BT-Drucksache 15/5274

Leistungsfähigkeit der Chemiewirtschaft in Deutschland und Europa erhalten

Vom 13. April 2005


Deutscher Bundestag Drucksache 15/5274
15. Wahlperiode 13. 04. 2005

Antrag
der Abgeordneten Birgit Homburger, Angelika Brunkhorst, Michael Kauch,
Daniel Bahr (Münster), Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher, Helga Daub,
Jörg van Essen, Ulrike Flach, Otto Fricke, Horst Friedrich (Bayreuth), Rainer
Funke, Hans-Michael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, Ulrich Heinrich,
Hellmut Königshaus, Dr. Heinrich L. Kolb, Jürgen Koppelin, Harald Leibrecht,
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dirk Niebel, Günther Friedrich Nolting,
Eberhard Otto (Godern), Detlef Parr, Gisela Piltz, Dr. Andreas Pinkwart,
Dr. Rainer Stinner, Carl-Ludwig Thiele, Jürgen Türk, Dr. Claudia Winterstein,
Dr. Volker Wissing, Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP

Leistungsfähigkeit der Chemiewirtschaft in Deutschland und Europa erhalten

Der Bundestag wolle beschließen:
I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Der Deutsche Bundestag begrüßt das Ziel der Chemikalienpolitik auf europäischer
Ebene, die Sicherheit für Mensch und Umwelt beim Umgang mit Chemikalien zu
verbessern und anerkennt die Notwendigkeit einer binnenmarktverträglichen und
WTO-konformen Fortentwicklung der Stoffpolitik auf europäischer Ebene. Kern-
punkt aktueller Bemühungen ist die Schaffung eines neuen, einheitlichen sowie
zeit- und mengenmäßig abgestuften Systems zur Registrierung, Bewertung und
Zulassung von Chemikalien, dem alle Stoffe bis spätestens 2012 unterworfen wer-
den sollen (sog. REACH-System). Dabei steht die Zielsetzung im Vordergrund,
Gesundheits- und Umweltschutz bei gleichzeitiger Erhaltung der internationalen
Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern.
Die Wettbewerbsfähigkeit der in Deutschland betroffenen Unternehmen darf nicht
durch unnötige kostspielige Vorgaben zusätzlich belastet werden. Zu berücksichti-
gen ist, dass die Chemieunternehmen in Deutschland – insbesondere auch kleine
und mittlere Unternehmen – von den im Verordnungsentwurf der EU-Kommission
zur Chemikalienpolitik vorgesehenen Regelungen europaweit am stärksten be-
troffen sind. Außer den Unternehmen der Chemischen Industrie, der Land- und
Forstwirtschaft und der Mineralölwirtschaft geht es um die Stoffhersteller und
Verwender in der gesamten deutschen Industrie, vom Automobilbau über die
Metallerzeugung, Elektrotechnik- und Elektronikindustrie, Baustoff- und Druck-
industrie bis hin zur Lebensmittelherstellung. Ohne dass aus umwelt-, gesund-
heits- oder verbraucherpolitischer Sicht Handlungsbedarf bestünde, würden durch
den Verordnungsentwurf innovative Stoffe, Zubereitungen und – sekundär über
Verwendungszwecke – Erzeugnisse verboten. Auf dem Importwege kämen diese
Erzeugnisse dann jedoch wieder auf die Märkte in Europa. Unterdessen würde
sich die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen ver-
schlechtern. Damit wären die vorgesehenen Regelungen innovationshemmend
und insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen in Deutschland existenz-

Drucksache 15/5274 – 2 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

bedrohend, ohne dass Umwelt und menschliche Gesundheit hiervon profitieren
würden.
Vor allem kleine und mittlere Unternehmen werden mit dem bisher vorgesehenen
Registrierungs- und Zulassungsverfahren überfordert. In der Gesamtwirkung
droht REACH Investitionen im Bereich der Chemiebranchen zu verhindern, weil
die durch REACH ausgelöste Verunsicherung der Unternehmen allgemein die
chemiewirtschaftliche Attraktivität europäischer Standorte mindert. Außerdem
steht zu befürchten, dass REACH die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen und
insbesondere der deutschen Chemiewirtschaft verschlechtert, weil diese als Pro-
duzent auf den Auslandsmärkten wegen der höheren Kosten gegenüber ihren aus-
ländischen Konkurrenten benachteiligt sein wird. Die bereits heute zu beobach-
tende Tendenz der Produktionsverlagerung zahlreicher Weiterverarbeiter von
Chemikalien in das außereuropäische Ausland droht durch die Einführung des
REACH-Systems beschleunigt zu werden, weil dort die für die jeweiligen Ver-
wendungszwecke geeigneten Chemikalien erhältlich und/oder erheblich preiswer-
ter sein werden als aus europäischer Produktion. Damit würde zum einen die Inno-
vationskraft der betroffenen Branchen und Unternehmen geschwächt, u. a. weil
durch REACH das zur Verfügung stehende Rohstoffportfolio erheblich einge-
schränkt zu werden droht. Zum anderen würde die bereits erkennbare Tendenz der
Produktionsverlagerung ins außereuropäische Ausland weiter verstärkt. Dies hätte
gravierende negative Auswirkungen auf das Sicherheitsniveau beim Umgang mit
Chemikalien und damit auf den Gesundheits-, Umwelt- und Verbraucherschutz.
Die FDP-Bundestagsfraktion hat auf die vorgenannten Sachverhalte und Probleme
beizeiten hingewiesen und im Deutschen Bundestag konkrete Maßnahmen zur
Verbesserung der Chemikalienpolitik auf europäischer und deutscher Ebene vor-
geschlagen (siehe dazu im Einzelnen die Anträge der FDP-Bundestagsfraktion
„Für eine wirksame und vernunftgeleitete Chemikaliengesetzgebung“ Bundes-
tagsdrucksache 14/5761 vom 4. April 2001 sowie „Leistungsfähigkeit der deut-
schen Chemiewirtschaft im europäischen Rahmen sichern“, Bundestagsdruck-
sache 15/1332 vom 1. Juli 2003 in der aktualisierten Fassung vom 10. Dezember
2003).
Der Deutsche Bundestag anerkennt die Bereitschaft der betroffenen deutschen
Unternehmen und ihrer Mitarbeiter, eine systematisierte Risikoaufklärung bei
Stoffen zu unterstützen. Hierauf muss eine auch auf dem Kooperationsgedanken
gegründete Umwelt-, Gesundheits- und Verbraucherschutzpolitik aufbauen. Dabei
muss die Ausgestaltung der europarechtlichen Vorgaben durch eine Abwägung
zwischen dem Schutz der Gesundheit sowie der Erhaltung der Umwelt einerseits
und den Belangen der Wettbewerbsfähigkeit der betroffenen Industrien andererseits
geprägt sein. Das bedeutet, dass bei allen Maßnahmen im Rahmen von REACH der
Aufwand für die Risikobewertung in angemessenem Verhältnis zum Risiko stehen
muss (Risikoproportionalität). Demgegenüber ist mit Blick auf den aktuellen Ver-
ordnungsentwurf zu kritisieren, dass der bisher mengenbezogene Ansatz der EU-
Kommission zur Registrierung bewirkt, dass bestimmte Stoffe allein wegen der
durch eine Überschreitung von Produktionsmengenschwellen ausgelösten Regist-
rierungskosten aus dem Markt ausscheiden werden, obwohl sie absehbar keine
Gefährdung von Mensch und Umwelt bedeuten.
II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
– unter Beibehaltung des bestehenden Schutzniveaus für die Bevölkerung und

unter Berücksichtigung der vorgenannten Einwände und Kritikpunkte auf den
europäischen Regelungsentwurf zur Chemikalienpolitik in einem Sinne Ein-
fluss zu nehmen, wonach im Interesse der in den betreffenden Branchen be-
schäftigten Menschen dafür Sorge getragen wird, dass die Innovations- und
Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Chemiewirtschaft nicht unnötig beein-
trächtigt wird,

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/5274

– zu verhindern, dass aufgrund der neuen europäischen Regelungen zur Chemi-
kalienpolitik ein unnötiger und kostspieliger bürokratischer Aufwand entsteht,
der innovationshemmend wirkt und insbesondere auch für kleine und mittlere
Unternehmen existenzbedrohend wäre, zumal weder die Umwelt noch die
menschliche Gesundheit hiervon profitieren würden,

– auf die Gestaltung chemikalienrechtlicher Vorgaben auf europäischer Ebene
unter Beteiligung der Fraktionen des Deutschen Bundestages im vorgenannten
Sinne sachgerechten Einfluss zu nehmen,

– im weiteren Prozess der chemikalienpolitischenWillensbildung auf europäischer
Ebene konkret darauf hinzuwirken, dass
– bereits der Priorisierung im Registrierungsverfahren und der Festlegung des

Umfangs der einzureichenden Informationen eine Gefahrenbewertung zu
Grunde gelegt wird, wobei anerkannte Elemente einer Risikobewertung
anzuwenden sind, welche insbesondere die Stoffeigenschaften, die jeweils
betreffende Dosis-Wirkung-Beziehung und die Art des Umgangs und die
damit verbundenen Gefahren (Exposition) berücksichtigen,

– vor der Registrierung ein standardisiertes Vorauswahlverfahren (Screening)
durchgeführt wird, bei dem Substanzen mit besonderen Risiken herausgefil-
tert werden können und weitergehende Untersuchungen jeweils dann vorge-
sehen werden, wenn es Anhaltspunkte für besondere Risiken gibt. Bei den
Vorauswahlverfahren und den folgenden Untersuchungen ist auf die viel-
fach bereits vorhandenen gesicherten Erkenntnisse und Daten zurückzugrei-
fen (Sicherheitsdatenblätter, arbeitsmedizinische Datenblätter, Erkenntnisse
der Toxikologie und der Pharmakologie),

– die Regeln erheblich verbessert werden, die verhindern sollen, dass auf-
grund von REACH Know-how aus Europa abfließt, damit die Wettbewerbs-
fähigkeit Europas Schaden nimmt und Investitionen in Bildung und Kreati-
vität entwertet werden. Dies ist erforderlich, da im Registrierungsverfahren
erhebliche Mengen an Informationen zwischen Herstellern, Kunden, Behör-
den und Öffentlichkeit ausgetauscht werden,

– die Regelungen zu den Zulassungsverfahren ebenfalls risikoproportional
und dementsprechend differenziert ausgestaltet werden, wobei die Regelun-
gen klar, transparent und vorhersehbar formuliert sein müssen und das Prin-
zip der Eigenverantwortung zu berücksichtigen und mit einzubeziehen ist,

– der Zielsetzung einer schlanken, praxistauglichen und unbürokratischen
Gestaltung der REACH-Vorgaben besondere Priorität eingeräumt und ein
angemessenes Kosten-Nutzen-Verhältnis der Regelungen sichergestellt wird,

– bei der Auswahl der zulassungspflichtigen Stoffe ausschließlich objektive
Elemente einer Risikobewertung berücksichtigt werden, die den Ermessens-
spielraum der Behörde klar definieren. Das Zulassungsverfahren ist aus-
schließlich in einer Europäischen Chemikalienagentur durchzuführen und

– die Mitgliedstaaten zur Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen und zu-
sätzlichem administrativen Aufwand sowie zur Vereinheitlichung hoher
Standards im Umwelt-, Gesundheits- und Verbraucherschutz auf die Ein-
richtung nationaler Registrierungsstellen mit eigenen Kompetenzen verzich-
ten, da eine zentrale Europäische Chemikalienagentur als Voraussetzung für
ein effizientes Registrierungs- und Zulassungsverfahren anzusehen ist.

Berlin, den 12. April 2005
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.