraussetzung ist nach § 2 Abs. 1 StrEG, dass der
Beschuldigte freigesprochen oder das Verfahren gegen ihn eingestellt wird oder
das Gericht die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen ihn ablehnt. Das Bun-
desverfassungsgericht hat wiederholt die lange Dauer der Untersuchungshaft
gerügt. Eine Verlängerung der Untersuchungshaft kann nach Auffassung des
Gerichts eine Verletzung der Freiheitsrechte des Beschuldigten in Verbindung
mit seinem Anspruch auf ein faires Verfahren begründen (2 BvR 489/07;
2 BvR 2652/07).
Die Entschädigung folgt auch dem Prinzip der Unschuldsvermutung. Die
Unschuldsvermutung ist eine Ausprägung des grundgesetzlichen Rechtsstaats-
prinzips. Danach gilt jeder als unschuldig, bis seine Schuld in einem gesetzlich
geregelten fairen Verfahren erwiesen wurde. Verankert ist die Unschuldsver-
mutung auch in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Gemäß
Artikel 6 Abs. 2 EMRK gilt jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, bis zum
gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig. Der Europäische Gerichtshof

Drucksache 16/10614 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
für Menschenrechte vertritt zwar die Auffassung, dass der Konvention kein
Recht auf Entschädigung nach einer Einstellung eines Strafverfahrens oder des-
sen Beendigung durch einen Freispruch zu entnehmen sei. Andererseits hat der
Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ausgeführt, dass für den Fall der
Einräumung solcher Ansprüche die Anforderungen der Unschuldsvermutung
nach Artikel 6 Abs. 2 EMRK besonders zu beachten sind.

Eine Inhaftierung hat regelmäßig einen Ansehensverlust und weitere persönliche
und berufliche Nachteile zur Folge. Gerade der immaterielle Schaden ist oftmals
immens. Für Menschen, die in Deutschland zu Unrecht einen Freiheitsentzug er-
litten haben, muss es daher auch eine menschenwürdige Entschädigung geben.
Der Anspruch auf Entschädigung wegen des Vollzugs der Untersuchungshaft
oder einer anderen Strafverfolgungsmaßnahme muss für den Betroffenen einen
gerechten Ausgleich für den durch die Freiheitsentziehung entstandenen Scha-
den darstellen. Die Entschädigung muss nach ihrer Struktur und Höhe ein an-
gemessenes Äquivalent für die auszugleichenden Schäden ergeben. Der An-
spruch auf eine angemessene Entschädigung für erlittenes Unrecht ist auch eine
Maßnahme zum Opferschutz. Opferhilfe und Opferschutz sind auch eine hoheit-
liche Aufgabe, die sich aus dem Sozialstaatsprinzip in Verbindung mit Artikel 1
Abs. 1 des Grundgesetzes ergibt. Dieser Fürsorgegrundsatz für das Opfer muss
unabhängig von Sparzwängen gelten. In einem Rechtsstaat darf es keinen Opfer-
schutz nach Kassenlage geben.

Die geltende Regelung, wonach gemäß § 7 Abs. 3 StrEG für Schäden, die nicht
Vermögensschäden sind, die Entschädigung 11 Euro für jeden angefangene Tag
der Freiheitsentziehung beträgt, ist nicht geeignet, das erfahrene Unrecht an-
gemessen auszugleichen. Seit 20 Jahren ist dieser Betrag nahezu unverändert ge-
blieben. Hier bedarf es einer Erhöhung, um die Rechtsposition des Geschädigten
zu verbessern. Zu überlegen ist, von den Pauschalsätzen künftig abzusehen, wie
dies in Österreich geregelt ist. § 5 Abs. 2 des österreichischen StrEG sieht vor,
dass bei der Beurteilung der Angemessenheit die Dauer der Anhaltung sowie die
persönlichen Verhältnisse der geschädigten Person und deren Änderung durch
die Festnahme oder Anhaltung zu berücksichtigen sind. Nur so kann letztlich
den konkreten Umständen des Einzelfalls verlässlich Rechnung getragen wer-
den. Üblicherweise kann in Österreich eine Entschädigung in Höhe von
100 Euro pro Hafttag geltend gemacht werden.

Die Bundesregierung hat eine Umfrage bei den Ländern über die Notwendigkeit
einer Erhöhung der Haftentschädigung gestartet. Dabei zeigt sich, dass einige
Länder einer Erhöhung offen gegenüberstehen, während andere Länder mit Hin-
weis auf ihre angespannte Haushaltsituation eher zurückhaltend reagieren. Die
Bundesregierung hat sich noch nicht entschieden, ob sie die Gesetzesinitiative
zur Erhöhung der Haftentschädigung ergreift.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. mit den Ländern eine schnelle Verständigung über eine Reform des Gesetzes
über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen zu suchen;

2. einen Gesetzentwurf zur Reform des Gesetzes über die Entschädigung für
Strafverfolgungsmaßnahmen vorzulegen, der eine Erhöhung des Anspruchs
auf Entschädigung für zu Unrecht erlittene freiheitsentziehende Maßnahmen
vorsieht, die tatsächlich geeignet ist, das im konkreten Einzelfalls erlittene
Unrecht angemessen auszugleichen.

Berlin, den 14. Oktober 2008

Dr. Guido Westerwelle und Fraktion

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