BT-Drucksache 16/10308

zur Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister der Finanzen zur Lage der Finanzmärkte

Vom 23. September 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/10308
16. Wahlperiode 23. 09. 2008

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Werner Dreibus, Ulla Lötzer,
Ulrich Maurer und der Fraktion DIE LINKE.

zur Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister der Finanzen
zur Lage der Finanzmärkte

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die im Sommer von den USA ausgegangene weltweite Finanzkrise nimmt
immer dramatischere Züge an. Nach Auffassung namhafter Finanzmarktexper-
ten sind wir Zeitzeuge der schwersten Finanzkrise seit der Großen Depression.

Der Krisenverlauf sieht aus wie das Spiel mit Dominosteinen: Zuerst sind es not-
leidende Hauskredite, dann säumige Auto- und Kreditkartenkredite, dann der
Interbankenzahlungsverkehr, der komplett zum Erliegen kommt, dann trifft es
die Kreditversicherer (sog. Monoliner), es folgt der Zusammenbruch der 6 Bio.
US-Dollar schweren Hypothekenvermittler Fannie Mae und Freddy Mac, zu-
letzt kommt es zum massenhaften Abzug von Anlegergeldern aus Geldmarkt-
fonds. Eine Feuerwehraktion der Notenbanken jagt die nächste: Zinssenkungen,
Liquiditätsspritzen in dreistelliger Milliardenhöhe und direkter Aufkauf von
Banken und minderwertigen Anleihen und Krediten. Die nachhaltige Stabilisie-
rung des internationalen Finanzsystems blieb allerdings bislang aus.

Die vorläufig letzte Etappe ist die Zuspitzung auf dem Markt der hochriskanten,
aber renditeträchtigen Wertpapiere über Kreditversicherungen (Credit Default
Swaps – CDS), der in wenigen Jahren auf ein Volumen weltweit von 62 000 Mrd.
US-Dollar geradezu explodiert ist und der den Kollaps von Lehman Brothers
Inc. und die Verstaatlichung der größten Versicherungsgesellschaft der Welt AIG
ausgelöst hat. Wann diese Kettenreaktion ein Ende nimmt, ist nicht absehbar. Ob
das Rettungspaket der Finanzspritze der US-Regierung von 700 Mrd. US-Dollar
bei weiter anhaltender Immobilienkrise, weiter fallenden Häuserpreisen und da-
mit anhaltendem Verfall der hypothekenbesicherten Papiere den Durchbruch
bringt, ist völlig offen.

Die Krise muss eingebunden werden in die Finanzabhängigkeiten der USA. Die
USA sind weltweit mit über ca. 9 Bio. US-Dollar verschuldet. Hauptgläubiger
sind asiatische und arabische Länder, allen voran China, die mehr als 1,5 Bio.
US-Papiere in Dollar halten. Auch hier liegt ein erhebliches Risikopotential,
sollte etwa China oder Japan bei einem anhaltenden Verfall des Dollars ihre Dol-
lar abstoßen. Die Finanzspritze von 700 Mrd. US-Dollar wird nicht ohne Folgen
für den Dollarkurs bleiben. Die Risiken an der Währungsfront sind offensichtlich.

Deutschland ist keine Insel der Seligen. Deutsche private und öffentliche Ban-
ken waren aktive Spieler im Renditepoker um Kreditverbriefungen, CDS etc.
Sie haben zu dem Sittenverfall bei der Kreditvergabe (Kreditverkauf ohne
Unterlegung von Eigenkapital, Handel mit CDS und mit von der Fachwelt heute

Drucksache 16/10308 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

als Giftmüll bezeichneten Kreditderivaten), den im Übrigen der Chef der US-
Notenbank Bernanke bereits im Frühjahr 2007 anprangerte, nach Kräften beige-
tragen. Die Deutsche Industriebank AG (IKB) und die SachsenLB mussten vor
dem Bankrott gerettet werden, mehrere Institute sind in den Lehman-Kollaps
verwickelt, allein die Allianz mit 400 Mio. Euro, der bayerische Finanzminister
Erwin Huber muss über die BayernLB mindestens 350 Mio. Euro abschreiben.
Die Verluste der Landesbanken in Zusammenhang mit dem Lehman-Bankrott
werden auf 1,7 Mrd. Euro (Stand 22. September 2008) geschätzt. Zusammen mit
WestLB, LBBW, HSH Nordbank und BayernLB werden die Verluste deutscher
Landesbanken aus den Engagements in riskanten Wertpapiergeschäften zurzeit
auf 15 Mrd. Euro taxiert. Deutschland ist von der Finanzkrise massiv betroffen.
Dies gilt auch für große Versicherungsgesellschaften und von ihnen verwaltete
Lebensversicherungen.

In engem Zusammenhang mit der Finanzkrise ist es in einem ungewöhnlich kur-
zen Zeitraum weltweit zu einem Umschlag von Aufschwung in Abschwung
gekommen. Heute sind in Japan, Großbritannien, Spanien und Irland deutlich
rezessive Tendenzen festzustellen, in den USA ist jüngst die Arbeitslosigkeit
stark angestiegen. In Deutschland spricht die Bundesregierung erstmalig davon,
dass der Abschwung eingesetzt hat; nach noch nicht bestätigten Meldungen
reduziert sie für 2009 die Wachstumserwartung von 1,2 auf 0,5 Prozent. Die füh-
renden Wirtschaftsforschungsinstitute haben ihre Prognose deutlich abgestuft,
das Kieler Institut für Weltwirtschaft sagt für 2009 für Deutschland ein Wachs-
tum von nur noch 0,2 Prozent und ein Nullwachstum für die Eurozone voraus.
Der vielgepriesene Aufschwung – angeblich der Agenda 2010 geschuldet – ist
verpufft, die Hoffnung auf einen ausgeglichenen Bundeshaushalt verliert ihre
Grundlage.

Verantwortung der Bundesregierung

Nachdem die Bundesregierung lange Zeit verkündete, Deutschlands Konjunktur
sei robust und im Gegensatz zu anderen Ländern der EU von der Finanzkrise nicht
oder nur gering betroffen, erklärt der Bundesminister der Finanzen, Peer
Steinbrück, nun, die Finanzkrise sei „das größte konjunkturelle Risiko für die
deutsche Volkswirtschaft“. Von eigener Verantwortung ist dabei keine Rede. Da-
bei hatte die Bundesregierung hartnäckig die Exportabhängigkeit der Wirtschaft
erhöht und Maßnahmen zur Stärkung der Binnennachfrage durch mehr Massen-
kaufkraft und Investitionsprogramme abgelehnt, stattdessen zur Lohndrift nach
unten über Hartz IV und den dadurch geförderten Niedriglohnsektor beigetragen.

Den gleichen sog. Persilschein stellt sie sich zu den Turbulenzen im Banken-
bereich aus. Wenn der Bundesminister der Finanzen die „Gier der Banken“ als
Hauptverantwortliche ausmacht, verschiebt er nicht nur die Probleme auf eine
persönliche Ebene. Er blendet aus, dass die Bundesregierung durch zahlreiche
gesetzliche Liberalisierungen des Kapital- und Interbankenverkehrs zur Ent-
stehung des „Schattenbanksektors“ (so frühere europäische Premierminister,
Kanzler und EU-Kommissionspräsidenten in einem offenen Brief an José
Barroso) und zur „Bankengier“ beigetragen hat: so z. B. durch Zulassung von
Zweckgesellschaften, Verkauf von Kreditverträgen an Nicht-Banken, Gewerbe-
steuerfreiheit von Zweckgesellschaften, Hedge- und Private-Equity-Fonds und
durch Förderung des Erwerbs von Hedgefonds durch Lebensversicherungen und
Pensionsfonds. Die Bundesregierung hat über die Kreditanstalt für Wiederauf-
bau Bankengruppe (und vermittelt über die IKB) bei der Lancierung der Speku-
lation mit Kreditverbriefungen in Deutschland eine Vorreiterrolle gespielt.

Indem die Bundesregierung sich jeglicher Verantwortung entledigt, betreibt sie
eine bewusste Irreführung des Deutschen Bundestages und der Bevölkerung. Es
ist unredlich, jahrelang das Lied der freien Kapitalmärkte, der Deregulierung und
der freiwilligen Selbstheilung zu singen und nun – wie die Bundeskanzlerin –

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/10308

die Verantwortung für den Scherbenhaufen den angelsächsischen Ländern zuzu-
schieben, auch wenn diese sicherlich Hauptpromoter der Deregulierung waren.
Von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD und der Bundesregierung wurden
lange Zeit Maßnahmen zu schärferer Regulierung strikt abgelehnt und stattdes-
sen die Forderung des G8-Gipfeltreffens nach mehr Transparenz und freiwilliger
Selbstheilung propagiert. Noch letztes Jahr hatte Peer Steinbrück die Regulie-
rung von Hedgefonds als „nicht realistisch“ abgetan, einen Monat nach Aus-
bruch der Finanzkrise zitiert das „Handelsblatt“ am 19. September 2008 den
Bundesminister mit den Worten, „es gehe ihm nicht um rechtliche Regulierung,
sondern um Verabredungen“, im Dezember ist im gleichen Blatt zu lesen: „Bun-
desfinanzminister Peer Steinbrück torpediert die Pläne für eine Harmonisierung
der europäischen Finanzmarktaufsicht.“

Seit kurzem nun erwärmt sich auch die Bundeskanzlerin für staatliche Eingriffe,
der Bundesminister der Finanzen verkündet plötzlich, die freien Kräfte des
Marktes könnten die Krise nicht richten. Beide bleiben jedoch bei der neolibe-
ralen Grundauffassung, dass bei globalisierten Märkten eine Nation allein nichts
machen kann und verstecken sich hinter der Europäischen Union und interna-
tionalen Vereinbarungen. Noch im März dieses Jahres hatte Peer Steinbrück rein
nationale Maßnahmen als „totale Schwächung des deutschen Finanzdienstleis-
tungssektors“ abgelehnt und dies in eklatantem Gegensatz z. B. zu den nationa-
len Alleingängen Spaniens in diesem Bereich.

Die Bundesregierung springt mit ihrer Kritik am freien Spiel der Marktwirt-
schaft – sehr spät – auf einen Zug, der die Medien und die öffentliche Diskussion
immer stärker durchdringt. Die „Frankfurter Rundschau“ spricht davon, der
Glaube an die Überlegenheit freier Märkte sei erschüttert, laut „Süddeutsche
Zeitung“ zerlegt sich der Turbokapitalismus gerade selbst. Ein System, dass
nach dem Prinzip funktioniert, „solange die Musik spielt, müssen wir tanzen“
(so der frühere Chef der Citigroup Chuck Prince im Juli letzten Jahres), ist nicht
überlebensfähig. Wenn alle um das goldene Kalb der Renditemaximierung tan-
zen, wohl wissend, dass der Tanz demnächst in den Abgrund führt, muss die
Reißleine gezogen werden.

Die Unterwerfung unter die Zwänge der Globalisierung und ihr aktiver Aus-
bau – Markenzeichen der Politik der Bundesregierungen der letzten 20 Jahre
und die die Grundmaxime der Agenda 2010 darstellte – ist mit der Realität nicht
mehr kompatibel und wird von immer weniger Menschen in aller Welt akzep-
tiert. Das internationale Finanzsystem wird immer mehr zu einem weltweiten
Casino in der Hand spekulationsgetriebener institutioneller Finanzakteure und
ist in der jetzigen Form nicht tragfähig. Radikale Schritte zu seiner Reform sind
überfällig, schnellstes Handeln ist angesagt. 1996 hatte der damalige Bundes-
bankpräsident Hans Tietmeyer den Politikern ins Stammbuch geschrieben, ih-
nen sei nicht klar, „wie sehr sie bereits unter der Kontrolle der Finanzmärkte
stehen und sogar von diesen beherrscht werden“. Joseph Fischer hatte als Mit-
glied der ehemaligen rot-grünen Bundesregierung den Delegierten des ver.di-
Kongresses entgegengehalten: „Ihr glaubt doch nicht, ihr könntet Politik gegen
die internationalen Finanzmärkte machen.“

Heute steht fest: Die Politik muss wieder die Kontrolle über die Finanzmärkte
zurückerobern. Die Bundesregierung muss schleunigst Anstrengungen unter-
nehmen, das Diktat der Finanzmärkte zu durchbrechen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

dem Deutschen Bundestag umgehend vorzulegen:

● einen Bericht über die Auswirkungen der Finanzkrise auf Deutschland, in-
klusive der Folgen der in Deutschland durchgesetzten Deregulierungsmaß-
nahmen für die Erschütterung des deutschen Kreditwesens;

Drucksache 16/10308 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
● ein Maßnahmenpaket zur Beschlussfassung mit folgenden Schwerpunkten:

1. auf nationaler Ebene:

– Einbeziehung der Kreditinstitute in die Finanzierung staatlicher Ret-
tungspakete,

– Verschärfung der Eigenkapitalunterlegung außerbilanzieller Kredit-
geschäfte, Bilanzierung von Zweckgesellschaften,

– Unterwerfung des gesamten sog. Sekundärkredithandels (Kreditver-
briefungen, Verkauf von Kreditverträgen) sowie heimischer Hedge-
fonds und des CDS-Handels unter die Finanzaufsicht, Einführung
eines Kreditregisters,

– dauerhaftes Verbot von Leerverkäufen, drastische Reduzierung der
Kreditfinanzierung (Leverage) beim Kauf von Wertpapieren und Un-
ternehmensbeteiligungen,

– Verbot von Transaktionen mit Off-shore-Finanzzentren – Einführung
von Kapitalverkehrskontrollen und einer Finanztransaktionssteuer, in
der die Börsenumsatzsteuer und die sog. Tobin-Steuer zusammen-
gefasst sind,

– Verbot der Investition von Pensionsfonds und Lebensversicherungen in
Hedgefonds, CDS-Geschäfte, Private-Equity-Unternehmen und Wäh-
rungen, Rückbau der Privatisierung der Alterssicherung,

– Verschärfung der Haftungspflicht für Bankmanager und Mitglieder der
Kontrollorgane,

– stärkere Besteuerung leistungsloser Einkommen (Erbschaften und
große Vermögen),

– Stärkung der Binnenwirtschaft, unmittelbar über ein Kurzfristpro-
gramm durch Förderung öffentlicher Investitionen und von Massen-
kaufkraft durch Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns sowie die
Erhöhung von Arbeitslosengeld II und Kindergeld,

– Entwicklung einer wirtschafts- und finanzpolitischen Widerstandslinie
gegen Deregulierungsmaßnahmen der USA und Großbritanniens;

2. Initiativen der Bundesregierung auf internationaler Ebene für:

– die Schaffung einer europäischen Finanzaufsicht,

– die Gründung einer europäischen öffentlichen Ratingagentur, die über
einen von der Privatwirtschaft gespeisten Pool finanziert wird und
keine Beratungsgeschäfte durchführt,

– die Novellierung des Basel-II-Regelwerks mit dem Ziel stärkerer
Eigenkapitalunterlegung von Risiken,

– den Um- und Ausbau der Aufsichts- und Präventivfunktionen inter-
nationaler Finanzinstitutionen,

– die Einführung von Kapitalverkehrskontrollen im Rahmen der Kompe-
tenzen des Internationalen Währungsfonds,

– die stärkere Koordinierung der Weltwährungen mit dem Ziel der
Etablierung von Währungszielzonen bzw. Festkursen zwischen US-
Dollar, Euro, Yen und Yuan.

Berlin, den 23. September 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.