BT-Drucksache 15/5131

Zur Tagung des Europäischen Rates am 22. /23. März 2005 - Stabilität und Wachstum stärken

Vom 16. März 2005


Deutscher Bundestag Drucksache 15/5131
15. Wahlperiode 16. 03. 2005

Antrag
der Abgeordneten Dr. Werner Hoyer, Jürgen Türk, Dr. Claudia Winterstein,
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Rainer Brüderle, Daniel Bahr (Münster),
Angelika Brunkhorst, Ernst Burgbacher, Helga Daub, Jörg van Essen, Ulrike Flach,
Otto Fricke, Horst Friedrich (Bayreuth), Rainer Funke, Hans-Michael Goldmann,
JoachimGünther (Plauen), Dr. Karlheinz Guttmacher, Dr. Christel Happach-Kasan,
Klaus Haupt, Ulrich Heinrich, Birgit Homburger, Michael Kauch, Hellmut
Königshaus, Dr. Heinrich L. Kolb, Gudrun Kopp, Jürgen Koppelin, Harald
Leibrecht, Markus Löning, Dirk Niebel, Günther Friedrich Nolting, Hans-Joachim
Otto (Frankfurt), Eberhard Otto (Godern), Detlef Parr, Cornelia Pieper, Gisela Piltz,
Dr. Andreas Pinkwart, Dr. Max Stadler, Dr. Rainer Stinner, Dr. Volker Wissing,
Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP

Zur Tagung des Europäischen Rates am 22./23. März 2005 –
Stabilität und Wachstum stärken

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Die Tagung des Europäischen Rates am 22. und 23. März 2005 wird über die Zu-
kunft des Stabilitäts- und Wachstumspakts entscheiden und mit der geplanten
Neuordnung der sog. Lissabon-Strategie voraussichtlich die wirtschaftspoliti-
schen Zielsetzungen der Europäischen Union (EU) für die nächsten Jahre
bestimmen. Damit sind die Nachhaltigkeit und die Gesundung der öffentlichen
Finanzen und die Schaffung eines wirtschaftsfreundlichen Klimas in Europa,
das mehr zukunftssichere Arbeitsplätze, gesunde Sozialkassen und besseren
Umweltschutz ermöglicht, die entscheidenden Themen bei diesem Gipfel.
Der Europäische Rat hat auf seiner Tagung in Lissabon am 23. und 24. März
2000 den Bürgerinnen und Bürgern der Europäischen Union versprochen, die
Union binnen zehn Jahren – also bis zum Jahr 2010 – zum dynamischsten und
wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen, der in der Lage ist,
dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und krisenfesteren Arbeitsplätzen,
einem größeren sozialen Zusammenhalt und mehr Umweltschutz zu erzielen.
Die Messlatten dafür sind die USA und Japan.
Fünf Jahre nach der Verkündung dieser sog. Lissabon-Strategie zeigt sich, dass
die Europäische Union mit diesem Vorhaben auf ein politisches Desaster in
Form einer großen Blamage sowohl nach innen als auch nach außen zusteuert.
Der am 4. November 2004 mit dem Titel „Die Herausforderung annehmen – Die
Lissabon-Strategie für Wachstum und Beschäftigung“ vorgelegte Bericht einer
hochrangigen Sachverständigengruppe unter Vorsitz des ehemaligen niederlän-
dischen Ministerpräsidenten Wim Kok bringt es auf den Punkt: Anstatt kleiner
zu werden, vergrößert sich die Wachstumslücke zu den USA und zu Japan man-

Drucksache 15/5131 – 2 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

gels entschlossener Reformen und mangels entschlossenen politischen Han-
delns. Der Bericht fasst lapidar zusammen: „Die Zeit wird knapp, und wir kön-
nen es uns nicht leisten, uns selbstzufrieden zurückzulehnen.“
Lissabon droht, zum Synonym für gebrochene politische Versprechen und für
verpasste Chancen zu werden. Das darf nicht passieren, sonst rutscht die Euro-
päische Union in eine Glaubwürdigkeitskrise.
Deutschland hat dreimal hintereinander 2002, 2003 und 2004 die vom Stabi-
litäts- und Wachstumspakt gesetzten Höchstgrenzen sowohl für die jährliche
öffentliche Neuverschuldung (3 Prozent vom BIP) als auch für die öffentliche
Gesamtverschuldung (60 Prozent vom BIP) überschritten. Die jetzt maßgeblich
von der Bundesregierung betriebene Neuinterpretation des Stabilitätspakts mit
dem Ziel, diesen aufzuweichen, soll nachträglich die seit Jahren die Bestimmun-
gen des Stabilitätspakts verletzende Politik der Bundesregierung legitimieren.
Angesichts des Widerstands der meisten Mitgliedstaaten und vor allem des
luxemburgischen Ratsvorsitzenden, Ministerpräsident Jean-Claude Juncker, hat
sich die nicht stabilitätsorientierte Haltung der Bundesregierung noch verhärtet.
Wenn die Bundesregierung nicht spätestens auf der Tagung des Europäischen
Rates am 22./23. März 2005 in Brüssel einlenkt, gefährdet sie die deutsche
Verhandlungsposition in der in diesem Frühjahr beginnenden Endrunde um
Aushandlung des EU-Haushaltsrahmens für die Jahre 2007 bis 2013. Für
Deutschland ungünstige Verhandlungspakete können dann nach der Devise ent-
stehen: Deutschland bekommt die laxe Handhabung des Stabilitätspakts und ist
dafür bereit, mehr Geld in die Brüsseler Kassen zu zahlen. Dies wäre ein fatales
Signal für die Bürger, die Finanzmärkte und nicht zuletzt für alle Bemühungen,
die Struktur der Ausgaben der Europäischen Union für die nächste Finanz-
periode zukunftsfähig zu machen.
Die gegenwärtigeWachstumskrise der europäischen Volkswirtschaften ist in be-
deutendem Maße der deutschen Wirtschaftskrise geschuldet, die in erheblicher
Weise durch den Reformstau in Deutschland verursacht ist. Die Bundesregie-
rung ist nicht in der Lage, tatkräftig die notwendigen Reformen anzugehen. Des-
halb fällt Deutschland bei fast allen wirtschaftlichen Kennzahlen im europäi-
schen Vergleich zurück. Wenn die stärkste Volkswirtschaft der Europäischen
Union krankt, kann es Europa insgesamt nicht gelingen, den Menschen Zu-
kunftsperspektiven zu geben.
Es ist daher notwendig, die Prioritäten der Agenda von Lissabon neu zu definie-
ren, die Verantwortlichkeiten klar zu benennen und in den Mitgliedstaaten, vor
allem in Deutschland, die notwendigen ordnungspolitischen Reformen endlich
entschlossen durchzusetzen. Nur mit nachhaltigem, inflationsfreiem und auf ge-
sunden Staatsfinanzen aufbauendemWirtschaftswachstumwird es gelingen, zu-
kunftsfähige Arbeitsplätze zu schaffen und unsere sozialen und ökologischen
Standards zu halten oder auszubauen.
Die wesentlichen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen dafür müssen in aller-
erster Linie von den Mitgliedstaaten geschaffen werden. Der Bundesregierung
kommt dabei eine besondere Verantwortung zu. Nur durch Aufbrechen der Ver-
krustungen wird es gelingen, Deutschland wieder zur Wachstumslokomotive in
Europa zumachen.Mehr wirtschaftliche Kraft für Deutschland stärkt auch unser
und das außenpolitische Gewicht der Europäischen Union.
Es ist richtig, dass der Präsident der Europäischen Kommission, José Manuel
Durão Barroso, die Verwirklichung der überarbeiteten Lissabon-Strategie zum
Kernanliegen seines fünfjährigen Mandats gemacht hat und sich für eine deut-
liche Verschlankung des Koordinierungsprozesses in der Wirtschafts- und Be-
schäftigungspolitik ausspricht. Der Deutsche Bundestag ist der Auffassung, dass
die Europäische Kommission im wohlverstandenen deutschen Eigeninteresse
hierbei jede politische Unterstützung verdient: Die Europäische Kommission
muss die Vollendung des Binnenmarkts abschließen, um so neue Wachstums-

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/5131

chancen und Wachstumsreserven zu erschließen. Ihr besonderes Augenmerk
muss den noch zu stark regulierten, aber immer wichtiger werdenden Dienstleis-
tungsmärkten gelten. Hier ruhen enorme wirtschaftliche Möglichkeiten, die
durch eine entschlossene und mit Augenmaß durchgeführte Liberalisierung frei-
gesetzt werden können. Der Abbau behindernder Überreglementierungen auf
den europäischen Dienstleistungsmärkten wird Kreativität ermöglichen und so
wesentliche Wachstumsimpulse geben.
Die Diskussion um die Öffnung des Dienstleistungsmarktes, aber auch die
schleppende Umsetzung der Öffnung der Energiemärkte und des Eisenbahnver-
kehrs zeigen, dass der bereits in den Römischen Verträgen 1957 angelegte
offene EU-Binnenmarkt ohne Diskriminierungen immer noch nicht verwirklicht
ist. Es ist die Aufgabe der Europäischen Kommission, konsequent die hierfür
noch erforderlichen Initiativen zu ergreifen und darauf zu achten, dass die
Mitgliedstaaten die Fristen für die nationale Umsetzung europäischen Wirt-
schaftsrechts unbedingt einhalten. Die Europäische Kommission darf nicht
zögern, notfalls von ihrem Klagerecht vor dem Europäischen Gerichtshof
Gebrauch zu machen.
Die Chemikalienpolitik der Europäischen Kommission ist jedoch leider noch
nicht entschlossen auf das wichtigste Ziel Wirtschaftswachstum ausgerichtet.
Die Europäische Kommission muss mit ihrem entsprechenden Verordnungsvor-
schlag mehr auf die Bedürfnisse der europäischen Industrien, insbesondere auf
die Bedürfnisse der mittelständischen Unternehmen in der Chemieindustrie ein-
gehen. Bei der Chemikaliengesetzgebung steht der effektive Schutz vonMensch
und Umwelt im Vordergrund. Die Wettbewerbsfähigkeit der betroffenen Unter-
nehmen darf aber nicht durch unnötige kostspielige Vorgaben zusätzlich belastet
werden. Andernfalls würde die Tendenz der Produktionsverlagerung ins außer-
europäische Ausland weiter verstärkt. Dies hätte gravierende negative Auswir-
kungen auf das Sicherheitsniveau beim Umgang mit Chemikalien und damit auf
den Gesundheits-, Umwelt- und Verbraucherschutz. Die bislang vorgesehenen
Regelungen sind innovationsfeindlich und insbesondere für kleine und mittlere
Unternehmen und ihre Beschäftigten in Deutschland existenzbedrohend, ohne
dass Umwelt und menschliche Gesundheit profitieren würden.
Die Umsetzung europäischen Rechts durch den Deutschen Bundestag und den
Bundesrat darf schließlich nicht mehr dazu führen, dass europäisches Rahmen-
recht national weiterhin in einerWeise verschärft und bürokratisiert wird, die die
Wettbewerbssituation der deutschen Wirtschaft gegenüber ihren europäischen
Konkurrenten verschlechtert oder erschwert.
Der Europäische Rat wird die Reformanstrengungen Rumäniens und Bulgariens
auf dem Weg in die Europäische Union und die Haltung Kroatiens gegenüber
dem Internationalen Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien
(ICTY) bewerten. Der Deutsche Bundestag schließt sich der Auffassung des
luxemburgischen Ratsvorsitzes an, dass Kroatien in vollem Umfang mit dem
ICTY zusammenarbeiten muss. Die Bundesregierung muss gemeinsam mit den
europäischen Partnern die kroatische Regierung drängen und nach Wegen su-
chen, um ggf. das ernsthafte Bemühen der kroatischen Regierung zu unterstüt-
zen, damit der mutmaßliche Kriegsverbrecher und ehemalige kroatische Gene-
ral Ante Gotovina an das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag ausgeliefert
wird. Kroatien hat einen Platz in der Europäischen Union, muss sich aber wie
alle anderen Mitgliedstaaten auch die Werte und Ziele zu Eigen machen, die mit
der Mitgliedschaft in der Europäischen Union verbunden sind.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
sich insbesondere auf der kommenden Tagung des Europäischen Rates am
22./23. März 2005 dafür einzusetzen,

Drucksache 15/5131 – 4 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode
– dass der Europäische Rat die laufenden Beratungen um den Stabilitäts- und
Wachstumspakt beendet, den Pakt in seiner jetzigen Form bestätigt und da-
rüber hinaus kräftigt, so dass sich die Mitgliedstaaten verpflichten, in Auf-
schwungzeiten Gesamtverschuldung und Neuverschuldung zurückzuführen;

– dass die verbesserte Anwendung des Stabilitäts- und Wachstumspakts euro-
parechtlich konform durch Anpassung der aus dem Primärrecht der Europä-
ischen Union abgeleiteten Ratsverordnungen geschieht;

– dass Kommissionspräsident JoséManuel Durão Barroso und denMitgliedern
seiner Kommission das eindeutige politische Signal gegeben wird, sie bei der
Vollendung des Binnenmarkts und bei der Liberalisierung des wachstums-
trächtigen Dienstleistungssektors politisch voll zu unterstützen;

– dass bei der Verfolgung der überarbeiteten Lissabon-Strategie die Prioritäten
klar geordnet werden: inflationsfreies Wachstum, Marktöffnung, ausgegli-
chene öffentliche Haushalte, strukturelle Reformen, Investitionen in Bildung,
Ausbildung und Forschung;

– dass die von der Europäischen Kommission vorgeschlagene Dienstleistungs-
richtlinie nicht zurückgezogen oder durch zu viele Ausnahmen oder gar ein
völliges Abgehen vom Herkunftslandprinzip entwertet wird, denn die kom-
plette Harmonisierung der den wachsenden Dienstleistungsmarkt betreffen-
den nationalen Regelungen ist weder möglich noch wünschenswert;

– dass der Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Dienstleistungs-
richtlinie durch Vorschläge für Maßnahmen ergänzt wird, die die grenzüber-
schreitende Zusammenarbeit der die Bestimmungen der Richtlinie später
ausführenden nationalen Behörden der Mitgliedstaaten verbessert;

– dass die von der Kommission und im Kok-Bericht geforderte radikale Ver-
schlankung der wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Koordinierung in
Angriff genommen wird;

– dass die vom Kok-Bericht geforderte raschere Liberalisierung der früheren
Monopolbranchen Post, Eisenbahnverkehr und Energie schnellstmöglich in
die Tat umgesetzt wird;

– dass bei der Schaffung und Umsetzung europäischen Rechts auch im Bereich
Chemie (REACH) konsequent entsprechend den Bedürfnissen der mittel-
ständischen Wirtschaft verfahren wird;

– dass europäische Richtlinien national nicht verschärft oder neue Bürokra-
tien geschaffen werden, die geeignet sind, die unternehmerische Initiative in
Deutschland zu blockieren und damit der deutschen Wettbewerbsposition in
Europa schaden;

– dass der EU-Haushalt umgeschichtet wird, damit in den nächsten Jahren
zusätzliche Mittel in Bildung, Wissenschaft und Forschung fließen, die der
wesentliche Wachstumsmotor der Zukunft sind;

– dass entsprechend der Beschlüsse des Europäischen Rates und des Minister-
rates Kroatiens aufgefordert wird, in vollem Umfang mit dem Kriegsver-
brechertribunal in Den Haag zusammenzuarbeiten, und dass Kroatien ggf.
dabei unterstützt wird, den mutmaßlichen Kriegsverbrecher und ehemaligen
kroatischen General Ante Gotovina an das Internationale Kriegsverbrecher-
tribunal in Den Haag (ICTY) auszuliefern.

Berlin, den 15. März 2005
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

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