BT-Drucksache 15/4271

Vorstellungen der Bundesregierung zur Suche nach einem Endlager für radioaktive Abfälle

Vom 23. November 2004


Deutscher Bundestag Drucksache 15/4271
15. Wahlperiode 23. 11. 2004

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Birgit Homburger, Angelika Brunkhorst, Michael Kauch,
Dr. Karl Addicks, Daniel Bahr (Münster), Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher,
Helga Daub, Jörg van Essen, Ulrike Flach, Otto Fricke, Horst Friedrich (Bayreuth),
Rainer Funke, Hans-Michael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, Ulrich
Heinrich, Dr. Werner Hoyer, Dr. Heinrich L. Kolb, Gudrun Kopp, Jürgen Koppelin,
Harald Leibrecht, Ina Lenke, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger,
Dirk Niebel, Günther Friedrich Nolting, Hans-Joachim Otto (Frankfurt),
Eberhard Otto (Godern), Cornelia Pieper, Gisela Piltz, Dr. Hermann Otto Solms,
Dr. Max Stadler, Carl-Ludwig Thiele, Dr. Claudia Winterstein, Dr. Volker Wissing,
Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP

Vorstellungen der Bundesregierung zur Suche nach einem Endlager für
radioaktive Abfälle

Bereits im Koalitionsvertrag vom 20. Oktober 1998 wurde angekündigt, dass
ein nationaler Entsorgungsplan für die radioaktiven Abfälle erarbeitet werde.
Apodiktisch wurde festgestellt, dass für die Endlagerung aller Arten radio-
aktiver Abfälle ein einziges Endlager in tiefen geologischen Formationen aus-
reiche und die Endlagerung etwa im Jahr 2030 beginnen soll. Ohne diese zu
konkretisieren heißt es, dass an der Eignung des Endlagers Gorleben Zweifel
bestünden.
Im sog. Atomkonsens vom 14. Juni 2000 (unterzeichnet am 11. Juni 2001) hat
die Bundesregierung erklärt, dass die bisher gewonnenen geologischen
Befunde einer Eignungshöffigkeit des Salzstockes Gorleben nicht entgegen-
stünden. Gleichwohl werde die Erkundung des Salzstockes in Gorleben bis zur
Klärung konzeptioneller und sicherheitstechnischer Fragen für mindestens 3,
längstens jedoch 10 Jahre unterbrochen.
Zwischenzeitlich hatte das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit (BMU) einen „Arbeitskreis Auswahlverfahren Endlager“
(AkEnd) eingerichtet, der unter Berücksichtigung der beiden politischen Vorga-
ben (alle Arten radioaktiven Abfalls in ein einziges Endlager in tiefen geologi-
schen Formationen, das bis 2030 betriebsbereit sein soll) ein Verfahren und
Kriterien für die Suche und Auswahl eines bestmöglichen Standortes zur siche-
ren Endlagerung aller Arten radioaktiver Abfälle in Deutschland entwickeln
sollte.
Im Koalitionsvertrag von 2002 wurde angekündigt, dass nach Abschluss der
Arbeiten des AkEnd die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag einen
Beschlussvorschlag zu den Auswahlkriterien und dem Auswahlverfahren für
den Standort des Endlagers unterbreiten werde. Zuständigkeits- und Verfah-

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rensfragen, einschließlich der Standortentscheidung für ein Endlager, würden
gesetzlich festgelegt.
Obwohl der AkEnd seine Arbeiten bereits im Dezember 2002 abgeschlossen
hat, hat die Bundesregierung bis heute kein entsprechendes Gesetz vorgelegt.
Laut AkEnd muss die politische/rechtliche Festlegung des Auswahlverfahrens
„mit Blick auf den engen Zeitrahmen spätestens im Jahr 2004 beendet sein“
(AkEnd, Auswahlverfahren für Endlagerstandorte – Empfehlungen des AkEnd,
Dezember 2002), damit die Lagerung 2030 beginnen kann. Andere Experten
halten dies ohnehin für illusorisch. Sie gehen davon aus, dass das AkEnd-
Verfahren zu einem Zeitbedarf von mindestens 48 Jahren führt, d. h. der
Betriebsbeginn läge nach dem Jahr 2050.
Der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Jürgen
Trittin, hat kürzlich erklärt, mindestens drei Standorte in Deutschland als End-
lager erkunden lassen zu wollen.
In einem Schreiben des Bundesrechnungshofs (BRH) an den Vorsitzenden des
Haushaltsausschusses heißt es, dass mit dem Konzeptwechsel zum Ein-Endla-
ger-Konzept finanzielle Risiken für den Bundeshaushalt in Höhe von mehreren
Milliarden Euro verbunden seien. Zudem wird auf Positionen des Bundes-
ministeriums für Wirtschaft und Arbeit (BMWA), sowie des Bundesministe-
riums für Bildung und Forschung (BMBF) hingewiesen. Demnach sei laut
BMWA international ein Diskussionsstand gegeben, der sicherheitstechnische
Vorteile für ein Mehr-Endlager-Konzept und sicherheitstechnische Nachteile für
ein Ein-Endlager-Konzept sieht. Von Seiten des BMBF werde die Besorgnis ge-
äußert, dass durch Verzögerungen bei der Inbetriebnahme von „Schacht Konrad“
weitere, mit Strahlenbelastungen für das Personal verbundene Arbeiten zur
Behandlung der zwischengelagerten radioaktiven Abfälle erforderlich würden.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Wann wird die Bundesregierung eine Novelle des Atomgesetzes in den

Deutschen Bundestag einbringen?
2. Hält die Bundesregierung ihren Zeitplan derzeit noch für erreichbar, und

wenn ja, in welchen Zeitabschnitten soll das (noch zu regelnde) Verfahren
ablaufen?

3. Wird die Bundesregierung bereits gewonnene Erkenntnisse – z. B. auch über
den Standort Gorleben – in die neuerliche Endlagersuche einfließen lassen,
und wenn ja, welche werden dies sein?

4. Wenn nein, warum nicht?
5. Wie bewertet die Bundesregierung Meinungen, die die Suche nach „dem

bestgeeigneten Endlager“ als Illusion bezeichnen und wonach das geltende
Atomgesetz nicht mehr und nicht weniger fordere, als Anlagen zur End-
lagerung radioaktiver Abfälle, die die Anforderungen des Atomgesetzes ein-
halten?

6. Wie bewertet die Bundesregierung die in der Stellungnahme des Umwelt-
sachverständigenrates zu den so genannten Konsensgesprächen über die Be-
endigung der Atomenergie geäußerte Überzeugung, dass es keinen idealen
Standort für Endlager für (hoch-)radioaktive Abfälle gibt und die Option
einer Endlagerung in Gorleben offen gehalten werden solle?

7. Inwiefern hat oder wird die Bundesregierung den Aussagen des AkEnd aus
seinem zweiten Zwischenbericht Rechnung (ge)tragen, dass

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/4271

– die Verfolgung des Ein-Endlager-Konzeptes für die öffentliche Hand
beträchtliche Mehraufwendungen bedeutet (siehe auch Feststellung des
BRH im Schreiben an den Vorsitzenden des Haushaltsausschusses des
Deutschen Bundestages),

– eine Aufteilung der Abfälle auf zwei oder mehr Endlager wahrschein-
lich wesentliche sicherheitstechnische Vorteile bieten würde (siehe auch
Schreiben des BRH an den Vorsitzenden des Haushaltsausschusses des
Deutschen Bundestages) und

– bei der Verfolgung des Ein-Endlager-Konzeptes u. U. sicherheitstech-
nische Kompromisse zu schließen sind?

8. Trifft es zu, dass in keinem anderen Staat das Ziel einer gemeinsamen Ent-
sorgung aller Arten radioaktiven Abfalls in nur einem einzigen Endlager
verfolgt wird?

9. Trifft es zu, dass nach Kenntnissen des BMWA international ein Diskus-
sionsstand herrscht, der sicherheitstechnische Vorteile für ein Mehr-End-
lager-Konzept und sicherheitstechnische Nachteile für ein Ein-Endlager-
Konzept sieht?

10. Plant die Bundesregierung die Endlagerung definitiv in Deutschland, oder
gibt es Überlegungen innerhalb der Bundesregierung, deutschen Atommüll
auch außerhalb Deutschlands endzulagern, wenn und soweit im Ausland
ein besser geeignetes Endlager gefunden werden könnte, das entsprechen-
den Standards genügt?

11. Nach welchen Kriterien will die Bundesregierung ein geeignetes Endlager
bewerten/finden, insbesondere sollen nach den Plänen der Bundesregie-
rung die Sicherheitskriterien für die Endlagerung radioaktiver Abfälle in
einem Bergwerk aus dem Jahr 1983 fortgeschrieben werden oder sollen
diese nach den Überlegungen der Bundesregierung vollkommen unberück-
sichtigt bleiben?

12. Welche konkreten Zweifelsfragen müssen nach Auffassung der Bundes-
regierung bezüglich des möglichen Standortes Gorleben geprüft werden?

13. Wann hat die Bundesregierung die zur Klärung dieser Zweifelsfragen
erforderlichen Gutachtenaufträge jeweils vergeben und zu welchen (Zwi-
schen-)Ergebnissen haben diese jeweils geführt, bzw. für wann werden
Ergebnisse erwartet?

14. Wie erklärt die Bundesregierung den Widerspruch bezüglich der Tatsache,
dass sie einerseits den Antrag auf Planfeststellung von Schacht Konrad als
Endlager für schwach- und mittelradioaktive Abfälle gestellt (Bundesamt
für Strahlenschutz) und unterstützt hat (damit auch die Kriterien zugrunde
gelegt hat, die an die Endlagersuche insoweit angelegt wurden), aber
andererseits dieses Endlager nach der Logik des Ein-Endlager-Konzeptes
der Bundesregierung aufgegeben werden müsste?

15. Trifft es zu, dass das BMBF in einer Stellungnahme zum Entwurf des Plan-
feststellungsbescheides zum Endlagerprojekt „Schacht Konrad“ die Be-
sorgnis geäußert hat, dass durch Verzögerungen bei der Inbetriebnahme
von „Schacht Konrad“ weitere, mit Strahlenbelastungen für das Personal
verbundene Arbeiten zur Behandlung der zwischengelagerten radioaktiven
Abfälle erforderlich würden, und wenn ja, wie bewertet die Bundesregie-
rung dies?

16. Soll das eine Endlager nach den Plänen der Bundesregierung auch dann
dauerhaft offen gehalten werden, wenn alle radioaktiven Abfälle aus den
Kernkraftwerken endgelagert sind, um die weiterhin anfallenden schwach-
und mittelradioaktiven Abfälle aufzunehmen?

Drucksache 15/4271 – 4 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode
17. Wenn nein, wo sollen nach Auffassung der Bundesregierung die weiterhin
anfallenden schwach- und mittelradioaktiven Abfälle beseitigt werden?

18. Trifft es zu, dass Ende des Jahres 2000 rd. 67 000 m3 an radioaktiven
Abfällen mit vernachlässigbarer Wärmeentwicklung vorhanden waren und
über zwei Drittel dieser Abfälle aus Anlagen aus dem Verantwortungs-
bereich des Bundes stammten?

19. Wie bewertet die Bundesregierung die Aussage des Sprechers des Bundes-
ministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, dass die Bun-
desregierung mit der Rücknahme radioaktiven Abfalls aus der Wiederauf-
arbeitungsanlage in La Hague die „verkappte und illegale Lagerung von
deutschem Atommüll in Frankreich“ durch die Vorgängerregierung beende
(dpa, 8. November 2004), vor dem Hintergrund, dass nach dem geltenden
Atomgesetz (AtG), das unter der jetzigen Bundesregierung beschlossen
wurde, die Wiederaufarbeitung von bestrahlten Kernbrennstoffen bis Ende
Juni 2005 z. B. in der Anlage in La Hague als schadlose Verwertung (nicht:
„illegale Lagerung“) zulässig ist (vgl. § 9a Abs. 1 Satz 2 AtG)?

Berlin, den 23. November 2004
Birgit Homburger
Angelika Brunkhorst
Michael Kauch
Dr. Karl Addicks
Daniel Bahr (Münster)
Rainer Brüderle
Ernst Burgbacher
Helga Daub
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Horst Friedrich (Bayreuth)
Rainer Funke
Hans-Michael Goldmann
Dr. Christel Happach-Kasan
Ulrich Heinrich
Dr. Werner Hoyer

Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Harald Leibrecht
Ina Lenke
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Dirk Niebel
Günther Friedrich Nolting
Hans-Joachim Otto (Frankfurt)
Eberhard Otto (Godern)
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler
Carl-Ludwig Thiele
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing

Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

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