BT-Drucksache 15/5868

zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung -15/4970- Nationaler Aktionsplan für ein kindergerechtes Deutschland 2005 bis 2010

Vom 29. Juni 2005


Deutscher Bundestag Drucksache 15/5868
15. Wahlperiode 29. 06. 2005

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Klaus Haupt, Ina Lenke, Michael Kauch, Dr. Karl Addicks,
Rainer Brüderle, Angelika Brunkhorst, Ernst Burgbacher, Helga Daub,
Jörg van Essen, Ulrike Flach, Horst Friedrich (Bayreuth), Rainer Funke,
Joachim Günther (Plauen), Dr. Christel Happach-Kasan, Ulrich Heinrich,
Gudrun Kopp, Sibylle Laurischk, Harald Leibrecht, Eberhard Otto (Godern),
Cornelia Pieper, Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Max Stadler, Dr. Rainer Stinner,
Dr. Dieter Thomae, Jürgen Türk, Dr. Claudia Winterstein, Dr. Volker Wissing,
Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP

zu der Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
– Drucksache 15/4970 –

Nationaler Aktionsplan für ein kindergerechtes Deutschland 2005 bis 2010

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Die Kinder- und Jugendpolitik vollzieht seit Jahren einen langsamen und über-
fälligen Perspektivwechsel: Mehr und mehr begreifen Politik und Gesellschaft,
dass Kinder und Jugendliche eigene Persönlichkeiten mit eigenen Rechten und
Pflichten sind. Sie sind nicht nur Teil einer Familie, sondern sie haben ureigenste
Bedürfnissee und Interessen. Es ist zu begrüßen, dass diese Erkenntnis sich im-
mer mehr durchsetzt und in der Politik widerspiegelt, beispielsweise in Pro-
grammen zur Partizipation von Kindern und Jugendlichen oder Gesetzen zum
verbesserten Schutz gegen Missbrauch und Gewalt.
Die Kinder- und Jugendpolitik muss aber noch viel stärker in den Mittelpunkt
rücken. Und sie muss als Querschnittsthema betrieben werden, das in allen an-
deren Politikfeldern zu beachten ist. Wir müssen uns bei allen Entscheidungen
fragen, welche Wirkungen sie für die jungen Menschen von heute und morgen
haben. Kinder und Jugendliche sind ein wichtiger Teil unserer Gegenwart und
sie sind die Zukunft unserer Gesellschaft!
Mit der Vorlage des Nationalen Aktionsplans für ein kindergerechtes Deutsch-
land (NAP) kommt die Bundesregierung einer Verpflichtung aus den Vereinba-
rungen des Weltkindergipfels 2002 in New York nach. Es ist zu begrüßen, dass
dieser Aktionsplan nun vorliegt. Ein kindergerechtes Deutschland ist ein Ziel,
das über alle Parteigrenzen hinweg geteilt wird.
Erfreulich ist, dass der NAP auch unter Beteiligung von Kindern und Jugend-
lichen erarbeitet wurde. Denn völlig zu Recht setzt die Bundesregierung einen

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Schwerpunkt im NAP bei der Partizipation von Kindern und Jugendlichen.
Junge Menschen wollen Verantwortung tragen und ihre Welt mitgestalten. Sie
erheben zu Recht Anspruch auf Teilhabe und Beteiligung. Um dieses Potenzial
zu nutzen, müssen ihnen allerdings ernst gemeinte und auf sie zugeschnittene,
altersdifferenzierte Angebote zur Teilhabe am politischen und gesellschaftlichen
Leben gemacht werden. Deshalb ist zu warnen vor jeglichen Formen der Schein-
partizipation, wie Jugendliche sie bei früheren politischen Aktionen teilweise
empfanden.Wichtig ist auch: Aktive Beteiligung von Kindern und Jugendlichen
darf sich nicht in einzelnen guten Aktionen erschöpfen, sie muss kontinuierlich
erfolgen und ernsthafte Gestaltungs- und Mit-Entscheidungschancen für die
junge Generation bringen.
Wenn wir Beteiligung ernst nehmen, müssen wir Kinder und Jugendliche in
ihren Rechten stärken. Es ist erfreulich, eine seit Jahren von den Liberalen wie-
derholte Forderung im NAP wieder zu finden: Wir müssen dafür Kinder und
Jugendliche besser über ihre Rechte informieren – und Kinderrechte auch im
Bewusstsein der erwachsenen Bevölkerung verankern. Es ist noch viel zu tun,
damit in Kindergärten, Schulen, Freizeiteinrichtungen, in der Jugendhilfe, in der
Justiz, in den Familien – und nicht zuletzt bei allen Politikern klar ist, welche
Rechte Kindern beispielsweise nach der UN-Kinderrechtskonvention zustehen.
Als leider schier unendliche Geschichte zieht sich die Debatte um die Rück-
nahme der Vorbehaltserklärung zur UN-Kinderrechtskonvention durch die letz-
ten Jahre. Dies ist ein politisches Versagen. Die deutsche Vorbehaltserklärung
gegen die Kinderrechts-Konvention der Vereinten Nationen ist sachlich obsolet.
Sie muss endlich aufgehoben werden. Sie wirkt wie ein Vorbehalt gegen Fort-
schritte in der Kinderrechtsdiskussion. Das belastet den Dialog mit den Kinder-
rechtsorganisationen erheblich.
Die Vorbehaltserklärung schadet dem deutschen Ansehen im Ausland. Deutsch-
land darf anderen Staaten keinen Vorwand liefern, selbst Vorbehalte gegen Kin-
derrechte aufzubauen.
Von einem Ziel des Nationalen Aktionsplans sind wir leider besonders weit ent-
fernt: Vom angemessenen Lebensstandard aller Kinder. Nicht zuletzt, weil die
Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik der letzten Jahre versagt hat, leben immer
mehr Kinder in relativer Armut. Kinder leiden erheblich unter der Arbeits- und
Perspektivlosigkeit ihrer Eltern. Für Jugendliche sind Ausbildung und Arbeit
mehr als nur die Grundlage für ein wirtschaftlich unabhängiges Leben. Sie ha-
ben auch zentrale Bedeutung für die Identitätsfindung, die Selbstverwirklichung
und -bestimmung. Es stimmt, dass Armutsrisiken nicht allein durch Transfers
ausgeglichen werden können. Eltern und Kinder müssen in Bezug auf Armuts-
krisen auch als handelnde Akteure erkannt werden. Das heißt, von Armut Be-
troffenen muss nicht nur durch finanzielle Unterstützung ein menschenwürdiges
Leben gesichert werden. Vielmehr muss darüber hinaus versucht werden, ihnen
Wege aus der Armut zu eröffnen. Kinder können im Gegensatz zu ihren Eltern
nicht für ihr eigenes Einkommen aufkommen. Deswegen soll minderjährigen
Kindern und Kindern, die sich noch in der Schulsausbildung befinden und bei
ihren Eltern wohnen, der absolute Vorrang bei Unterhaltsansprüchen gegenüber
allen anderen Unterhaltsberechtigten zukommen. Armutsbekämpfung erfolgt
jedoch nicht mehr allein über Einkommenstransfers, sondern ebenso über die
Wiederherstellung von wirtschaftlicher und sozialer Handlungsfähigkeit. Diese
Sichtweise rückt die Hilfe zur Selbsthilfe in den Mittelpunkt. Die Liberalen set-
zen auf gezielte Strategien, die aus der Armut herausführen und auch davor
schützen können: Dazu gehören Bildung, Beratung und Beteiligung, das Erler-
nen persönlicher Krisenbewältigungsstrategien von Kindern, Jugendlichen und
Erwachsenen ebenso wie die Veränderung der Infrastrukturen in kommunalen
Lebensräumen. Armutsprävention durch solche Maßnahmen muss einen neuen
politischen Stellenwert erhalten.

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Die bisherige Politik hat nicht verhindern können, dass vielen Jugendlichen die
Chancen, in ein qualifiziertes und erfülltes Erwerbsleben einzutreten, erschwert
oder verwehrt sind. Das Bildungs- und Ausbildungssystem kann einerseits den
Bedarf an hochqualifizierten Arbeitskräften nicht decken und andererseits findet
ein hoher Anteil von Jugendlichen keinen Ausbildungs- und Arbeitsplatz. Es
kommt darauf an, den jungenMenschen Optionen zu geben, durch eigene Arbeit
am gesellschaftlichen Reichtum teilzuhaben. Der bisherigen Fehlsteuerung im
Bildungs- und Ausbildungssystem muss entschieden und mit vielfältigen und
unkonventionellen Ideen und Ansätzen entgegengewirkt werden. Reformen in
der Bildungspolitik und in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik sind gerade
auch für die Zukunft der jungen Menschen dringend geboten. Das Bildungs-
niveau der jungen Menschen ist von zentraler Bedeutung für ihre Lebensum-
stände, die aktuellen Ansichten und ihre späteren gesellschaftlichen Chancen.
Eine möglichst hohe Bildung ist daher ein wichtiges Ziel für die meisten Jugend-
lichen. Diejenigen Heranwachsenden, die mit den Anforderungen in Schule und
Beruf weniger gut zurechtkommen, fühlen sich denn auch potentiell benachtei-
ligt und reagieren darauf mit Aggression oder Resignation
Jugendliche, die in prekären Lebensverhältnissen hinsichtlich Bildung und Be-
ruf leben, sind überproportional häufig von der Demokratie als Staatsform und
der der politischen Wirklichkeit enttäuscht. Dies trifft besonders auf die öst-
lichen Bundesländer zu. Nach denWahlerfolgen rechtsextremer Parteien bei den
Landtagswahlen im September 2004 in Brandenburg und Sachsen stellt sich er-
neut die Frage, wie die Öffentlichkeit, wie die Parteien und die Medien darauf
angemessen reagieren. Es wäre eine Verharmlosung, die Wähler der rechts-
extremen Parteien als reine Protestwähler abzutun. Es gibt besonders zu denken,
wie groß die Erfolge rechter Parteien und Organisationen bei jungen Menschen
sind: Es sind meist Angst und angstgenährte Unzufriedenheit, ob sie real, einge-
bildet oder aufgebauscht ist, die einen Teil der Bevölkerung zu den rechts-
extremen Parteien treiben. Frustrationswellen, verstärkt durch autoritäre Demo-
kratieskepsis, Antisemitismus und Angst vor dem Fremden spiegeln sich häufig
in Erfolgen der Berufsextremisten von rechts. Angst trifft Gewaltlust. Neben
dem organisierten Rechtsextremismus hat sich diese oft gewaltbereite rechts-
extremistische und fremdenfeindliche Jugendströmung fest etabliert. Viele Ju-
gendliche schließen sich ihr an aus einem Hang zur Provokation. Rechtsextre-
mismus und Gewalt unter Jugendlichen muss die Gesellschaft als Ganzes kon-
sequent entgegentreten – und zwar nicht nur, wenn nach aktuellen Vorfällen die
Entrüstung groß ist. Hier ist ein Prozess hin zu mehr Toleranz und Demokratie-
bewusstsein erforderlich. Die neuen Kriminalitätsstatistiken zeigen, dass auch
andere Formen von Gewalt und Gewaltbereitschaft von jungen Menschen nach
wie vor ein großes Problem sind, dessen vielfältige Ursachen gezielt bekämpft
werden müssen.
Neben dem Thema Gewalt durch Kinder und Jugendliche muss auch der Aspekt
der Gewalt gegen Kinder und Jugendliche im politischen Fokus stehen. Die Sta-
tistik zeigt deutlich, dass Kinder, die Gewalt in der Familie erleben, später häu-
figer selbst Täter werden. Gesellschaftliches Leitbild jeder Erziehung muss die
Freiheit von Gewalt sein. Kinder sind gegenüber jeder Gewalt, die ihnen angetan
wird, wehrlos. Gewalt hat gravierende Folgen für die Persönlichkeitsentwick-
lung von Kindern. Seelische Verletzungen und körperliche Strafen beeinträch-
tigen das Selbstbewusstsein des Kindes, erhöhen die Aggressivität, behindern
Einfühlungsvermögen und Gewissensbildung schränken eigene Erfahrungen
und eigenständige Entwicklung ein. Deshalb muss die gesellschaftliche Norm
klar sein: Gewalt ist kein Erziehungsmittel. Denn die Erfahrung von Gewalt
wird weitergegeben. Dies führt zu einem Teufelskreis, in dem die Würde der
jungen Menschen mit Füßen getreten wird. Der verhängnisvolle Kreislauf von
erfahrener und weitergegebener Gewalt muss durchbrochen werden. Ohne en-
gagierte Zusammenarbeit und guten Willen des Elternhauses sowie der Gesell-

Drucksache 15/5868 – 4 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

schaft als Ganzes können wir das kaum erreichen. Denn das wichtigste Element
im Kampf gegen Jugendgewalt ist die Familie. Wenn Eltern ihren Kindern
Geborgenheit und Selbstvertrauen, aber auch die notwendigen Grenzen vermit-
teln, dann bestehen gute Chancen, dass die so erzogenen Jugendlichen so viel
Charakter entwickeln, dass Sie auch Frustrationen, etwa durch den Kontrast
Medienwelt – Alltagswirklichkeit oder durch einen schwierigen beruflichen
Werdegang, gewachsen sind, ohne Gewalt als Ausweg zu suchen.
Der Blick auf Probleme in der Jugendpolitik ist wichtig – aber auch der Blick
auf Positives:
Die positive Zukunftssicht der jungen Generation, die sich in der 14. Shell-
Jugendstudie zeigt, darf auch die Politik optimistisch stimmen. Die meisten Ju-
gendlichen von heute stellen sich den großen gesellschaftlichen und persön-
lichen Herausforderungen mit Pragmatismus und einem neuen Wertemix aus
Fleiß, Ehrgeiz, Sicherheitsdenken, Machtstreben und gleichzeitig Spaßorientie-
rung und Toleranz. „Aufstieg statt Ausstieg“ ist das Motto für die Meisten in der
jungen Generation. Viele Jugendliche zeigen wieder ein erhöhtes Maß an per-
sönlicher Leistungsbereitschaft. Es gibt eine Generation, die im positiven Sinne
als die Zukunft unserer Gesellschaft bezeichnet werden darf. Gerade die in
Schule und Beruf erfolgreichen Jugendlichen verkörpern den neuen positiven
Zeitgeist und tragen zu einer produktiven gesellschaftlichen Entwicklung bei.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
in Zusammenarbeit mit den Ländern und Kommunen
l die Maßnahmen des NAP weiter zu konkretisieren und mit konkreten Verant-

wortlichkeiten und Terminvorgaben zu versehen und damit überprüfbar zu
machen;

l ein umfassendes, neutrales Monitoring zum NAP unter Einbeziehung von
Wissenschaftlern und vor allem von Kindern, Jugendlichen und ihren Inter-
essenvertretern durchzuführen;

l die Entwicklung von Qualitätsstandards in der Kinder- und Jugendhilfe zu
forcieren;

l eine Generationenbilanz einzuführen, in der aufgeschlüsselt nach Jahr-
gängen, auf der Habenseite Leistungen für die nachrückenden Generationen
– wie Ausgaben für Bildung, Infrastruktur, vorsorgenden Umweltschutz,
Kinder- und Jugendhilfe und soziale Sicherheit – erfasst, auf der Sollseite
Belastungen wie Staatsverschuldung, Pensionslasten, Verpflichtungen aus
Generationenverträgen und Umweltschäden ausgewiesen werden. Damit
könnte ein besseres Bewusstsein für die berechtigten Anliegen der kommen-
den Generationen geschaffen und der Politik ein Maßstab für die Wirkung
politischer Maßnahmen gegeben werden;

l die Vorbehalte gegen die UN-Kinderrechtskonvention zurückzunehmen
(s. Antrag der Fraktion der FDP vom 28. Januar 2004, Bundestagsdrucksache
15/2419);

l die Teilhabe und Mitwirkung von Kindern und Jugendlichen im gesellschaft-
lichen und politischen Leben durch ernst gemeinte und altersdifferenzierte
Angebote in vielfältiger Weise zu ermöglichen;

l Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene in Schulen, Einrichtungen der
Kinder- und Jugendhilfe und über breite Öffentlichkeitsarbeit besser über
Kinderrechte zu informieren;

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 5 – Drucksache 15/5868

l das Wohl und die Interessen der Jugendlichen nicht nur in den Mittelpunkt
der Kinder- und Jugendpolitik im engeren Sinne zu rücken und mit hoher
politischer Priorität zu verfolgen, sondern dies auch in den Feldern Bildung,
Armutsbekämpfung, Gesundheit, Arbeitsmarkt, und Gewaltprävention zu
tun.

Berlin, den 29. Juni 2005
Klaus Haupt
Ina Lenke
Michael Kauch
Dr. Karl Addicks
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Helga Daub
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Horst Friedrich (Bayreuth)
Rainer Funke
Joachim Günther (Plauen)
Dr. Christel Happach-Kasan
Ulrich Heinrich
Gudrun Kopp
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Eberhard Otto (Godern)
Cornelia Pieper
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Dr. Dieter Thomae
Jürgen Türk
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

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