BT-Drucksache 15/3538

Nachhaltige Entwicklung im demografischen Wandel fördern - Potenziale des Alters nutzen

Vom 1. Juli 2004


Deutscher Bundestag Drucksache 15/3538
15. Wahlperiode 01. 07. 2004

Antrag
der Abgeordneten Michael Kauch, Daniel Bahr (Münster), Detlef Parr, Dirk Niebel,
Dr. Heinrich L. Kolb, Klaus Haupt, Rainer Brüderle, Angelika Brunkhorst,
Ernst Burgbacher, Helga Daub, Jörg van Essen, Otto Fricke, Rainer Funke,
Hans-Michael Goldmann, Dr. Karlheinz Guttmacher, Dr. Christel Happach-Kasan,
Christoph Hartmann (Homburg), Ulrich Heinrich, Jürgen Koppelin, Sibylle
Laurischk, Harald Leibrecht, Ina Lenke, Günther Friedrich Nolting, Hans-Joachim
Otto (Frankfurt), Eberhard Otto (Godern), Cornelia Pieper, Gisela Piltz,
Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Max Stadler, Dr. Rainer Stinner, Carl-Ludwig Thiele,
Jürgen Türk, Dr. Claudia Winterstein, Dr. Volker Wissing, Dr. Wolfgang Gerhardt
und der Fraktion der FDP

Nachhaltige Entwicklung im demografischen Wandel fördern – Potenziale
des Alters nutzen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Mit dem Fortschrittsbericht 2004 will die Bundesregierung ihre nationale Stra-
tegie für eine nachhaltige Entwicklung „Perspektiven für Deutschland“ aus dem
Jahr 2002 weiterentwickeln und zudem eine erste Bilanz ziehen. Insbesondere
setzt der Fortschrittsbericht 2004 vier Schwerpunktthemen, zu denen die
„Potenziale älterer Menschen in Wirtschaft und Gesellschaft“ gehören. Im Ent-
wurf des Fortschrittberichts der Bundesregierung, der dem Parlamentarischen
Beirat für Nachhaltige Entwicklung am 27. Mai 2004 zugeleitet wurde, werden
eine Reihe wichtiger Aspekte angesprochen, insbesondere zur Weiterbildung
älterer Arbeitnehmer. Jedoch fehlen jegliche Vorschläge zur Beseitigung sozial-
und arbeitsrechtlicher Fehlanreize, die die Beschäftigung älterer Arbeitnehmer
hemmen.
Die Erwerbstätigenquote der 55- bis 64-Jährigen betrug in Deutschland im Jahre
2001 weniger als 37 Prozent, bei den 60- bis 64-Jährigen sogar nur 22 Prozent.
Deutschland liegt damit im Vergleich zu anderen OECD-Staaten weit zurück.
Mit 11,2 Prozent hat Deutschland darüber hinaus die mit Abstand höchste Al-
tersarbeitslosigkeit der OECD-Länder. Eine OECD-Studie zeigt zudem, dass
Länder mit hoher Erwerbstätigkeit älterer Menschen eine geringere Arbeits-
losigkeit insgesamt aufweisen, wobei der hohe Anteil älterer Menschen am Er-
werbsleben nicht zu Lasten der jüngeren Generation geht.
Viele ältere Menschen wollen und können Leistung erbringen. Auch wenn man-
che ältere Arbeitnehmer angesichts körperlicher und seelischer Belastungen es
vorziehen, frühzeitig aus dem Arbeitsprozess auszuscheiden, will doch eine
wachsende Zahl älterer Menschen nicht abgeschoben und nur versorgt werden.

Drucksache 15/3538 – 2 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft müssen mehr als heute individuell
bestimmt und nicht durch Verweis auf das Lebensalter festgelegt werden. Im
Mittelpunkt muss die individuelle Entscheidung jedes einzelnen älteren Men-
schen stehen, sein Wissen, seine Erfahrung und soziale Kompetenz weiterhin
dem Arbeitsmarkt oder der Gesellschaft zum Beispiel durch Freiwilligendienste
zur Verfügung zu stellen. Die Wissenschaft hat festgestellt, dass ältere Men-
schen weitaus leistungsfähiger sind als bislang angenommen und in bestimmten
Bereichen sogar leistungsfähiger sind als junge. Dabei können sich Alt und Jung
in der Zusammenarbeit hervorragend ergänzen.
Durch Arbeitslosigkeit, nichtarbeitslose Leistungsempfänger, Altersteilzeit und
Frühverrentung ist bei den 55- bis 64-Jährigen in Deutschland insgesamt eine
Beschäftigungslücke in Höhe von 3,5 Millionen Personen entstanden. Die Bun-
desrepublik Deutschland erleidet hierdurch jährlich einen erheblichen Verlust an
volkswirtschaftlicher Wertschöpfung, wobei zugleich eine erhebliche Belastung
der sozialen Sicherungssysteme verursacht wird.
Die Unternehmen und Tarifpartner sind gefordert, die Rahmenbedingungen zur
Nutzung der Potenziale älterer Arbeitnehmer zu verbessern. Heute beschäftigt
nach unterschiedlichen Quellen nur noch jedes zweite bzw. jedes dritte Unter-
nehmen Arbeitnehmer im Alter von über 50 Jahren.
Bei einer älter werdenden Gesellschaft wird es in den nächsten 30 Jahren zu ei-
nem Engpass an qualifizierten Erwerbspersonen kommen. Um diesem Trend
entgegenzutreten und Wachstum zu sichern, wird es in Zukunft auch darauf an-
kommen, dass ältere Arbeitnehmer länger erwerbstätig bleiben. Dabei reicht es
aber nicht aus, durch Abschaffung der Frühverrentung und durch Verlängerung
der Lebensarbeitszeit die Zahl der älteren Arbeitnehmer zu erhöhen. Denn ent-
scheidend ist der Erhalt ihrer Leistungsfähigkeit und ihrer Produktivität. Die be-
schriebene Lage wird durch den demografischen Wandel an Brisanz gewinnen.
Die Erhöhung der Erwerbstätigenquote von Menschen über 45 Jahren ist die
sachgerechte Konsequenz, die sich aus dem demografischen Wandel ergibt.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
Fehlanreize und Einstellungshemmnisse für die Beschäftigung älterer Arbeit-
nehmer zu beseitigen, um die Beschäftigung dieser Personengruppe zu fördern,
und in diesem Sinne,
– die Altersteilzeit nach dem Blockmodell unter Wahrung des Vertrauensschut-

zes zu beenden,
– die Rahmenbedingungen für Erwerbstätigkeit neben dem Bezug von Alters-

rente zu verbessern,
– die bei den Agenturen für Arbeit verbreitete Praxis sofort zu beenden, bei Ar-

beitslosen über 58 Jahren nachdrücklich für die Wahrnehmung des § 428
SGB III zu werben, um diese zu „nichtarbeitslosen Leistungsempfängern“ zu
machen und so aus der Arbeitsvermittlung und der Arbeitslosenstatistik zu
drängen,

– die Anspruchsbegründung nach § 428 SGB III unter Wahrung des Vertrau-
ensschutzes zu streichen,

– das Lebensalter als Kriterium für die Sozialauswahl bei betriebsbedingten
Kündigungen zu streichen, da diese Regelung die Reintegration älterer Ar-
beitsloser erheblich erschwert,

– ein Optionsmodell bei Kündigungen (Abfindungsregelung statt Kündigungs-
schutz) gerade für ältere Arbeitnehmer einzuführen,

– die starren Altersgrenzen für den Renteneintritt zu flexibilisieren, indem z. B.
für langjährige Versicherte bei Vollendung des 62. Lebensjahres der ab-

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/3538

schlagsfreie Bezug der Rente möglich sein soll, wenn der Versicherte über
mindestens 45 Beitragsjahre oder entsprechend über mindestens 45 Beitrags-
punkte verfügt,

– gesetzlich fixierte berufliche Altersgrenzen weitgehend zu überprüfen bzw.
zu streichen,

– Allgemeinverbindlicherklärungen von Tarifverträgen abzuschaffen und auf
Mindestlohnvorschriften zu verzichten,

– die Beschäftigungssicherung als Kriterium für die Ausgestaltung des Güns-
tigkeitsprinzips im Tarifvertragsrecht einzufügen,

– für ältere Menschen Freiwilligendienste vergleichbar mit dem Freiwilligen
Sozialen und Ökologischen Jahr zu schaffen.

Berlin, den 30. Juni 2004
Michael Kauch
Daniel Bahr (Münster)
Detlef Parr
Dirk Niebel
Dr. Heinrich L. Kolb
Klaus Haupt
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Helga Daub
Jörg van Essen
Otto Fricke
Rainer Funke
Hans-Michael Goldmann
Dr. Karlheinz Guttmacher
Dr. Christel Happach-Kasan
Christoph Hartmann (Homburg)
Ulrich Heinrich
Jürgen Koppelin
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Ina Lenke
Günther Friedrich Nolting
Hans-Joachim Otto (Frankfurt)
Eberhard Otto (Godern)
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Carl-Ludwig Thiele
Jürgen Türk
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

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