BT-Drucksache 15/5624

zu der Beratung des Gesetzentwurfs des Bundesrates -15/4532, 15/5616- Entwurf eines Gesetzes zur Entlastung der Kommunen im sozialen Bereich (KEG)

Vom 1. Juni 2005


Deutscher Bundestag Drucksache 15/5624
15. Wahlperiode 01. 06. 2005

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Klaus Haupt, Ina Lenke, Daniel Bahr (Münster), Rainer Brüderle,
Angelika Brunkhorst, Ernst Burgbacher, Jörg van Essen, Ulrike Flach, Otto Fricke,
Horst Friedrich (Bayreuth), Hans-Michael Goldmann, Joachim Günther (Plauen),
Ulrich Heinrich, Birgit Homburger, Dr. Werner Hoyer, Michael Kauch, Dr. Heinrich
L. Kolb, Gudrun Kopp, Jürgen Koppelin, Sibylle Laurischk, Harald Leibrecht,
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Eberhard
Otto (Godern), Detlef Parr, Cornelia Pieper, Gisela Piltz, Dr. Hermann Otto Solms,
Dr. Max Stadler, Jürgen Türk, Dr. Claudia Winterstein, Dr. Wolfgang Gerhardt und
der Fraktion der FDP

zu der Beratung des Gesetzentwurfs des Bundesrates
– Drucksachen 15/4532, 15/5616 –

Entwurf eines Gesetzes zur Entlastung der Kommunen im sozialen Bereich (KEG)

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Entwurf eines Gesetzes zur Entlastung der Kommunen im sozialen Bereich
(Bundestagsdrucksache 15/4532) ist abzulehnen.

II. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
II.1 Zum KEG im Allgemeinen:
Die Finanzlage vieler Kommunen ist und bleibt dramatisch: Trotz erhöhter Einnah-
men aus der Gewerbesteuer sind die Kassenkredite so hoch wie nie und die Investi-
tion vieler Kommunen so niedrig wie noch nie. Allein in Nordrhein-Westfalen sind
nach einer Auskunft des Landesinnenministeriums 20 Großstädte, 4 Landkreise und
142 kreisangehörige Gemeinden in der Haushaltssicherung. Weitere 38 Gemeinden
befinden sich im Nothaushaltsrecht. Ausgeglichene Haushalte sind für die meisten
Kommunen in weiter Ferne. So wird z. B. für die Stadt Oberhausen der nächste aus-
geglichene Haushalt für das Jahr 2022 prognostiziert. Hiermit verbunden sind tiefe
Einschnitte in die Handlungsfähigkeit der Kommunen. Gemeindevertretungen fehlt
häufig jeder Gestaltungsspielraum. Vielfach bleibt nur noch das Bemühen um ein
einigermaßen vernünftiges Schuldenmanagement. Grund dieser schlimmen Ent-
wicklung ist der extreme Anstieg bei den Sozialausgaben. Allein in den Jahren 2000
bis 2004 stiegen die Ausgaben um 6 auf 32,25 Mrd. Euro an. Das ist ein Zuwachs
von fast einem Viertel. Seit 1992 sind die Sozialausgaben sogar trotz der Entlastun-
gen durch die Pflegeversicherung um fast die Hälfte gestiegen.

Drucksache 15/5624 – 2 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

II.2 Zu den im KEG enthaltenen Änderungsvorschlägen in den Bereichen des Ers-
ten Buches Sozialgesetzbuch, des Sozialhilferechts, SGB XII und des SGB XI:

Der Gesetzentwurf enthält im Bereich des SGB XII und des SGB I Regelungen, die
in der vorgesehenen Fassung sozialpolitisch bedenklich und daher abzulehnen sind.
Erstens ist die Übertragung weitgehender Kompetenzen im Bereich der Festlegung
der Regelsätze in der Sozialhilfe auf die Länder in der im Gesetzentwurf vorgesehe-
nen Fassung bedenklich. Nach geltender Rechtslage werden die Regelsätze inner-
halb enger Grenzen durch die Länder bestimmt. Das Bundesrecht gibt dabei die Be-
messungskriterien und einen bestimmten Lohnabstand vor. Mit dem Entwurf soll
den Ländern die Bestimmung der Regelsätze einschließlich der Bemessungskrite-
rien und des Lohnabstands übertragen werden. Laut Begründung des Entwurfs sol-
len die Sozialleistungen für nicht erwerbsfähige Personen aufgrund des Lohnab-
standsgebots gesenkt werden können, um die Motivation der Erwerbstätigen zur
Arbeitsaufnahme zu stärken. Eine Übertragung der Regelsatzfestlegung auf die
Länder mit dieser Begründung ist aber abzulehnen, da gerade die Nichterwerbs-
fähigen (SGB XII) nicht zu Arbeit angeregt werden und aus Sicht der Erwerbstäti-
gen auch nicht als unberechtigte Sozialhilfeempfänger empfunden werden können,
die durch einen verstärkten Lohnabstand auf Distanz gehalten werden müssen.
Zweitens soll die Klausel des § 28 Abs. 2 Satz 3 SGB XII, nach der die Regelsätze in
den neuen Ländern bis 2010 höchstens 14 Euro unter dem Regelsatz in den alten
Ländern liegen dürfen, aufgehoben werden. Im Bereich des SGB XII kann eine sol-
che Freigabe der Regelsätze zu unzumutbaren Härten führen, wenn gerade finanz-
schwache Länder von ihren Regelsatzkompetenzen Gebrauch machen.
Drittens soll mit dem Gesetzentwurf bei allen Ansprüchen nach dem Sozialgesetz-
buch, die Wunsch- oder Wahlrechte der Betroffenen enthalten, die Finanzkraft des
öffentlichen Trägers in Zukunft als Grundlage der Entscheidung, ob ein Sozialan-
spruch gewährt wird, berücksichtigt werden. Dies ist wiederum im Bereich der So-
zialhilfeempfänger abzulehnen. Bisher gilt, dass bei bestehenden Wahlrechten den
Wünschen der Berechtigten entsprochen werden soll, soweit sie angemessen sind.
Bei der Prüfung der Angemessenheit spielt die finanzielle Leistungsfähigkeit des
Kostenträgers gegenwärtig keine entscheidende Rolle. Der Gesetzentwurf sieht nun
vor, die finanzielle Leistungsfähigkeit als Abwägungsgesichtspunkt in die Ange-
messenheitsprüfung einzubeziehen. Die Finanzkraft der öffentlichen Hand soll da-
bei auch bei Vereinbarungen zwischen Sozialhilfeträgern und Sozialleistungserbrin-
gern berücksichtigt werden.
Soweit diese Regelung nicht erwerbsfähige und immobile Hilfeempfänger etwa nach
den SGB IX und XII betrifft, sollte aber besser bundesweit eine einheitliche Rege-
lung für diesen Personenkreis gelten und die Finanzkraft unberücksichtigt bleiben.
Gerade erwerbsunfähige Leistungsempfänger nach dem SGB XII oder SGB IX sind
häufig immobil und können sich schlechter als andere einemWettbewerb der Sozial-
hilfeträger stellen.
Ebenso lehnen wir die geplante Änderung des § 85 Abs. 6 Satz 3 SGB XI, Verkürzung
der weiteren Gültigkeit der Pflegesätze nach Ablauf des Pflegesatzzeitraums auf sechs
Monate, ab. Diese Regelung würde einMehr an bürokratischemAufwand für die Pfle-
geheime und ihre Träger bedeuten, da sie verpflichtet wären, in Pflegesatzverhandlun-
gen nach Ablauf dieses Zeitraumes einzutreten, auch wenn die wirtschaftliche Situa-
tion des Pflegeheimes dies nicht unbedingt erfordern würde.
II.3 Zu den im KEG enthaltenen Änderungsvorschlägen im Bereich der Kinder-

und Jugendhilfe, SGB VIII:
Auf Bundes- wie auch Landesebene besteht Einvernehmen dahin gehend, dass das
Achte Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) sich grundsätzlich seit seiner Einführung
1991 bewährt hat. Dennoch hat sich in der Praxis Reformbedarf gezeigt, der über
die bisherigen Änderungen des SGB VIII hinausgeht.

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/5624

Sowohl der Gesetzentwurf des Bundesrates zur Entlastung der Kommunen im sozia-
len Bereich (KEG) (Bundestagsdrucksache 15/4532) als auch der Entwurf der
Fraktion der SPD und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für ein Gesetz zur
Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe (Kinder- und Jugendhilfeweiterent-
wicklungsgesetz – KICK) (Ausschussdrucksache 15(12)444) zielen auf eine höhere
Effektivität und Effizienz in der Kinder- und Jugendhilfe. Dies sind wichtige
Reformziele, an denen sich jegliches Gesetz messen lassen muss, insbesondere in
Zeiten knapper Kassen. Die Steuerungsmöglichkeiten und -wirkungen in der Kinder-
und Jugendhilfe können und müssen verbessert und unnötige Bürokratie abgebaut
werden. Angesichts der angespannten Finanzlage der Kommunen müssen auch ein-
zelne Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe kritisch überprüft werden.
Wer jedoch in der Jugendhilfe sparen will, darf nicht vergessen, dass Ausgaben für
unsere Kinder und Jugendlichen Investitionen in die Zukunft unserer Gesellschaft
sind – und falsches Sparen an dieser Stelle schlimme Folgen haben kann. Auf stei-
gende Fallzahlen bei einzelnen Hilfearten kann die Politik nicht einfach mit der
Abschaffung der betreffenden Leistungen reagieren. Wenn Kinder und Eltern im-
mer mehr tatsächlichen Unterstützungsbedarf haben, müssen wir vielmehr nach den
Ursachen dafür und nach besseren Lösungen fragen. Wenn Jugendarbeit den heute
sehr großen Anforderungen nicht gerecht werden kann, trägt die negativen – auch
finanziellen – Folgen die ganze Gesellschaft. Außerdem ist im Blick zu behalten,
dass die Kinder- und Jugendhilfe im Ausgabenblock des Sozialbudgets unseres
Landes ohnehin keineswegs den entscheidenden Anteil einnimmt. Notwendig ist,
dass der Bund den Kommunen endlich ausreichende finanzielle Mittel zur Ver-
fügung stellt, damit es den Kommunen möglich ist, Kinder und Jugendliche ausrei-
chend zu unterstützen.
Das Ausgabevolumen in der Kinder- und Jugendhilfe ist aber grundsätzlich ange-
sichts der Finanzmisere der öffentlichen Haushalte zu Recht im Fokus von Konsoli-
dierungsansätzen. Die Haushaltslage gebietet es, dass alle kinder- und jugendpoli-
tisch verantwortbaren Einsparpotentiale durch Änderungen des SGB VIII aktiviert
werden. Gleichzeitig sind aber auch die Kommunen aufgefordert, noch stärker
voneinander zu lernen. Sie sollten vermehrt guten Beispielen einzelner Kommunen
folgen, denen es schon heute im Rahmen bestehender Gesetze besser als anderen
gelingt, ihre Maßnahmen effektiver und effizienter zu steuern. Die in der Diskus-
sion und in der Erprobung befindlichen neuen Finanzierungs-, Steuerungs- und
Qualitätsentwicklungsmodelle für die Kinder- und Jugendhilfe müssen evaluiert
und weiterentwickelt werden. Hier bestehen Chancen, in der Jugendhilfe an einigen
Stellen Mittel einzusparen, vor allem aber auch die Mittel zielgenauer und wir-
kungsvoller einzusetzen.
Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Entlastung der Kommunen im sozialen Be-
reich (KEG) will der Bundesrat im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe vor allem
durch Kosteneindämmungen die Gestaltungsspielräume der Kommunen langfristig
erhalten, bürokratische Hemmnisse abbauen, den Vollzug deregulieren und Länder-
kompetenzen stärken. Diese Ziele können uneingeschränkt geteilt werden.
Die in dem Gesetzentwurf vorgesehenen Maßnahmen können aber dann nicht
befürwortet werden, wenn sie nicht treffsicher diese Ziele erreichen oder wenn in
nicht akzeptabler Weise negative Wirkungen für die Kinder- und Jugendhilfe damit
verbunden sind.
Das Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten würde durch die vorgeschla-
gene Änderung des § 5 Abs. 2 SGB VIII in seinem Kern eingeschränkt und damit
auch das Pluralismusgebot in der Kinder- und Jugendhilfe getroffen. Eine Einschrän-
kung des Wunsch- und Wahlrechts auf absolut kostengleiche oder kostengünstigere
Maßnahmen ist daher abzulehnen. Allerdings erweist sich der unbestimmte Rechts-
begriff „unverhältnismäßig“ in der Tat teilweise als problematisch. Daher sollte eine
Neuregelung gefunden werden, die dem Wunsch- und Wahlrecht klarere, vertretbare
Grenzen setzt, ohne es auszuhöhlen.

Drucksache 15/5624 – 4 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode
Die Praxis hat gezeigt, dass für intensivpädagogische Maßnahmen im Ausland Re-
gelungen getroffen werden müssen, die eine bessere Steuerung und Qualitätssiche-
rung in diesem Bereich gewährleisten. Allerdings sollten diese Maßnahmen im
Ausnahmefall als Option für die Kinder- und Jugendhilfe weiterhin bestehen und
nicht, wie im Gesetzentwurf vorgesehen, generell ausgeschlossen werden. Im Ein-
zelfall können intensivpädagogische Maßnahmen im Ausland sehr wohl sinnvoll
und verantwortbar sein. Es ist auch keineswegs zwingend, dass sie gegenüber Maß-
nahmen im Inland höhere Kosten verursachen.
Die vorgesehenen Einschränkungen der Hilfen für seelisch behinderte oder von
einer solchen Behinderung bedrohte Kinder und Jugendliche und die Verlagerung
dieses Leistungsbereichs in die Sozialhilfe können nicht mitgetragen werden. Es ist
zu bezweifeln, dass aus dem System der Sozialhilfe heraus mit gleicher Qualität wie
bisher durch die Kinder- und Jugendhilfe und ihre Rehaträger Hilfen für die betrof-
fenen Kinder und Jugendlichen erbracht werden könnten. Eine Kosteneinsparung
wäre im Übrigen durch die reine Zuständigkeitsänderung nicht zu erwarten, son-
dern lediglich eine Kostenverschiebung. Kosteneinsparungen durch tatsächliche
Leistungseinschränkungen für seelisch behinderte oder von solch einer Behinde-
rung bedrohte Kinder und Jugendliche könnten beabsichtigt sein, würden aber da-
mit deren Integration gefährden. Sollte der Maßnahmenerfolg bei einer weniger
zielgruppengerechten Aufgabenerfüllung gemindert werden, würde dies sogar zu-
sätzliche Folgekosten produzieren können. Kostenreduzierungen werden in diesem
Bereich statt durch die im KEG geplanten Gesetzesänderungen besser nach dem
Vorbild einiger Kommunen erzielt: durch eine Vereinheitlichung der Auslegung und
insgesamt die Professionalisierung in der Gesetzesanwendung, dort wo Defizite be-
stehen.
Der Einschränkung der Jugendhilfemaßnahmen für junge Volljährige kann nicht zu-
gestimmt werden. Diese Leistungen sollen auch künftig in Ausnahmefällen über die
Vollendung des 21. Lebensjahres hinaus möglich sein. Schon heute ist rechtlich
sicher gestellt, dass die Maßnahmen davor beginnen müssen. Unter anderem bei
Jugendlichen, die Hilfeabbrüche, Strafvollzug, Psychiatrie hinter sich haben oder
bei Frauen, die durch ungewollte Schwangerschaft, Zwangsheirat oder dergleichen
in Notlagen geraten sind, kann eine Fortsetzung von Maßnahmen der Kinder- und
Jugendhilfe auch über das 21. Lebensjahr hinaus notwendig sein. Eine erfolgreiche
pädagogische Arbeit auch mit jungen Erwachsenen ist nach Studien sehr wohl mög-
lich. Im Übrigen ist die im Gesetzentwurf getroffene Feststellung, dass Maßnahmen
für junge Erwachsene zur Regel und zum enormen Kostenfaktor geworden seien,
nicht generell zutreffend. Vielmehr zeigt sich auch hier, dass durch eine Professio-
nalisierung in der Gesetzesumsetzung Einsparungen möglich sind.
In der Gesamtabwägung verfolgt der Gesetzentwurf zwar begrüßenswerte Ziele und
beinhaltet zustimmungswürdige Ansätze, wie die vorgesehenen Landesrechtsvorbe-
halte. Allerdings bestehen schwerwiegende Defizite, die zu einer bedeutenden Ver-
schlechterung in einzelnen Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe führen würde,
ohne dass im Endeffekt mit echten Einsparungen sicher zu rechnen wäre.

Berlin, den 1. Juni 2005
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

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