BT-Drucksache 16/10312

Politische Bildung zur Bekämpfung von Rechts- und Linksextremismus effektiver fördern und nutzen

Vom 23. September 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/10312
16. Wahlperiode 23. 09. 2008

Antrag
der Abgeordneten Christian Ahrendt, Christoph Waitz, Miriam Gruß,
Patrick Meinhardt, Uwe Barth, Cornelia Pieper, Dr. Max Stadler, Gisela Piltz,
Hartfrid Wolff (Rems-Murr), Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, Rainer Brüderle,
Angelika Brunkhorst, Ernst Burgbacher, Patrick Döring, Jörg van Essen,
Ulrike Flach, Dr. Edmund Peter Geisen, Joachim Günther (Plauen),
Dr. Christel Happach-Kasan, Heinz-Peter Haustein, Elke Hoff, Birgit Homburger,
Dr. Werner Hoyer, Hellmut Königshaus, Dr. Heinrich L. Kolb, Gudrun Kopp,
Jürgen Koppelin, Heinz Lanfermann, Harald Leibrecht, Markus Löning,
Horst Meierhofer, Jan Mücke, Burkhardt Müller-Sönksen, Dirk Niebel,
Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Detlef Parr, Jörg Rohde, Frank Schäffler,
Marina Schuster, Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Rainer Stinner, Carl-Ludwig Thiele,
Dr. Claudia Winterstein, Dr. Volker Wissing, Dr. Guido Westerwelle
und der Fraktion der FDP

Politische Bildung zur Bekämpfung von Rechts- und Linksextremismus effektiver
fördern und nutzen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die vertiefte Behandlung der Themen „NS-Terrorherrschaft“ und „SED-Dikta-
tur“ im Rahmen der politischen Bildung in und außerhalb der Schule ist zur
effektiven Bekämpfung des rechts- und linksextremen Gedankengutes unerläss-
lich.

Diejenigen Menschen, die Perspektiven auf eine Erhöhung ihres Lebens-
standards nicht erkennen und für diesen Umstand die Demokratie verantwort-
lich machen, müssen verstehen, dass totalitäre Systeme keine Alternative
darstellen. Alleinige Geschichtsvermittlung reicht daher nicht aus. Daneben
müssen auch Fächer wie Politik oder Sozialkunde Jugendlichen die Elemente
des demokratischen Systems und ihre einmalige Bedeutung für Grundfreiheiten,
die freie Selbstbestimmung und Willensbildung sowie -betätigung vermitteln.

In letzter Zeit wurde vermehrt darüber berichtet, dass gerade Schülerinnen und
Schüler nur über rudimentäre Kenntnisse in diesen Themenbereichen verfügten.
Gleichzeitig sind sie aber diejenigen, auf die rechts- und linksextreme Propa-
ganda aufgrund des Alters die stärkste Wirkung hat. Aufklärende Bildung ist
daher dringend notwendig. Lehrpläne, -materialien und -methoden müssen auf
ihre Wirksamkeit hin evaluiert und entsprechend angepasst werden. Die Zusam-
menarbeit mit Fachleuten, insbesondere mit den Mitarbeitern von Gedenkstätten
und Historikern, ist dabei unerlässlich.

Drucksache 16/10312 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Rechtsextreme Gruppen – seien es Parteien, Vereine oder die so genannten
Freien Kräfte – boykottieren das Gedenken an den Holocaust, relativieren oder
leugnen gar die Verbrechen der Nationalsozialisten.

Die Reaktions- und Handlungsmöglichkeiten von Politik, Medien und Gesell-
schaft sind zwar vielfältig, jedoch in großen Teilen in Bezug auf ihre Effektivität
nicht unumstritten.

Über eines herrscht Einigkeit: Es gelingt nur selten, fanatische Holocaust-
Leugner von ihrem Irrglauben abzubringen. Man muss zum Zeitpunkt ansetzen,
wo Aufklärung und Wissensvermittlung noch Früchte tragen können. Politische
Bildung ist also die Antwort, die in Schulen und Jugendeinrichtungen in Form
von gezielter Aufklärung verstärkt gefördert werden muss.

Das Unrecht, das den Menschen millionenfach in der Zeit des Nationalsozia-
lismus angetan wurde, kann an vielen Orten nachempfunden werden. Die oft erst
vor Ort geweckten Emotionen fördern die Auseinandersetzung mit diesem
Thema, so dass junge Menschen die Geschehnisse während der Diktaturherr-
schaft mit dem erforderlichen Blick wahrnehmen.

Das direkte Gespräch mit verbliebenen Zeitzeugen, die noch über eigene Erfah-
rungen und Erlebnisse berichten können, ist ebenso eindrücklich. Filme und
Fernsehserien, die von der Unterhaltungsindustrie produziert werden, vermögen
zumeist nicht in gleichem Maße zu vermitteln, wie sich die NS-Terrorherrschaft
und der Holocaust ausgewirkt haben.

Die SED-Diktatur und seine Opfer sind unter Jugendlichen in Deutschland oft
ganz unbekannt. Dies belegen zahlreiche Studien. So auch die Studie des
Forschungsverbundes SED-Staat der Freien Universität in Berlin, die herausge-
funden hat, dass knapp 70 Prozent der Schüler die DDR kaum oder überhaupt
nicht im Unterricht behandelt haben. Zudem sei eine Verharmlosung des DDR-
Regimes oder gar eine positive Darstellung zu beobachten.

Die Folge davon ist, dass das Urteilsvermögen vieler Jugendlicher hinsichtlich
der deutschen Vergangenheit entsprechend gering ist. Nur so erklärt sich, dass
die Hälfte der Jugendlichen im Osten und ein Drittel der westdeutschen Jugend-
lichen in der DDR keine Diktatur sehen.

Die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der DDR-Diktatur hat ebenfalls eine
Analyse „Zum Stellenwert des Themas DDR-Geschichte in den Lehrplänen der
deutschen Bundesländer“ durchgeführt. Diese offenbart unter anderem, dass das
Gesellschafts- und Machtsystem unter der SED nur in wenigen Fällen eine rela-
tiv geschlossene Darstellung erfahren hat. Von Repressionen in der DDR erfah-
ren die Schüler nur wenig, weil die Lehrplananlagen diese Fragen nicht thema-
tisieren. Weitere Themen wie Gesellschaftsgeschichte oder Widerstand und
Opposition werden allenfalls kurz umrissen.

Diese Verblassung der konkreten Erinnerung, Nostalgie oder Verdrängung wer-
den auch von linksextremen Gruppierungen genutzt, um Jugendliche entspre-
chend zu beeinflussen. Daher muss diesem Verlauf dringend Einhalt geboten
werden.

Ein unerlässlicher Grundpfeiler eines Bildungskonzepts gegen den Extremis-
mus ist auch die ökonomische Bildung. Ängste vor der beruflichen Zukunft und
Probleme der Globalisierung führen zu Unsicherheiten, die sowohl rechts- als
auch linksextreme Gruppen nutzen. Hier ist es dringend geboten, in der Schule
bereits vertieft ökonomische Zusammenhänge und deren Auswirkungen zu
behandeln, um ein kritisches Bewusstsein zu fördern.

Auch sollten Partizipationsvorhaben für Schülerinnen und Schüler unterstützt
werden, so dass diese Demokratie nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch
erlernen können.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/10312

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. im Rahmen der Kultusministerkonferenz darauf hinzuwirken, dass die In-
halte der Lehrpläne aller Schulen in regelmäßigen Abständen bezüglich der
Vermittlung der Themen „Nationalsozialismus“ und „SED-Diktatur“ bewer-
tet und gegebenenfalls angepasst werden;

2. im Rahmen der Kultusministerkonferenz darauf hinzuwirken, dass der be-
sonderen Bedeutung des demokratischen Systems in Abgrenzung zu totali-
tären Systemen Rechnung getragen wird, indem dieses Thema als Pflichtteil
in die Lehrpläne aller Schulen aufgenommen wird;

3. im Rahmen der Kultusministerkonferenz darauf hinzuwirken, dass der
Besuch von Gedenkstätten, der persönliche Austausch mit Zeitzeugen bzw.
Geschichtsexperten oder Aussteigern der jeweiligen extremistischen Szene
verstärkt werden;

4. im Rahmen der Kultusministerkonferenz darauf hinzuwirken, dass neben der
Umgestaltung der Lehrpläne auch deren Umsetzung eine besondere Gewich-
tung dahingehend erhält, dass Lernstandarderhebungen durchgeführt wer-
den, bei denen die Schüler aufzeigen sollen, dass sie Wissen nicht nur repro-
duzieren, sondern auch anwenden können;

5. im Rahmen der Kultusministerkonferenz darauf hinzuwirken, dass der öko-
nomischen Bildung innerhalb der Lehrpläne größerer Raum gegeben wird;

6. im Rahmen der Kultusministerkonferenz darauf hinzuwirken, dass Partizipa-
tionsvorhaben unterstützt werden;

7. im Rahmen der Bildungsforschung Untersuchungen oder Studien zu Lehrer-
und Schülereinstellungen in Auftrag zu geben, um auf diese Weise wissen-
schaftlich fundierte Anhaltspunkte für eine verbesserte Bekämpfung von
politischem Extremismus zu erhalten;

8. Stiftungen sowie Organisationen, die eine effektive Aufklärung über die
Folgen des Nationalsozialismus und/oder der SED-Diktatur bzw. Forschung
betreiben, nachhaltig zu unterstützen und zu fördern;

9. Stiftungen, Forschungseinrichtungen bzw. Organisationen nachhaltig zu
fördern, die die Berichte der Überlebenden der NS-Terrorherrschaft bzw. der
Opfer der SED-Diktatur erfassen und dokumentieren.

Berlin, den 23. September 2008

Dr. Guido Westerwelle und Fraktion

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