BT-Drucksache 15/3581

Die flächendeckende ambulante hausärztliche Versorgung sichern

Vom 9. Juli 2004


Deutscher Bundestag Drucksache 15/3581
15. Wahlperiode 09. 07. 2004

Antrag
der Abgeordneten Dr. Marlies Volkmer, Gudrun Schaich-Walch, Erika Lotz,
Peter Dreßen, Eike Hovermann, Klaus Kirschner, Eckhart Lewering, Götz-Peter
Lohmann, Hilde Mattheis, Dr. Erika Ober, Dr. Carola Reimann, Horst Schmidbauer
(Nürnberg), Silvia Schmidt (Eisleben), Wilhelm Schmidt (Salzgitter), Karsten
Schönfeld, Fritz Schösser, Dr. Margrit Spielmann, Rolf Stöckel, Dr. Wolfgang
Wodarg, Franz Müntefering und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Birgitt Bender, Volker Beck (Köln), Ekin Deligöz,
Markus Kurth, Petra Selg, Katrin Göring-Eckardt, Krista Sager und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Die flächendeckende ambulante hausärztliche Versorgung sichern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Im internationalen Vergleich ist in Deutschland eine hohe Arztdichte zu ver-
zeichnen. Dennoch gibt es Anzeichen eines beginnenden Ärztemangels in struk-
turschwachen und ländlichen Gebieten. Besonders betroffen ist die hausärztli-
che Versorgung. Zahlreiche Hausärzte, aber auch Fachärzte finden keine Nach-
folger.
Die Hausarztdichte (Verhältnis Einwohner/Hausarzt) ist in den alten und neuen
Bundesländern bei globaler Betrachtung weitgehend gleich. Es gibt in der haus-
ärztlichen Versorgung auch in den neuen Bundesländern bisher nur wenige Pla-
nungsbereiche, die unter der Unterversorgungsgrenze der Bedarfsplanungsricht-
linie von 75 Prozent liegen.
Es gibt allerdings bereits problematische Versorgungssituationen, z. B. wenn ein
aus Altersgründen frei werdender Arztsitz nicht wiederbesetzt wird und ein an-
derer Arzt in zumutbarer Entfernung nicht zur Verfügung steht. Hier zeigt sich,
dass die Verhältniszahlen der Bedarfsplanungsrichtlinie nicht in jedem Fall die
individuelle Situation vor Ort sachgerecht abzubilden vermögen.
In den alten Bundesländern ist die Zukunft der hausärztlichen Versorgung weit-
gehend gesichert. Die Zahl der Allgemeinmediziner/praktischen Ärzte ist hier
seit 1993 leicht gestiegen (plus 0,58 Prozent). Eine günstige Altersstruktur
(Anteil der über 54-jährigen Ärzte zwischen 26,6 Prozent in Rheinland-Pfalz
und 36,6 Prozent in Schleswig-Holstein) lässt hier eine Abgangswelle, die zu
einem flächendeckenden Absinken des Versorgungsgrades unter die Unterver-
sorgungsgrenze führen könnte, nicht erwarten. Lokale Versorgungsprobleme
sind möglich, jedoch nicht als Folge struktureller Probleme.
Anders stellt sich die Situation in den neuen Bundesländern dar. Entgegen dem
Gesamttrend sind die Hausarztzahlen in den neuen Bundesländern von 2001 bis
2002 um 1,82 Prozent zurückgegangen.

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Der Anteil älterer Ärzte liegt in allen neuen Bundesländern über dem Anteil in
den alten Bundesländern. Der Anteil der über 54-jährigen Ärzte liegt zwischen
42,4 Prozent in Sachsen-Anhalt und 45,2 Prozent in Sachsen. Zudem kann nicht
davon ausgegangen werden, dass alle Ärzte erst mit Erreichen der gesetzlich
festgeschriebenen Altersgrenze von 68 Jahren (bzw. 20 Jahre nach der Nieder-
lassung im Sinne des § 95 Abs. 7 Satz 4) in den Ruhestand gehen, so dass viele
Vertragsarztsitze wesentlich früher freiwerden dürften, als es in der Vergangen-
heit angenommen wurde. Bei einer Nichtnachbesetzung der freiwerdenden
Arztsitze besteht die Gefahr, dass Planungsbereiche unter die in den Bedarfs-
planungsrichtlinien festgeschriebene Unterversorgungsgrenze von 75 Prozent
fallen.
Schwierig wird die Situation besonders dann, wenn angrenzende Planungsberei-
che ebenfalls unter die Unterversorgungsgrenze von 75 Prozent fallen und im
fachärztlichen Bereich die Versorgung nur knapp über der Unterversorgungs-
grenze von 50 Prozent liegt oder im Einzelfall darunter, wie sich das in einzelnen
Regionen der neuen Bundesländer anbahnt.
Die Bereitschaft, sich in den neuen Bundesländern als Arzt niederzulassen, ist
nicht hoch ausgeprägt. Da aufgrund der relativ geringen Anzahl für Hausärzte
gesperrter Planungsbereiche auch in den alten Bundesländern weitgehende Nie-
derlassungsfreiheit herrscht, ziehen es viele Hausärzte vor, sich in den alten
Bundesländern niederzulassen. Gründe hierfür sind die höhereMorbidität in den
neuen Bundesländern und die damit verbundene höhere Arbeitsbelastung der
Allgemeinmediziner (die Allgemeinärzte in den neuen Bundesländern behan-
deln im Durchschnitt 8 Prozent mehr Versicherte als die Allgemeinärzte in den
alten Ländern) sowie die schlechteren Lebensbedingungen in strukturschwa-
chen Regionen mit anhaltend hoher Arbeitslosigkeit, die im Durchschnitt mehr
als 18 Prozent beträgt. Dazu kommt, dass nach wie vor spürbare Unterschiede
hinsichtlich des Vergütungsniveaus zwischen alten und neuen Bundesländern
bestehen.
Den Hausärzten kommt im künftigen Gesundheitswesen eine noch größere Be-
deutung als heute zu. Sie sind die Lotsen im Gesundheitssystem, bei ihnen lau-
fen die Fäden im Behandlungsgeschehen der einzelnen Patientinnen und Patien-
ten zusammen. Sie stellen die Weichen für notwendige Facharztbesuche. Haus-
ärztinnen und Hausärzte haben wichtige Aufgaben bei Aufbau und Funktion ei-
ner Versorgungskette von der Prävention über die Therapie und Rehabilitation
bis zur Pflege.
Gerade in einer älter werdenden Gesellschaft kommt es auf die wohnortnahe
gute Zusammenarbeit der Hausärzte mit den Pflegediensten an. Durch die Um-
setzung des Grundsatzes „ambulant vor stationär“ in Therapie, Rehabilitation
und Pflege ergeben sich weitere Aufgaben für die Hausärztinnen und Hausärzte.
Für eine qualitativ gute und effiziente Versorgung der Patientinnen und Patien-
ten ist die wohnortnahe Hausärztin/der wohnortnahe Hausarzt von zentraler Be-
deutung. Der Gesetzgeber hat deshalb im GKV-Modernisierungsgesetz festge-
schrieben, dass die Krankenkassen für ihre Versicherten mit besonders quali-
fizierten Hausärzten Verträge schließen müssen. Er hat sogar die Möglichkeit
eingeräumt, Boni zu gewähren, wenn durch diese Versorgungsformen Einspa-
rungen erzielt werden können.
Aus all diesen Gründen liegt es in gesamtgesellschaftlichem Interesse, die
wohnortnahe hausärztliche Versorgung sicherzustellen und Versorgungslücken
zu schließen.
Die Sicherstellung der Versorgung ist Aufgabe der Kassenärztlichen Vereini-
gungen. Sie sind gesetzlich gehalten, durch geeignete Maßnahmen Anreize für
die Niederlassung in schlecht versorgten Regionen zu schaffen, um Versor-
gungsengpässen entgegen wirken zu können.

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II. Der Deutsche Bundestag begrüßt die neuen Maßnahmen zur Verbesserung
der Versorgungssituation, die das GKV-Modernisierungsgesetz vorsieht:
– In unterversorgten Regionen wurde die Möglichkeit geschaffen, den Ver-

tragsärzten Sicherstellungszuschläge in Form von Zuschlägen zum Honorar
zu zahlen. Für Sicherstellungsprämien können so in den neuen Ländern bis
zu 15Mio. Euro jährlich zusätzlich zum bisherigen Honorarvolumen gezahlt
werden.

– Die Errichtung medizinischer Versorgungszentren für eine interdisziplinäre
Zusammenarbeit von ärztlichen und nichtärztlichen Heilberufen wird dazu
beitragen, die Tätigkeit in der ambulanten Versorgung attraktiver zu gestal-
ten. Nicht alle Ärzte wollen freiberuflich tätig werden. Vor allem junge Ärz-
tinnen und Ärzte begrüßen daher die Möglichkeit, als Angestellte eines Ge-
sundheitszentrums an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen zu kön-
nen. Viele begrüßen insbesondere die interdisziplinäre Zusammenarbeit.

– Um die vertragsärztliche Tätigkeit in den neuen Bundesländern auch in fi-
nanzieller Hinsicht lukrativer zu gestalten, werden die Gesamtvergütungen in
den neuen Bundesländern zusätzlich um insgesamt 3,8 Prozent in den Jahren
2004 bis 2006 erhöht. Bezogen auf die Ausgaben der gesetzlichen Kranken-
versicherung für die ambulante ärztliche Behandlung in den neuen Ländern
im Jahr 2002 entspricht dies einem zusätzlichen Vergütungsvolumen in Höhe
von rd. 120 Mio. Euro für die Ärzte in den neuen Ländern.

– Durch die Abschaffung des Arztes im Praktikum zum 1. Oktober 2004 wird
die ärztliche Tätigkeit für junge Ärztinnen und Ärzte in Deutschland wieder
attraktiver.

Der Deutsche Bundestag begrüßt auch die Beschlüsse des 107. Ärztetages in
Bremen zur Novellierung einzelner Vorschriften der Musterberufsordnung. Be-
sonders begrüßenswert sind:
– die Möglichkeit, in eigener Praxis oder Praxisgemeinschaft Kolleginnen und

Kollegen anzustellen,
– die Aufgabe der strikten Bindung eines Arztes an den Praxissitz,
– die Eröffnung der Möglichkeit, über den Praxissitz hinaus in verschiedenen

Kooperationsformen ärztlich tätig sein zu können (Teilgemeinschaftspraxen,
überörtliche Gemeinschaftspraxen),

– die Ermöglichung erweiterter Kooperationsformen mit Angehörigen anderer
akademischer Heilberufe, Naturwissenschaftlern und/oder Mitarbeitern so-
zialpädagogischer Berufe,

– die Möglichkeit, eine eigene Gesellschaftsform, die Ärztegesellschaft, zu
gründen.

Der Deutsche Bundestag erwartet, dass die Bundesländer alle geeigneten
Maßnahmen ergreifen, um die neuen Formen von Ärztekooperationen möglich
zu machen. Dazu gehören die erforderlichen Anpassungen in den Heilberufe-
gesetzen der Länder.

III. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
alle geeigneten Maßnahmen zu ergreifen und anzuregen, welche die Lösung der
Versorgungsprobleme durch die vor Ort zuständigen Stellen unterstützen. Dazu
sind folgende Maßnahmen erforderlich:
– Die Voraussetzungen für die Anstellung von Ärzten in Vertragsarztpraxen

müssen vereinfacht werden. Daher sollte es in nicht wegen Überversorgung
gesperrten Planungskreisen ermöglicht werden, dass ein Arzt in einer Ver-
tragsarztpraxis ohne Leistungsbegrenzung des Vertragsarztes angestellt wer-

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den kann. Die angestellten Ärzte sollten in der Bedarfsplanung mitgerechnet
werden.

– Es müssen Möglichkeiten geschaffen werden, dass Vertragsärzte auch in
Teilzeit tätige Ärzte anstellen dürfen.

– Es soll den Krankenkassen ermöglicht werden, durch Einzelverträgemit Ärz-
ten Versorgungslücken zu schließen, wenn die Kassenärztlichen Vereinigun-
gen ihrem Sicherstellungsauftrag nicht nachkommen.

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung weiterhin auf darauf hin-
zuwirken, dass bei der Feststellung von Unterversorgung künftig auch der Mor-
biditätsgrad der Bevölkerung Berücksichtigung findet.

Berlin, den 9. Juli 2004
Franz Müntefering und Fraktion
Katrin Göring-Eckardt, Krista Sager und Fraktion

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