BT-Drucksache 15/4539

Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften stärken

Vom 16. Dezember 2004


Deutscher Bundestag Drucksache 15/4539
15. Wahlperiode 16. 12. 2004

Antrag
der Abgeordneten Swen Schulz (Spandau), Heinz Schmitt (Landau), Jörg Tauss,
Dr. Hans-Peter Bartels, Klaus Barthel (Starnberg), Sören Bartol, Uwe Beckmeyer,
Ute Berg, Gerd Friedrich Bollmann, Willi Brase, Ulla Burchardt, Martina Eickhoff,
Dagmar Freitag, Dieter Grasedieck, Christel Humme, Nicolette Kressl, Horst
Kubatschka, Ute Kumpf, Gesine Multhaupt, Dietmar Nietan, Dr. Carola Reimann,
René Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Siegfried Scheffler, Horst Schmidbauer
(Nürnberg), Wilhelm Schmidt (Salzgitter), Carsten Schneider,
Dr. Angelica Schwall-Düren, Dr. Margrit Spielmann, Andrea Wicklein,
Brigitte Wimmer (Karlsruhe), Franz Müntefering und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Ursula Sowa, Marieluise Beck (Bremen),
Volker Beck (Köln), Grietje Bettin, Hans-Josef Fell, Dr. Reinhard Loske,
Irmingard Schewe-Gerigk, Silke Stokar von Neuforn, Katrin Göring-Eckardt,
Krista Sager und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften stärken

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Die Innovationsinitiative der Bundesregierung ist ein wichtiges Element zur
Sicherung der Zukunftsfähigkeit Deutschlands. Investitionen in Bildung und
Forschung sind die Zukunftsinvestitionen schlechthin. Bund und Länder haben
in der Vergangenheit beachtliche Summen für Wissenschaft und Forschung
aufgebracht. Neben der Notwendigkeit verstärkter Investitionen in Forschung
und Innovation bleiben Strukturveränderungen der Forschungslandschaft unab-
dingbar.
Bund und Länder haben über Eckdaten der Spitzenförderung in Wissenschaft
und Forschung verhandelt. Auf Betreiben der Länder wurde die Entscheidung
über eine gemeinsame Initiative im Sommer 2004 allerdings vertagt. Wissen-
schaft und Forschung in Deutschland können durch die Bildung von Exzellenz-
zentren mit ihrer Verknüpfung von universitärer und außeruniversitärer For-
schung, die auch die Fachhochschulen einschließen sollen, durch die besondere
Förderung einiger Universitäten mit ausgezeichnetem Stärkenprofil und durch
die bessere Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses in Graduierten-
kollegs einen entscheidenden Schritt voran gebracht werden. Dies gilt neben der
natur- und ingenieurwissenschaftlichen Forschung auch für die geistes-, sozial-
und kulturwissenschaftliche Forschung.
Die geistes-, sozial- und kulturwissenschaftliche Forschung findet in Deutsch-
land vor allem an Hochschulen statt. Ihre Förderung liegt daher überwiegend bei
den Ländern. Von den aktuellen Kürzungen in den Haushalten einiger Länder

Drucksache 15/4539 – 2 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

sind die Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften häufig in besonderem Maß
betroffen. Darüber hinaus stehen die Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften
durch die Einführung neuer Instrumente der Hochschulfinanzierung in den
meisten Bundesländern vor neuen Herausforderungen. Durch die Zuweisung
von Globalhaushalten erhalten die Hochschulen die für die eigene strategische
Orientierung und Profilierung im internationalen Wettbewerb wünschenswerte
und notwendige Autonomie beim Einsatz der Haushaltsmittel. Dadurch geraten
die Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften wie alle anderen Disziplinen im
hochschulinternen Wettbewerb um die Verteilung der Mittel unter zusätzlichen
Legitimations- und Leistungsdruck. Dies ist Ausdruck der grundlegenden Ver-
änderungen akademischer und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen wissen-
schaftlichen Arbeitens. Qualitätskontrolle und ausgeprägter Wille zur Verände-
rung sind für alleWissenschaften wichtige Grundlagen zur erfolgreichen Gestal-
tung von nachhaltigen Umstrukturierungsprozessen. Für alle Wissenschaftsbe-
reiche gleichermaßen gilt, dass die Verwendung öffentlicher Mittel durch
Qualität und Exzellenz begründet sein muss.
Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften leisten einen spezifischen und un-
verzichtbaren Beitrag zur Förderung von gesellschaftlichen Innovationen. Sie
beschäftigen sich mit Kultur als Inbegriff menschlicher Lebensformen über das
übliche Verständnis der Tradierung des kulturellen Erbes hinaus. Eine ihrer
Bedeutungen liegt in der Erarbeitung wichtiger Beiträge zur Bewältigung der
gesellschaftlichen Wandlungsprozesse im Zeichen der Globalisierung für Ge-
sellschaft, Wirtschaft und Politik. Im Sinne eines fächer- und disziplinenüber-
greifenden Studiums Generale, das angesichts des beschleunigten weltweiten
Wissenszuwachses neben der Vermittlung von spezialisiertem Fachwissen zu-
nehmend an Bedeutung gewinnt, kommt der geistes-, sozial und kulturwissen-
schaftlichen Lehre an Hochschulen eine unverzichtbare Rolle zu. Auch für ein
kontextbezogenes Studium ist das Angebot von Geistes-, Sozial- und Kultur-
wissenschaften notwendig. Sie geben wichtige Impulse beispielsweise zur inter-
kulturellen Bildung, zur Humanisierung der Lebens- und Arbeitswelt und zur
nachhaltigen Gestaltung des technologischen Fortschritts im Rahmen der Tech-
nikfolgenabschätzung, wie sie etwa das Büro für Technikfolgenabschätzung
beim Deutschen Bundestag erbringt. Gestärkt werden müssen insbesondere die
Frauen- und Geschlechterforschung, die Friedens- und Konfliktforschung, die
Migrations- und Integrationsforschung sowie die Bildungsforschung, da ihre
Beiträge zur Bewältigung der Probleme der heutigen globalisierten Welt von
zentraler Bedeutung sind.
Der Wettbewerb zur zeitlich befristeten Auswahl von Spitzenuniversitäten
schafft die Möglichkeit, neue strukturelle Fördermaßnahmen für die Geistes-,
Sozial und Kulturwissenschaften zu entwickeln. Als ein Element der Profilie-
rung geistes-, sozial- und kulturwissenschaftlicher Forschung an Universitäten
können zeitlich befristete, themenzentrierte Forschungskollegs geeignet sein, an
denen (Nachwuchs-)Wissenschaftlerinnen und -wissenschaftler aus verschiede-
nen Ländern und Disziplinen an interdisziplinären und interkulturellen Frage-
stellungen arbeiten. Solche Einrichtungen wurden im Januar 2004 auch vom
„European Research Advisory Board“ (EURAB) in seinen Empfehlungen für
die Kommission für das 7. Forschungsrahmenprogramm als neues Instrument
zur Förderung der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften vorgeschlagen.
Dabei kann auf Erfahrungen aus Einrichtungen ähnlicher Zielrichtung wie dem
Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) in Bielefeld, dem Max-Weber-
Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien in Erfurt, dem Hanse-
Wissenschaftskolleg in Delmenhorst und dem Wissenschaftskolleg Berlin oder
den „Maisons des Sciences de l’Homme“ in Frankreich zurückgegriffen werden.
Sinnvoll erscheinen die Einbeziehung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
(DFG) und der Alexander von Humboldt-Stiftung.

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/4539

Im Jahr 2007 wird die Förderung der geisteswissenschaftlichen Zentren in
Deutschland auslaufen, die auf Empfehlung des Wissenschaftsrates eingerichtet
wurden und seit 1996 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geför-
dert werden. Im Wissenschaftsrat befasst sich seit Juli 2003 eine Arbeitsgruppe
Geisteswissenschaften mit den materiellen und strukturellen Bedingungen von
Forschung und Lehre in den Geisteswissenschaften in und außerhalb von Hoch-
schulen. Sie evaluiert auch das Programm der „Geisteswissenschaftlichen Zen-
tren“. Im Koalitionsvertrag wurde festgehalten, dass ein neues Förderkonzept
für Geistes- und Sozialwissenschaften entwickelt werden soll, um die Interdis-
ziplinarität zu stärken. Dieses Vorhaben soll konkretisiert und die strukturelle
Neuordnung der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften unterstützt werden.

II. Der Deutsche Bundestag begrüßt,
– dass die Bundesregierung die „Innovationsinitiative“ gestartet hat und Bil-

dung und Forschung in den Mittelpunkt ihrer Politik stellt,
– dass sich die Bundesregierung zu dem politschen Ziel bekennt, die Gesamt-

ausgaben für Forschung und Entwicklung gemeinsam mit der Wirtschaft und
den Bundesländern bis zum Jahr 2010 auf drei Prozent des Bruttoinlands-
produkts zu erhöhen,

– dass die Bundesregierung Mittel in Höhe von 1 Mio. Euro in den Bundes-
haushalt 2005 eingestellt hat, um das Stiftungskapital für die Deutsche Stif-
tung Friedensforschung so zu erhöhen, dass ihre Arbeitsfähigkeit gesichert
ist,

– dass die Bundesregierung über
– die institutionelle Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

(DFG),
– die finanzielle Unterstützung für die in der Stiftung Deutsche Geisteswis-

senschaftliche Institute zusammengeführten Einrichtungen,
– die Zuwendungen für geistes-, sozial- und kulturwissenschaftlichen Insti-

tute im Rahmen der institutionellen Förderung der großen Forschungs-
organisationen,

– sowie mit Mitteln aus der Projektförderung des Bundes
ihren zuverlässigen Beitrag zur Stärkung der Geistes-, Sozial- und Kulturwis-
senschaften leistet.

III. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung im Rahmen der im
Plafond des Bundesministeriums für Bildung und Forschung verfügbaren
Mittel auf,

1. bei der konkreten Ausgestaltung des geplanten Exzellenzwettbewerbs dar-
auf zu achten, dass geistes-, sozial- und kulturwissenschaftliche Fakultäten
nicht benachteiligt werden. Es ist sicherzustellen, dass eigenständige Exzel-
lenznetze im Bereich der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften aufge-
baut werden können,

2. nach Vorliegen der Empfehlungen des Wissenschaftsrates ein Konzept zur
weiteren strukturellen Förderung der Geistes-, Sozial- und Kulturwissen-
schaften vorzulegen und zu prüfen, ob der Bund im Rahmen von Pilotvor-
haben in Kooperation mit den Ländern zur Finanzierung von Forschungs-
kollegs beitragen kann,

3. die Deutsche Forschungsgemeinschaft in ihren Bestrebungen zu bestärken,
ihre Förderinstrumente an die besonderen Erfordernisse der Geistes-, So-
zial- und Kulturwissenschaften anzupassen,

Drucksache 15/4539 – 4 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode
4. den jüngsten Empfehlungen des Wissenschaftsrates zum Akademienpro-
gramm zu folgen und gemeinsam mit den Ländern die langfristige und ver-
lässliche Finanzierung des Programms sicherzustellen, um die Grundlagen-
forschung im Bereich der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften zu
fördern,

5. auch im Bereich der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften ein beson-
deres Gewicht auf die Förderung in Ostdeutschland zu legen,

6. in enger Kooperation mit den Ländern Strategien zu entwickeln, um für die
kleinen Fächer im Bereich der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften
günstige Rahmenbedingungen zu schaffen und dabei auf die Expertise des
Wissenschaftsrates zurückzugreifen,

7. die Frauenforschung zu stärken, um ihren Beitrag für die Schließung beste-
hender Forschungslücken und die Bewältigung gesellschaftlicher Probleme
zu sichern,

8. dafür Sorge zu tragen, dass Erkenntnisse der Geistes-, Sozial- und Kultur-
wissenschaften zu den Veränderungen in der modernen Arbeitswelt ver-
stärkt Berücksichtigung finden, beispielsweise hinsichtlich der geänderten
Anforderungen an Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch den Einsatz
von IuK-Technologien oder durch die zunehmend globalisierten Unterneh-
mensstrukturen,

9. die interdisziplinäre Migrations- und Integrationsforschung in Deutschland
zu stärken, indem das Themenfeld durch Bundesmittel unterstützt wird,

10. die Bildungsforschung weiter zu intensivieren, da die Bedeutung eines im
internationalen Vergleich leistungsfähigen Bildungssystems zunimmt und
mittel- bis langfristige Entwicklungstrends wie z. B. die demographischen
Entwicklung auf die Gestaltung des Bildungssystems zurückwirken,

11. ausgewählten Feldern der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften wie
beispielsweise der Philosophie, der Wirtschaftswissenschaft oder der Me-
dienwissenschaft beim „Jahr der Wissenschaft“ analog zu den Naturwissen-
schaften eigene Themenjahre zu widmen,

12. unter Wahrung der deutschen Verhandlungsposition zur Agenda 2007 auf
europäischer Ebene darauf hinzuwirken, dass vor dem Hintergrund der ge-
planten Gründung eines European Research Council die geistes-, sozial-
und kulturwissenschaftliche Grundlagenforschung künftig einen höheren
Stellenwert erhält und Themen der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaf-
ten im 7. Europäischen Forschungsrahmenprogramm verstärkt Berücksich-
tigung finden; insbesondere soll auch die Friedens- und Konfliktforschung
darin Eingang finden.

Berlin, den 16. Dezember 2004
Franz Müntefering und Fraktion
Katrin Göring-Eckardt, Krista Sager und Fraktion

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