BT-Drucksache 15/701

Offene Fragen zum Rechtsbestand der Beitrittsländer vor dem Hintergrund der Osterweiterung der Europäischen Union

Vom 17. März 2003


Deutscher Bundestag Drucksache 15/701
15. Wahlperiode 17. 03. 2003

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Erwin Marschewski (Recklinghausen),
Christa Reichard (Dresden), Martin Hohmann, Matthias Sehling, Ulrich Adam,
Günter Baumann, Veronika Bellmann, Klaus Brähmig, Dr. Ralf Brauksiepe, Helge
Braun, Hartmut Büttner (Schönebeck), Albert Deß, Anke Eymer (Lübeck), Georg
Fahrenschon, Ingrid Fischbach, Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof), Erich G. Fritz,
Jochen-Konrad Fromme, Roland Gewalt, Dr. Wolfgang Götzer, Kurt-Dieter Grill,
ReinhardGrindel, ManfredGrund, Klaus-JürgenHedrich, Klaus Hofbauer, Susanne
Jaffke, Dr. Egon Jüttner, Volker Kauder, Norbert Königshofen, Hartmut Koschyk,
Michael Kretschmer, Gunther Krichbaum, Dr. Hermann Kues, Barbara Lanzinger,
Vera Lengsfeld, Peter Letzgus, Eduard Lintner, Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach),
Dr. Michael Luther, Dorothee Mantel, Stephan Mayer (Altötting), Dr. Michael
Meister, Henry Nitzsche, Dr. Peter Paziorek, Hans Raidel, Franz Romer, Kurt J.
Rossmanith, Anita Schäfer (Saalstadt), Dr. Ole Schröder, Erika Steinbach,
Thomas Strobl (Heilbronn), Arnold Vaatz, IngoWellenreuther, Klaus-PeterWillsch,
Elke Wülfing, Dr. Angela Merkel, Michael Glos und der Fraktion der CDU/CSU

Offene Fragen zum Rechtsbestand der Beitrittsländer vor dem Hintergrund
der Osterweiterung der Europäischen Union

Im Rahmen seiner Tagung am 12./13. Dezember 2002 in Kopenhagen hat der
Europäische Rat den Weg für die Aufnahme von zehn weiteren Staaten in die
Europäische Union bereitet. Mit der Osterweiterung der Europäischen Union
eröffnet sich nach den bitteren Erfahrungen, vor allem der ersten Hälfte des
20. Jahrhunderts die historische Chance, Frieden, Freiheit und Sicherheit in
ganz Europa nachhaltig zu stärken.
Die Einigung Europas ist das wertvollste Erbe der zweiten Hälfte des 20. Jahr-
hunderts. Die Europäische Union als Rechts- und Wertegemeinschaft bietet da-
bei die Chance einer dauerhaften Verständigung und Aussöhnung mit Deutsch-
lands östlichen Nachbarstaaten. Maßgeblich für einen Erfolg der Europäischen
Union als Rechts- und Wertegemeinschaft ist die Einhaltung der vom Europäi-
schen Rat 1993 beschlossenen Kopenhagener Kriterien. Darin werden von den
Beitrittskandidaten unter anderem eine stabile Demokratie, der Schutz von
Minderheiten und die Achtung der Menschenrechte gefordert.
Die Kopenhagener Kriterien waren richtungsweisend für den Reformprozess,
den die Bewerberländer eingeleitet und vorangebracht haben, um die Bedin-
gungen für eine EU-Mitgliedschaft zu erfüllen. Die Bewerberstaaten haben auf
diesem Weg beachtliche Fortschritte erzielt.

Drucksache 15/701 – 2 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Inwieweit stimmt die Bundesregierung der Rechtsauffassung zu, dass Arti-

kel 49 Abs. 1 des Vertrages über die Europäische Union (EUV) die Mit-
gliedstaaten verpflichtet, dem Beitrittsgesuchen eines europäischen Staates
nur dann zuzustimmen, wenn dieser die in Artikel 6 Abs.1 EUV genannten
Grundsätze achtet?

2. Welche eigenen Bemühungen hat die Bundesregierung unternommen, um
die Einhaltung der in Artikel 6 Abs. 1 EUV genannten Grundsätze im Hin-
blick auf die Beitrittskandidaten im Rahmen ihrer Entscheidungsfindung
im Vorfeld des Europäischen Rates in Kopenhagen vom 12./13. Dezember
2002 zu überprüfen?

3. Falls sie keine eigenen Bemühungen angestellt hat, warum sind diese nicht
erfolgt?

4. Inwieweit stimmt die Bundesregierung der These zu, dass die Nichtauf-
hebung der Vertreibungsdekrete einer politischen Grundhaltung Ausdruck
gibt, die nicht mit Artikel 6 EUV vereinbar ist und sich gegen das Mitein-
ander verschiedener Nationalitäten richtet, indem sie den davon Betroffe-
nen unter anderem die Loyalität zum Staat und die Gemeinschaftsfähigkeit
absprechen?

5. Stimmt die Bundesregierung der These zu, dass eine solche Grundhaltung
auch zukunftsgerichtet wirkt?

6. Wie bewertet die Bundesregierung insbesondere die fortdauernde Geltung
des als „Straffreistellungsgesetz“ bezeichneten Gesetzes Nr. 115 aus dem
Jahr 1946 in der Tschechischen Republik vor dem Hintergrund des in Arti-
kel 6 Abs. 1 EUV normierten Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit?

7. Was ist gegebenenfalls nach Ansicht der Bundesregierung im Hinblick auf
den Beitritt der Tschechischen Republik zur EU im Jahr 2004 noch zu un-
ternehmen, um dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit Geltung zu ver-
schaffen?

8. Wie bewertet die Bundesregierung die These im von Prof. Dr. Jochen Abr.
Frowein im Auftrag des Europäischen Parlamentes erstellten Gutachten zu
den Benesch-Dekreten, wonach ein Widerruf des Gesetzes Nr. 115 von
1946 im Hinblick auf den Beitritt der Tschechischen Republik zur Europäi-
schen Union nicht zwingend sei, da Einzelpersonen seit mehr als fünf Jahr-
zehnten auf die Bestimmungen dieses ihnen Straffreiheit zusichernden Ge-
setzes vertrauten, vor dem Hintergrund des Gebotes der Rechtsstaatlichkeit
in Artikel 6 Abs. 1 EUV?

9. Inwieweit stimmt die Bundesregierung der These von Prof. Dr. Christian
Tomuschat zu, wonach die mit dem „Straffreistellungsgesetz“ vom 8. Mai
1946 verbundene Weigerung, „Straftaten, die in der Zeit vom 30. Septem-
ber 1938 bis zum 28. Oktober 1945 begangen worden sind, mit den Mitteln
des Rechts zu ahnden, einen eklatanten Bruch mit den Anforderungen der
internationalen Gemeinschaft an die einem jeden Staatswesen obliegende
Schutzfunktion darstellt“?

10. Wie bewertet die Bundesregierung diesen Befund vor dem Hintergrund des
Rechtsgehaltes wie er sich aus Artikel 49 EUV i. V.m. Artikel 6 Abs. 1
EUV ergibt?

11. Welche Erkenntnisse besitzt die Bundesregierung über zurzeit noch in der
Tschechischen Republik in der rechtlichen Prüfung der Justiz befindliche
Verfahren gemäß der Restitutionsgesetzgebung (Anzahl und Stand der
Rechtssprechung)?

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/701

12. Welche Erkenntnisse besitzt die Bundesregierung über in diesem Zusam-
menhang stehende Vorgänge, die im Gegensatz zu Artikel 26 des UN-Men-
schenrechtspaktes (Internationaler Pakt über bürgerliche und politische
Rechte vom 19. Dezember 1966) stehen?

13. Welche Bemühungen der Bundesregierung zur Normierung des völker-
rechtlichen Schutzes vor Vertreibung hat es gegeben, um die völkerrecht-
liche und strafrechtliche Ahndung des Verbrechens der Vertreibung zu er-
reichen und welche Ergebnisse konnten bisher erzielt werden?

14. Was beabsichtigt die Bundesregierung in diesem Zusammenhang weiter zu
unternehmen?

15. Gegenüber welchen Staaten, aus denen Deutsche am Ende des Zweiten
Weltkrieges und danach vertrieben wurden, hat die Bundesregierung das
Vertreibungsunrecht im Rahmen von Konsultationen im Zuge der Beitritts-
verhandlungen zur Europäischen Union thematisiert?

16. Welche sich aus der Vertreibung ergebenen ungelösten Fragen hat die Bun-
desregierung dabei angesprochen?

17. Was wird die Bundesregierung in dieser Angelegenheit weiter unterneh-
men?

18. Inwieweit befindet sich die Bundesregierung mit den Heimatvertriebenen
über die offenen Fragen in einem Dialog, bei denen entsprechende Fragen
erörtert werden, und falls nein, warum nicht?

19. In welcher Form berücksichtigt die Bundesregierung die Anliegen der Hei-
matvertriebenen im Prozess der Aussöhnung und im Rahmen der EU-Ost-
erweiterung?

20. Inwieweit vertritt die Bundesregierung die Ansicht, dass es der Bundes-
regierung bei einem Beitritt der Mittel- und Osteuropäischen Staaten zur
Europäischen Union unter den gegenwärtigen Bedingungen auch künftig
möglich sein wird, weiter für die Rechte der Heimatvertriebenen gegen-
über diesen Staaten einzutreten?

Berlin, den 17. März 2003
Dr. Angela Merkel, Michael Glos und Fraktion

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