BT-Drucksache 15/3956

Ernährung als Menschenrecht

Vom 20. Oktober 2004


Deutscher Bundestag Drucksache 15/3956
15. Wahlperiode 20. 10. 2004

Antrag
der Abgeordneten Reinhold Hemker, Dr. Sascha Raabe, Dr. Herta Däubler-Gmelin,
Sören Bartol, Ulla Burchardt, Martin Dörmann, Elvira Drobinski-Weiß, Detlef
Dzembritzki, Siegmund Ehrmann, Marga Elser, Gabriele Groneberg, Gustav Herzog,
Gabriele Hiller-Ohm, Lothar Ibrügger, Klaus Werner Jonas, Karin Kortmann,
Ute Kumpf, Lothar Mark, Holger Ortel, Dr. Wilhelm Priesmeier, Walter Riester,
Dagmar Schmidt (Meschede), Wilhelm Schmidt (Salzgitter), Reinhard Schultz
(Everswinkel), Dr. Angelica Schwall-Düren, Jella Teuchner, Jörg Vogelsänger,
Brigitte Wimmer (Karlsruhe), Waltraud Wolff (Wolmirstedt), Manfred Helmut
Zöllmer, Franz Müntefering und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Ulrike Höfken, Thilo Hoppe, Volker Beck (Köln),
Cornelia Behm, Friedrich Ostendorff, Katrin Göring-Eckardt, Krista Sager
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Ernährung als Menschenrecht

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
1. Der Hunger in derWelt nimmt wieder zu. Nach anfänglichen Erfolgen bei der

Umsetzung der Millenium – Verpflichtung von 2000, den Anteil der an
Hunger leidenden Menschen bis 2015 zu halbieren, ist die Bekämpfung des
Hungers ins Stocken geraten. Die Zahlen der Ernährungs- und Landwirt-
schaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) belegen, dass ungeachtet
der Möglichkeiten zur Nahrungsmittelproduktion weltweit, heute ca. beinahe
900 Millionen Menschen ständig unterernährt sind. Die Versorgung mit
ausreichender und angemessener Nahrung gehört zu den grundlegenden
Menschenrechten.

2. Nach Angaben der FAO sind die Gründe für die Verschlechterung der
Nahrungssituation vielschichtig und unterscheiden sich nach Ländern und
Regionen. Nicht nur Naturkatastrophen, politische Unruhen und Instabilität,
kriegerische Auseinandersetzungen oder schlechtes Regierungshandeln be-
wirken mangelnden Zugang zu Nahrung, sondern auch Armut, Krankheiten
und Pandemien wie HIV/Aids, Malaria und Tuberkulose. Auch die internati-
onale Wirtschafts- und Handelspolitik wirkt dann negativ auf den Zugang zu
ausreichender Ernährung, wenn Finanzkrisen die Entwicklung der betroffe-
nen Länder um Jahre zurückwerfen, wenn auf Grund der Verschuldung der
Länder vorrangig „cash crops“ angebaut werden. Negativ wirken ebenfalls
handelspolitische Maßnahmen wie Exportsubventionen und gleichzeitige
Einfuhrbeschränkungen der Industrieländer oder die WTO-Regelungen über
die Patentierung geistigen Eigentums (TRIPS). Diese Probleme bei der Inte-
gration von Entwicklungsländern in denWelthandel und bei der Bekämpfung

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von Armut und Hunger sind bei den Welthandelskonferenzen von Doha und
Cancun deutlich formuliert und eine Entwicklungsrunde beschlossen wor-
den. Der Deutsche Bundestag unterstützt dies mit den Beschlüssen „Für eine
nachhaltige Agrarpolitik und einen gerechten Interessenausgleich bei den
laufenden WTO-Verhandlungen“ (Bundestagsdrucksache 15/500) und „Si-
cherung eines fairen und nachhaltigen Handels durch eine umfassende ent-
wicklungsorientierte Welthandelsrunde“ (Bundestagsdrucksache 15/1317).
Die Gestaltung der Regeln für den internationalen Handel im Rahmen der
WTO-Doha-Runde und insbesondere der Handel im Agrar- und in anderen
Bereichen können wichtige Beiträge zur Umsetzung des Menschenrechts auf
Ernährung („Recht auf Nahrung“) leisten. Voraussetzung dafür ist, dass die
Beschlüsse in den Bereichen Marktzugang, Exportwettbewerb und interne
Stützung sowie für eine besondere und differenzierte Behandlung der
Entwicklungsländer noch stärker auf die Ziele Ernährungssicherung und
Armutsbekämpfung ausgerichtet werden.

3. Die letzten Jahre zeigen, dass es erfolgreiche Strategien zur Bekämpfung des
Hungers auf nationaler und internationaler Ebene gibt. Dazu gehören das
Aktionsprogramm 2015 der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Mil-
lenniums-Entwicklungsziele, die der Deutsche Bundestag mit seinen Par-
lamentsbeschlüssen unterstützt (Bundestagsdrucksache 15/1005), wie auch
europäische und internationale Strategien zur Armutsbekämpfung und Er-
nährungssicherung, etwa zur Modernisierung und Stärkung des ländlichen
Raums und des Agrarsektors. Der Deutsche Bundestag unterstützt die Bun-
desregierung in internationalen Verhandlungen, die besondere Bedeutung der
Landwirtschaft für Entwicklungsländer zu berücksichtigen. Er begrüßt, dass
die multifunktionale Rolle der Landwirtschaft anerkannt wird, was ihren Bei-
trag zur Ernährungssicherung, zur nachhaltigen Entwicklung, zum Umwelt-,
Natur- und Landschaftsschutz, zur nachhaltigen Lebensfähigkeit des länd-
lichen Raumes und zur Armutsbekämpfung sowohl in den Entwicklungs-
ländern als auch in den Industriestaaten einschließt.
Über 100 Staaten haben mit dem Entwurf freiwilliger Leitlinien zur schritt-
weisen Verwirklichung des Rechts auf angemessene Nahrung die zentralen
Vorstellungen der Bundesregierung zur weltweiten Ernährungssicherung
mitgetragen und aktiv unterstützt. Diese Leitlinien sind von der zwischen-
staatlichen Arbeitsgruppe zum Recht auf Nahrung und dem Ausschuss für
Welternährungssicherheit bei der FAO am 23. September 2004 in Rom be-
schlossen worden.
Die Leitlinien beschreiben die zentralen Herausforderungen und Ansatzstel-
len bei der Hungerbekämpfung, integrieren sie in ein schlüssigesKonzept und
ergänzen die traditionellen Ernährungssicherungsmaßnahmen durch Veran-
kerung desMenschenrechts auf Nahrung, also durch rechtegestützteAnsätze.
Die Leitlinien enthalten insbesondere
– die Verpflichtung der nationalen Staaten, Hunger und Armut nachhaltig zu

bekämpfen und konkretisieren somit die im UN-Sozialpakt enthaltenen
wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechte;

– die Verpflichtung der nationalen Staaten, die Voraussetzungen für ein
funktionsfähiges marktwirtschaftliches System zu schaffen, das eine
Kombination von einheimischer Erzeugung, Handel, Lagerung und Ver-
teilung als Maßnahmen zur Ernährungssicherung beinhaltet;

– die Verpflichtung der nationalen Staaten, den Aufbau regionaler und
lokaler Märkte zur Stärkung der Absatzmöglichkeiten für Kleinbauern zu
fördern;

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– die Aufforderung zur Entwicklung nationaler Ernährungssicherungs- und
Armutsbekämpfungsstrategien, in denen Antidiskriminierung der Gleich-
berechtigung von Frauen ein wichtiger Platz einzuräumen ist;

– die Verpflichtung der nationalen Staaten zur Stärkung von Koordinations-
und Partizipationsmechanismen, bei denen das Know-how der verschie-
denen gesellschaftlichen Gruppen zur effizienten Nutzung der vorhan-
denen Ressourcen einfließen soll;

– die Verpflichtung der nationalen Staaten zur Schaffung eines Rechtsrah-
mens zur Ernährungssicherung und Hungerbekämpfung inkl. Klage- und
Beschwerdemechanismen sowie zu Öffentlichkeitsarbeit dazu;

– die Verpflichtung der nationalen Staaten zur Prüfung von Maßnahmen zur
Verbesserung des Zugangs zu Produktionsressourcen bzw. Einkommens-
möglichkeiten;

– die Verpflichtung der nationalen Staaten zur Verstärkung und Überprü-
fung von Landreformen mit dem Ziel, den Zugang von Frauen und armen
Bevölkerungsgruppen zu verbessern;

– die Schaffung von wirksamen nationalen Mechanismen, die den Erhalt
landwirtschaftlicher Flächen und eine nachhaltige Landnutzung sicher-
stellen;

– die Verpflichtung der nationalen Staaten zur Verbesserung der Lebens-
mittelsicherheit und des Verbraucherschutzes im Ernährungsbereich;

– die Verpflichtung der nationalen Staaten zur Einrichtung wirksamer na-
tionaler Menschenrechtsinstitutionen und funktionierender Monitoring-
Mechanismen und zur Schaffung von Schutzmechanismen für Bürgerin-
nen und Bürger, die sich in ihren Ländern für die Durchsetzung der
Menschenrechte einsetzen.

Obwohl diese Leitlinien ihre Empfehlungen primär an die nationalen Regie-
rungen richten, betonen sie auch den völkerrechtlich verbindlichen Men-
schenrechtscharakter des Rechts auf Nahrung und die bereits im UN-Sozial-
pakt festgeschriebene Notwendigkeit eines für die Hungerbekämpfung
förderlichen internationalen Umfeldes sowie einer verstärkten Entwicklungs-
zusammenarbeit zur Unterstützung der Regierungen der armen Länder bei
der Umsetzung der Leitlinien.
Sie bilden Bausteine zur Umsetzung von „Good-Governance“ als wichtige
Reformgrundlage internationalen Handelns.

4. Der Deutsche Bundestag weist dabei besonders auf die Bedeutung des fairen
Handels hin, der in vielen europäischen Ländern wachsende Marktanteile
erhält. Er sieht den fairen Handel als besonderen direkten Beitrag der Konsu-
menten zur Unterstützung armer Produzentenfamilien bei der Erfüllung ihrer
Grundbedürfnisse und bei der Erschließung ihrer wirtschaftlichen Potenziale
bei zunehmender Integration in die Weltmärkte an. Er begrüßt, dass es trotz
eines schwierigen Umfeldes im deutschen Einzelhandel gelungen ist, in den
letzten Jahren die Umsätze in Deutschland zu halten, bedauert aber, dass ver-
gleichbare Zuwächse wie in anderen Ländern noch nicht erreicht werden
konnten. Vor diesem Hintergrund begrüßt der Deutsche Bundestag die im
Frühjahr angelaufene Informationskampagne des Bundesministeriums für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, der Verbraucher Initiative
e. V. und von TransFair „Fair feels good!“, die Hintergründe und Prinzipien
des fairen Handels zielgruppengerecht erläutert, auch in Hinblick auf Ernäh-
rungssicherung.

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5. Der Deutsche Bundestag betont, dass die Nahrungsmittelhilfe im Falle
plötzlich auftretender Hungerkatastrophen nach wie vor unverzichtbar bleibt.
Um Nahrungsmittelhilfe effektiv und effizient einzusetzen, sollte bei der
anstehenden Neuverhandlung der internationalen Nahrungsmittelhilfekon-
vention berücksichtig werden, dass
l Nahrungsmittelhilfe auf akute Notsituationen konzentriert wird,
l Nahrungsmittelhilfe in langfristige wirtschaftliche Entwicklungs- und

Armutsbekämpfungskonzepte integriert sein muss,
l Nahrungsmittelhilfe gerade in Regionen mit chronischer Unterernährung

strengen Kriterien folgen muss, um die erforderlichen Anreize für lokale
Produktion und Märkte zu sichern,

l Konzepte zur Information über gesunde Ernährung, Hygiene und Gesund-
heitserziehung bereits in die Nahrungsmittelhilfe einbezogen werden,

l bei Beginn des Einsatzes von Nahrungsmittelhilfe eine Strategie zur mit-
tel- und langfristigen Ernährungssicherung, die ohne Hilfslieferungen
auskommt, erarbeitet wird,

l die Bedarfsanalysen kontinuierlich verbessert werden müssen, damit auch
bisher nicht berücksichtigte Grundnahrungsmittel zur Ermittlung der
Versorgungssituation einbezogen werden,

l bei der Nahrungsmittelhilfe möglichst auf regionale Produkte zurückzu-
greifen und dabei den Erzeugerpreisen vor Ort ihre Bedeutung für die
notwendige Erhöhung der Produktion zuzumessen ist,

l die Liste der geeigneten Produkte zur Hilfeleistung bei Hungerkata-
strophen erweitert wird,

l dem Wunsch von Empfängerländern nach GVO-freien Lieferungen von
Nahrungsmitteln voll und ohne Zeitverzögerungen entsprochen wird,

l der Missbrauch von Nahrungsmittelhilfe als Instrument der Beseitigung
von Agrarüberschüssen durch entsprechende Regelungen im Rahmen der
WTO verhindert wird.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
l das Aktionsprogramm 2015 zur Umsetzung der Millenniums-Entwick-

lungsziele weiter zu stärken, um das Ziel der Halbierung von Hunger und
Armut bis 2015 erreichen zu können,

l in den Ländern und Regionen den Aufbau angepasster Frühwarnsysteme
zu unterstützen und innerhalb der Bundesregierung einen frühzeitig
wirksamenMechanismus zu etablieren, der bei drohenden landwirtschaft-
lichen Katastrophen die erforderlichen Schritte zur Bewertung der Situa-
tion und der notwendigen Maßnahmen zu ihrer Bewältigung einschließ-
lich der kurzfristigen Bereitstellung der erforderlichen Mittel einleitet und
koordiniert,

l kurzfristige Hilfsmaßnahmen sowohl bei der Nahrungsmittelhilfe als auch
bei akuten Naturkatastrophen, wie z. B. bei der Bekämpfung der Wander-
heuschreckenplage in der Sahel-Zone, mit längerfristigen strukturellen
Entwicklungskonzepten zu verknüpfen,

l die Umsetzung der freiwilligen Leitlinien zum Recht auf Nahrung in den
ärmeren Ländern im Rahmen der normativen und standardsetzenden
Arbeit der FAO sowie der Entwicklungszusammenarbeit durch ausge-
wählte Modellvorhaben zu unterstützen und dabei angesichts zunehmen-

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 5 – Drucksache 15/3956

der weltweiter Probleme durch Fehlernährung Maßnahmen zur Ernäh-
rungs- und Gesundheitsaufklärung einzubeziehen,

l bei den WTO-Verhandlungen die Auswirkungen einer zunehmenden
Liberalisierung – Chancen wie Risiken – auf die Gruppe der Unterernähr-
ten besonders zu berücksichtigen und künftige Regelungen so zu gestal-
ten, dass die nachhaltige Verwirklichung des Rechts auf Nahrung best-
möglich unterstützt wird, d. h. Entwicklungsländer durch entsprechende
Maßnahmen besonders zu begünstigen bei der einheimischen Grund-
nahrungsmitteproduktion als wichtigem binnenwirtschaftlichen Sektor in
ländlichen Räumen, in denen der Großteil der weltweit Armen lebt, bzw.
in einkommens- und beschäftigungsintensiven Exportsektoren im agrari-
schen, industriellen und im Dienstleistungsbereich,

l den fairen Handel als wichtige Marktnische zur Integration armer Produ-
zenten in den zunehmenden weltweiten Handel weiter zu fördern, z. B.
durch ein noch intensiveres Informationsangebot zum Transfair-Siegel,
wie die „Fair feels good-Kampagne“ sowie eine verstärkte Zusammen-
arbeit mit der deutschen Wirtschaft,

l bei den Neuverhandlungen zum internationalen Nahrungsmittelhilfe-
Abkommen die o. g. Kriterien, vor allem aber die Auswirkungen der
Nahrungsmittelhilfe auf die Erzeugerpreise als zentralen Gesichtspunkt zu
berücksichtigen und einen Bezug zu den freiwilligen Leitlinien zum Recht
auf Nahrung herzustellen,

l die internationalen Bemühungen zur Kodifizierung des „Rechts auf
Nahrung“ zu unterstützen und sich dafür einzusetzen, dass die Durchset-
zung des Rechts auf Nahrung als Zielvorgabe in die Präambel des WTO-
Agrarabkommens aufgenommen wird,

l sich weiterhin international nachdrücklich für den Erhalt der Biodiversität
als einer wichtigen Voraussetzung für die Sicherung der Welternährung
einzusetzen, insbesondere im Zusammenhang mit den entsprechenden
Fachkonferenzen der FAO für pflanzen- und tiergenetische Ressourcen.

Berlin, den 20. Oktober 2004
Franz Müntefering und Fraktion
Katrin Göring-Eckardt, Krista Sager und Fraktion

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