BT-Drucksache 15/4910

Europäische Chemikalienpolitik nach dem "REACH"-System

Vom 16. Februar 2005


Deutscher Bundestag Drucksache 15/4910
15. Wahlperiode 16. 02. 2005

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Birgit Homburger, Angelika Brunkhorst, Michael Kauch, Dr. Karl
Addicks, Daniel Bahr (Münster), Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher, Jörg van Essen,
Ulrike Flach, Otto Fricke, Horst Friedrich (Bayreuth), Dr. Karlheinz Guttmacher,
Ulrich Heinrich, Dr. Werner Hoyer, Hellmut Königshaus, Dr. Heinrich L. Kolb, Gudrun
Kopp, Sibylle Laurischk, Harald Leibrecht, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger,
Dirk Niebel, Eberhard Otto (Godern), Detlef Parr, Gisela Piltz, Dr. Rainer Stinner,
Carl-Ludwig Thiele, Dr. Claudia Winterstein, Dr. Volker Wissing, Dr. Wolfgang
Gerhardt und der Fraktion der FDP

Europäische Chemikalienpolitik nach dem „REACH“-System

Die Fraktion der FDP begrüßt das Ziel der Chemikalienpolitik auf europäischer
Ebene, die Sicherheit für Mensch und Umwelt beim Umgang mit Chemikalien
zu verbessern. Ein effektiver Schutz von Mensch und Umwelt muss für die Ge-
setzgebung verpflichtend sein und bleiben. Vergessen werden darf dabei nicht,
dass Deutschland schon heute über ein vorbildliches Sicherheitsniveau beim
Umgang mit Chemikalien verfügt, welches laufend weiterentwickelt wurde und
wird.
Am 29. Oktober 2003 hat die EU-Kommission den Entwurf einer Verordnung
für eine neue EU-Chemikalienpolitik (REACH) vorgelegt und zugleich eine Ge-
setzesfolgenabschätzung (Extended Impact Assessment) präsentiert. Darin wer-
den die zu erwartenden Kosten für die europäische Industrie auf bis zu 5,2 Mrd.
Euro beziffert. Mittlerweile wird der Verordnungsvorschlag im Ministerrat, im
Europäischen Parlament und seinen Ausschüssen intensiv und kontrovers auf
der Grundlage weiterer Folgenabschätzungen diskutiert, die zum Teil noch
höhere Kosten ausweisen.
In der Absicht, das REACH-System weniger kostenintensiv, praktikabler und
effizienter zu gestalten, hat die EU-Kommission Zeitungsberichten zufolge zwi-
schenzeitlich signalisiert, den Verordnungsentwurf überarbeiten zu wollen
(siehe Meldung „EU-Kommission lenkt im Streit über Chemikalien ein“, in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. Januar 2005). Demnach solle u. a. dem
Ansatz „eine Substanz, eine Registrierung“ gefolgt werden und die Datenanfor-
derungen nicht mehr nur von der Produktionsmenge eines Stoffes abhängen,
sondern auch von dem Risiko, das von ihm ausgehe. Weiterer Nachbesserungs-
bedarf betreffe die Relation der durch REACH ausgelösten Kosten zu den in den
jeweils betroffenen Branchen und Unternehmen erzielten Umsätzen und die Fra-
ge, wie unter einem REACH-Regime mit importierten Produkten umgegangen
werden soll. Dazu habe das Europäische Parlament eine Liste von insgesamt
zehn Nachbesserungspunkten vorgelegt.

Drucksache 15/4910 – 2 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Verfügt die Bundesregierung über konkrete Kenntnisse und Informationen

bezüglich der Kostenwirkungen, die mit einer Einführung des geplanten
REACH-Systems in seiner gegenwärtigen Fassung verbunden wären, und
wenn ja, aus welchen Untersuchungen sind diese Kenntnisse und Infor-
mationen abgeleitet, wie lauten diese gegebenenfalls und welche Schluss-
folgerungen leitet die Bundesregierung daraus ab?

2. Ist die eingangs zitierte Darstellung, wonach die EU-Kommission beabsich-
tige, den REACH-Verordnungsentwurf im beschriebenen Sinne überarbei-
ten zu wollen, nach Kenntnis der Bundesregierung zutreffend, und wenn ja,
gedenkt die Bundesregierung an einer solchen Überarbeitung unterstützend
mitzuwirken und in welcher Form soll dies ggf. geschehen?

3. Wenn nein, wie ist der gegenwärtige Stand der chemikalienpolitischen
Willensbildung auf europäischer Ebene tatsächlich und gedenkt die Bundes-
regierung darauf hinzuwirken, dass der REACH-Verordnungsentwurf im
eingangs beschriebenen Sinne überarbeitet wird?

4. Trifft es nach Kenntnis der Bundesregierung zu, dass das Europäische Par-
lament eine Liste von insgesamt zehn Nachbesserungspunkten zum Entwurf
der REACH-Verordnung vorgelegt hat?

5. Wenn ja, um welche „Nachbesserungspunkte“ handelt es sich dabei und wie
lautet die Position der Bundesregierung zu diesen Vorschlägen im Einzel-
nen?

6. Wie bewertet die Bundesregierung die Aussage, wonach REACH Investiti-
onen im Bereich der Chemiebranchen verhindere, weil die durch REACH
ausgelöste Verunsicherung der Unternehmen allgemein die chemiewirt-
schaftliche Attraktivität europäischer Standorte mindere, und welche
Schlussfolgerungen leitet die Bundesregierung daraus ab?

7. Wie bewertet die Bundesregierung die Aussage, wonach REACH der Wett-
bewerbsfähigkeit schade, weil europäische Produzenten auf den Märkten
außerhalb der EUwegen der höheren Kosten gegenüber ihren ausländischen
Konkurrenten benachteiligt seien, und welche Schlussfolgerungen leitet die
Bundesregierung daraus ab?

8. Wie bewertet die Bundesregierung die Sorge, dass die bereits heute zu
beobachtende Tendenz der Produktionsverlagerung zahlreicher Weiterver-
arbeiter von Chemikalien in das außereuropäische Ausland sich durch die
Einführung des REACH-Systems beschleunigen werde, weil dort die für
die jeweiligen Verwendungszwecke geeigneten Chemikalien erhältlich
und/oder erheblich preiswerter sein werden als aus europäischer Produk-
tion, und welche Schlussfolgerungen leitet die Bundesregierung daraus ab?

9. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass die in den Fragen 7 und 8
beschriebenen Konsequenzen angesichts der Tatsache, dass Deutschland
über ein vorbildliches Sicherheitsniveau beim Umgang mit Chemikalien
verfügt, gegebenenfalls negative Auswirkungen auf den Gesundheits- und
Umweltschutz haben könnte, und welche Schlussfolgerungen leitet die
Bundesregierung daraus ab?

10. Wie bewertet die Bundesregierung die Aussage, wonach REACH die Inno-
vationskraft der betroffenen Branchen und Unternehmen behindere, u. a.
weil durch REACH das zur Verfügung stehende Rohstoffportfolio erheblich
eingeschränkt werde, und welche Schlussfolgerungen leitet die Bundes-
regierung daraus ab?

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/4910

11. Wie bewertet die Bundesregierung den vorliegenden Entwurf der REACH-
Verordnung unter dem Aspekt des Bürokratieabbaus der Wettbewerbs-
politik und der Wahrung von Geschäftsgeheimnissen, insbesondere im
Hinblick auf
a) den Vorschlag des europäischen Umweltkommissars Stavros Dimas,

Orientierungshilfen zur Unterstützung der kleinen und mittleren Unter-
nehmen bei der Umsetzung des neuen Systems zu erarbeiten und diesen
zur Verfügung zu stellen?

b) den von Großbritannien und Ungarn in die Diskussion gebrachten so ge-
nannten OSOR-Ansatz („one substance, one registration“), wonach – bei
im Vergleich zum Vorschlag der EU-Kommission unveränderten Test-
anforderungen – alle Unternehmen zur Konsortienbildung verpflichtet
werden sollen und nur mehr eine Registrierung pro Stoff erfolgen soll?

c) den Vorschlag, die direkten Testkosten insbesondere in den niedrig-
volumigen Mengenbändern zu vermindern, um hierdurch auch die Zahl
der entfallenden Stoffe zu senken und die Gesamtkosten zu reduzieren,
sowie weiterführende Anregungen, welche z. B. auf die Bezugnahme auf
Kerndatensätze, den Verzicht auf bestimmte Standards, eine einmalige
Vorregistrierung und die risikoabhängige Registrierung auf Basis von
Expositionskategorien abstellen?

d) die Überlegung, dass das REACH-System zur Konsolidierung und Straf-
fung des europäischen und des deutschen Chemikalienrechts beitragen
könne, und welche konkreten chemikalienrechtlichen Gesetze und Ver-
ordnungen gedenkt die Bundesregierung im Eindruck von REACH in-
nerhalb welches zeitlichen Rahmens in diesem Sinne zu überarbeiten
oder zusammenzufassen und ggf. zu straffen?

e) die Überlegung, dass die Mitgliedstaaten zur Vermeidung von Wettbe-
werbsverzerrungen und zusätzlichem administrativen Aufwand sowie
zur Vereinheitlichung hoher Standards im Umwelt-, Gesundheits- und
Verbraucherschutz auf die Einrichtung nationaler Registrierungsstellen
mit eigenen Kompetenzen verzichten sollten, da eine zentrale Europäi-
sche Chemikalienagentur als Voraussetzung für ein effizientes Registrie-
rungs- und Zulassungsverfahren anzusehen sei?

12. Hat die Bundesregierung eigene oder die unter Frage 11 genannten Vor-
schläge ergänzende Vorstellungen zur unbürokratischen und effizienten
Umsetzung des REACH-Konzepts, und wenn ja, um welche eigenen
konkreten Vorschläge, Konzepte und Ergänzungen handelt es sich dabei im
Einzelnen?

13. Falls die Bundesregierung einen oder mehrere der unter Frage 11 genannten
Vorschläge für unterstützenswert hält, auf welche konkrete Weise gedenkt
sie, dies jeweils zu tun?

14. Ist die in dem eingangs zitierten Zeitungsbericht getroffene Aussage, die
EU-Kommission werde „… gemeinsam mit dem Europäischen Parlament
eine „Roadmap“ erarbeiten“, um den bisherigen Verordnungsvorschlag zu
überarbeiten, nach Kenntnis der Bundesregierung zutreffend, und wenn ja,
welche Sachverhalte enthält diese „Roadmap“ im Einzelnen?

15. Hat die Bundesregierung seit Vorlage des aktuellen REACH-Entwurfs dies-
bezügliche Gespräche und Verhandlungen mit den europäischen Partner-
ländern geführt und Einfluss auf die chemikalienpolitische Willensbildung
auf europäischer Ebene genommen, und wenn ja, welche Ziele wurden
dabei verfolgt und welche Resultate wurden im Einzelnen erreicht?

Drucksache 15/4910 – 4 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode
16. Ist nach Kenntnis der Bundesregierung die in dem eingangs zitierten
Zeitungsbericht getroffene Aussage zutreffend, dass Industriekommissar
Günter Verheugen beabsichtige, die Überarbeitung des Verordnungsent-
wurfs „zu einem Kernpunkt der erneuerten Lissabon-Strategie zu machen“?

17. Sieht die Bundesregierung einen Zusammenhang zwischen der geplanten
REACH-Verordnung und dem Kernziel der Lissabon-Strategie, die Wettbe-
werbsfähigkeit der Unternehmen in der EU zu fördern, und wenn ja, welche
konkreten Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, um in diesem Sinne
auf europäischer Ebene tätig zu werden?

18. Sind die geplanten REACH-Vorgaben nach Einschätzung der Bundesregie-
rung mit dem Regelwerk der Welthandelsorganisation vereinbar, und wenn
nein, in welcher konkreten Hinsicht erscheinen der Bundesregierung genau
welche der geplanten Vorgaben problematisch und in welcher Weise ge-
denkt die Bundesregierung darauf hinzuwirken, dass diesen Bedenken auf
europäischer Ebene Rechnung getragen wird?

19. SindderBundesregierungkonkreteAlternativkonzepte zurVerbesserungder
geplanten REACH-Verordnung bekannt, und wenn ja, um welche Konzepte
mit welchen konkreten Vorschlägen handelt es sich dabei im Einzelnen?

20. Wie lautet nach Kenntnis und Erwartung der Bundesregierung der weitere
Zeitplan zur Beratung und Verabschiedung der geplanten REACH-Vor-
gaben auf europäischer Ebene?

Berlin, den 15.Februar 2005
Birgit Homburger
Angelika Brunkhorst
Michael Kauch
Dr. Karl Addicks
Daniel Bahr (Münster)
Rainer Brüderle
Ernst Burgbacher
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Horst Friedrich (Bayreuth)
Dr. Karlheinz Guttmacher
Ulrich Heinrich
Dr. Werner Hoyer
Hellmut Königshaus
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Dirk Niebel
Eberhard Otto (Godern)
Detlef Parr
Gisela Piltz
Dr. Rainer Stinner
Carl-Ludwig Thiele
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

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