BT-Drucksache 15/4702

Strategien gegen Rechtsextremismus

Vom 19. Januar 2005


Deutscher Bundestag Drucksache 15/4702
15. Wahlperiode 19. 01. 2005

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Dr. Max Stadler, Klaus Haupt, Cornelia Pieper, Ernst Burgbacher,
Gisela Piltz, Rainer Funke, Jörg van Essen, Dr. Karl Addicks, Daniel Bahr (Münster),
Rainer Brüderle, Angelika Brunkhorst, Helga Daub, Ulrike Flach, Otto Fricke,
Horst Friedrich (Bayreuth), Hans-Michael Goldmann, Joachim Günther (Plauen),
Dr. Christel Happach-Kasan, Ulrich Heinrich, Birgit Homburger, Dr. Werner Hoyer,
Michael Kauch, Hellmut Königshaus, Dr. Heinrich L. Kolb, Gudrun Kopp, Jürgen
Koppelin, Sibylle Laurischk, Harald Leibrecht, Ina Lenke, Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger, Markus Löning, Dirk Niebel, Günther Friedrich Nolting, Hans-
Joachim Otto (Frankfurt), Eberhard Otto (Godern), Detlef Parr, Dr. Rainer Stinner,
Dr. Claudia Winterstein, Dr. Volker Wissing, Dr. Wolfgang Gerhardt und
der Fraktion der FDP

Strategien gegen Rechtsextremismus

Eine intensive Befassung mit dem Thema „Rechtsextremismus und Fremden-
feindlichkeit“ wird angesichts dieser wiederkehrenden Problematik immer
dringlicher. Insbesondere seit der Wiedervereinigung stellt der aufkeimende
politische Extremismus eine Herausforderung für die Demokratie in Deutsch-
land dar.
Dies wurde nicht nur Anfang der 90er Jahre durch die gewaltsamen Angriffe
auf in Deutschland lebende Ausländer u. a. in Mölln, Solingen, Hoyerswerda
oder Rostock-Lichtenhagen verdeutlicht, sondern manifestierte sich auch zu-
letzt durch die Wahlerfolge rechtsextremer Parteien in Sachsen (NPD 9,2 %),
Brandenburg (DVU 6,1 %) und dem Saarland (NPD 4,0 %).
Die rechtsextremen Parteien gewinnen entscheidend bei jungen, formal niedrig
gebildeten Männern an Popularität. In Sachsen erreichte die NPD bei den 18-
bis 29-jährigen Männern 21 %, bei allen unter 35-jährigen mit Hauptschul-
abschluss sogar 26 %. Bei Arbeitslosen kam die NPD immerhin auf 18 % und
die DVU auf 13 %.
Nahezu alle Anhänger (96 %) der NPD in Sachsen fühlen sich in ihrem Leben
benachteiligt und sehen aufgrund der Anzahl der in Deutschland lebenden Aus-
länder eine „Überfremdungsgefahr“. Die Popularität des Rechtsextremismus im
Osten steht unter anderem in einem Zusammenhang mit der hohen Arbeitslo-
sigkeit und den wirtschaftlichen Strukturschwächen, von denen insbesondere
dieser Teil Deutschlands betroffen ist. Wie der Wahlerfolg der NPD im Saar-
land im September 2004 oder das geplante Bombenattentat der neonazistischen
„Kameradschaft Süd“ in München im September 2003 gezeigt hat, wäre es
dennoch leichtfertig, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus als ein rein
ostdeutsches Phänomen zu bezeichnen. Nach einer Umfrage der Mannheimer
„Forschungsgruppe Wahlen“ vom Herbst 2004 können sich bundesweit 6 %

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aller Wahlberechtigten vorstellen, eine gemeinsame Liste von NPD und DVU
zu wählen. Ein Zusammenschluss der rechtsextremen Parteien würde aber das
bisherige Manko der inneren Zerstrittenheit der Rechtsextremisten beseitigen.
Diesbezüglich ist alarmierend, dass im Oktober 2004 sich die Parteichefs
Dr. Gerhard Frey (DVU) und Udo Voigt (NPD) auf eine taktische Zusammen-
arbeit in der Gestalt einigten, dass die DVU zu den Landtagswahlen in Schles-
wig-Holstein im Februar 2005 nicht antreten werde, um der NPD das Feld zu
überlassen. Ein solches Vorgehen hatte sich bereits bei den Wahlen in Sachsen
und Brandenburg als erfolgreich erwiesen. Nach Ansicht der beiden Parteichefs
habe man gesehen, dass der Schlüssel zum Erfolg darin liege, dass jeweils nur
eine nationale Partei auf dem Stimmzettel stehe. Dies sei auch das Ziel für die
Bundestagswahl 2006.
NPD-Parteichef Udo Voigt macht keinen Hehl aus den verfassungsfeindlichen
Absichten: In einem Interview vom 24. September 2004 mit der Zeitschrift
„Junge Freiheit“ wird er mit den Worten zitiert: „Es ist unser Ziel, die BRD
ebenso abzuwickeln, wie das Volk vor fünfzehn Jahren die DDR abgewickelt
hat. Dies geht offensichtlich auch über die Wahlurne.“
Bedenklich ist, wie groß die Erfolge rechter Parteien und Organisationen bei
jungen Menschen sind. Nach Angaben des Bundesamtes für Verfassungsschutz
soll es derzeit insgesamt 169 rechtsextreme Organisationen mit 41 500 Mitglie-
dern und Sympathisanten geben. 2002 wurden 146 Organisationen gezählt. In
der Neonazi-Szene stieg die Anzahl der Gruppierungen gegenüber 2002 (72)
auf 95 an. Ebenso ist die Anzahl der bekannten Neonazis von 2 600 auf 3 000
gestiegen.
In vielen Gebieten Ostdeutschlands ersetzen Kameradschaften die im Westen
über Jahrzehnte gewachsene bürgerliche, soziale Infrastruktur für Kinder und
Jugendliche. Diese Kameradschaften formen das Freizeitverhalten der Mit-
glieder, wobei rechtsextremistische Grundpositionen eine weltanschauliche
Klammer bilden, die die Gruppenidentität prägt. Tatsächlich ist es im Osten ge-
lungen, „national befreite“ Zonen zu schaffen, in denen der Rechtsextremismus
zur dominierenden Alltagskultur aufgestiegen ist. Man brüstet sich damit, „aus-
länderfrei“ zu sein. Wer in seinem Aussehen oder seinen Ansichten dem
rechten Mainstream nicht entspricht, muss im Alltag mit Ausgrenzung, Beleidi-
gungen, Drohungen oder tätlichen Übergriffen rechnen.
Dort wo Jugendzentren, Vereine oder andere Anlaufstationen den Sparzwängen
zum Opfer gefallen sind, sind die Rechten zur Stelle und bieten sich als Helfer
an. Durch die Kameradschaften oder ähnliche Organisationen finden sie einen
direkten Zugang zu Kindern und Jugendlichen und können sie mit einem ge-
fährlichen Ideologiecocktail beeinflussen.
Es sind meist Angst und Unzufriedenheit, Defizite im sozialen Umfeld, fehlen-
de Bildung und Ausbildung, zunehmende Perspektivlosigkeit durch Arbeits-
losigkeit oder auch eine höhere Anfälligkeit zum Mitläufertum, die einen Teil
der Bevölkerung zu den rechtsextremen Parteien treiben. Dabei wird die Angst
und Unzufriedenheit auf Ausländer, insbesondere auf Asylbewerber, projiziert.
In der Öffentlichkeit zeigt sich eine Neigung zu einem neuen Umgang mit den
Erblasten aus der NS-Zeit. Vermehrt wird die Leidensgeschichte von Deutschen
in den Vordergrund gestellt. Fernsehdokumentationen oder Filme wenden sich
von den Verbrechen der nationalsozialistischen Diktatur ab und fokussieren auf
einzelne Personen oder Vorgänge. Dies birgt die Gefahr, dass die Stimme der
Opfer in den Hintergrund gerät und durch eine Verdrängung in Vergessenheit
gerät. Es ist aber eine Aufgabe der Demokratie, dem entgegenzuwirken.
In Anbetracht der erwähnten Umstände stellt sich erneut die Frage, wie die
Öffentlichkeit, die Parteien und die Medien darauf angemessen reagieren. Teil-
weise gerät in Vergessenheit, dass die Fremdenfeindlichkeit und der Rechts-

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/4702

extremismus ein dauerhaftes Problem in Deutschland sind. In der Öffentlich-
keit wird dieses Problem oftmals nur punktuell wahrgenommen, etwa wenn
rechte Parteien einen Wahlerfolg verbuchen konnten oder es zu schwerwiegen-
den Gewaltexzessen kam. Nach einer kurzzeitigen Skandalisierung gerät das
Thema schnell wieder in den Hintergrund.
Die Demokratie hat aber einen Dauerauftrag, sich für die Demokratie einzuset-
zen, Toleranz zu fördern und Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit zu
bekämpfen.
Wir fragen die Bundesregierung:
1. Wie haben sich die Mitgliederzahlen in den rechtsextremen Parteien in

Deutschland in den letzten 5 Jahren entwickelt?
Wie bewertet die Bundesregierung diese Entwicklungen?

2. Liegen Statistiken für einen europaweiten Vergleich hinsichtlich des Zu-
wachses rechtsextremer Parteien vor?
Welche Erkenntnisse ergeben sich daraus?

3. Wie hat sich der Organisationsgrad der „Kameradschaften“ in den letzten
5 Jahren entwickelt?
Wie schätzt die Bundesregierung diese Entwicklung ein?

4. Wie hat sich die Zahl der Straftaten mit rechtsextremistischem und frem-
denfeindlichem Hintergrund in den letzten 5 Jahren in den einzelnen Bun-
desländern entwickelt?

5. Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, um rechtsextremistische
Aktivitäten im Internet besser zu verhindern und konsequent zu verfolgen?

6. Wie viele Internetseiten wurden im vergangenen Jahr aufgrund rechtsextre-
mistischer oder fremdenfeindlicher Inhalte vom Bundesamt für Verfas-
sungsschutz beobachtet und gegen wie viele wurden Sperrverfügungen er-
lassen?

7. Welche Strategien verfolgt die Bundesregierung zur Bekämpfung von
Rechtsextremismus und der „neuen Rechten“?

8. Welche maßgeblichen polizeilichen (Präventiv-)Konzepte gegen Rechts-
extremismus und Fremdenfeindlichkeit sind in den letzten 5 Jahren durch-
geführt worden?
Welche sind weiterhin beabsichtigt?
Welche Schlussfolgerungen lassen sich daraus schließen?

9. Wie bewertet die Bundesregierung die bisherigen Ergebnisse des Ausstei-
gerprogramms für Rechtsextremisten?

10. Wie bewertet die Bundesregierung die bisherigen Erfolge des Aktions-
programms „Jugend für Toleranz und Demokratie“ sowie der Förderpro-
gramme Xenos, Civitas und Entimon?
Welche Folgerungen zieht sie daraus für die weitere Arbeit?

11. Welche freien Träger und Organisationen im Bereich der Kinder- und Ju-
gendarbeit sind kontinuierlich in diese Programme der Bundesregierung
einbezogen?
In welcher Form?

12. Welche Projekte und Maßnahmen hat die Bundeszentrale für politische
Bildung zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Fremdenfeindlich-
keit in den letzten 5 Jahren durchgeführt, und welche weiteren sind geplant?
Welche Erkenntnisse ergeben sich daraus?

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13. Inwieweit konnte die Bundesregierung in den vergangenen 5 Jahren zur
Förderung demokratischen Verhaltens in Kindergarten und Schule beitra-
gen und will sie diese Bemühungen fortsetzten?

14. Inwieweit leisten der internationale Jugendaustausch und die Städtepart-
nerschaften einen Beitrag zur Förderung von Toleranz und Weltoffenheit?
Wie kann diese Förderung verstärkt werden?

15. Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, Akteure der Zivilgesell-
schaft, wie Vereine, Verbände, Unternehmen, Stiftungen, Bildungsträger,
Behörden und öffentliche Einrichtungen, zu einem verstärktem Engagement
für eine demokratische Kultur und gegen Rechtsextremismus und Frem-
denfeindlichkeit zu bewegen?

Berlin, den 19. Januar 2005
Dr. Max Stadler
Klaus Haupt
Cornelia Pieper
Ernst Burgbacher
Gisela Piltz
Rainer Funke
Jörg van Essen
Dr. Karl Addicks
Daniel Bahr (Münster)
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Helga Daub
Ulrike Flach
Otto Fricke
Horst Friedrich (Bayreuth)
Hans-Michael Goldmann
Joachim Günther (Plauen)
Dr. Christel Happach-Kasan
Ulrich Heinrich
Birgit Homburger

Dr. Werner Hoyer
Michael Kauch
Hellmut Königshaus
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Ina Lenke
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Markus Löning
Dirk Niebel
Günther Friedrich Nolting
Hans-Joachim Otto (Frankfurt)
Eberhard Otto (Godern)
Detlef Parr
Dr. Rainer Stinner
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

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