BT-Drucksache 15/3505

Selbstbestimmungsrecht und Autonomie von nichteinwilligungsfähigen Patienten stärken

Vom 30. Juni 2004


Deutscher Bundestag Drucksache 15/3505
15. Wahlperiode 30. 06. 2004

Antrag
der Abgeordneten Michael Kauch, Rainer Funke, Sibylle Laurischk, Ulrike Flach,
Detlef Parr, Daniel Bahr (Münster), Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher, Helga Daub,
Jörg van Essen, Hans-Michael Goldmann, Christoph Hartmann (Homburg), Klaus
Haupt, Ulrich Heinrich, Dr. Heinrich L. Kolb, Jürgen Koppelin, Harald Leibrecht,
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dirk Niebel, Günther Friedrich Nolting,
Gisela Piltz, Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Max Stadler, Carl-Ludwig Thiele, Jürgen
Türk, Dr. Claudia Winterstein, Dr. Volker Wissing, Dr. Wolfgang Gerhardt und
der Fraktion der FDP

Selbstbestimmungsrecht und Autonomie von nichteinwilligungsfähigen
Patienten stärken

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Viele Menschen treffen Vorsorge für ihr Alter. Oftmals stehen dabei ver-
mögensrechtliche Aspekte im Vordergrund. Eine Vorsorge durch finanzielle
Absicherung und Vermögensbildung ist heutzutage selbstverständlich. Viele
Menschen machen sich auch Sorgen darüber, was mit ihnen passiert, wenn sie
– in welchem Alter auch immer – durch Erkrankung oder Behinderung nicht
mehr in der Lage sind, wichtige rechtliche oder medizinische Entscheidungen
für sich selbst zu treffen. Dennoch haben schätzungsweise nur 8 Prozent der
Deutschen von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, in einer Patientenver-
fügung für eine mögliche spätere Behandlungssituation Entscheidungen über
die Frage der Zulässigkeit und Reichweite ihrer medizinischen Behandlung
persönlich und zu einem Zeitpunkt zu treffen, in dem sie selbst noch einsichts-
und einwilligungsfähig sind. Ursache dafür ist sicher zunächst mangelnde In-
formation über die Möglichkeiten der rechtlichen Gestaltung einer Patienten-
verfügung.
Rechtsunsicherheit herrscht zum einen durch annähernd 200 verschiedene
Musterverfügungen, die von staatlichen und privaten Beratungsstellen ange-
boten werden. Zum anderen hat eine uneinheitliche Rechtsprechung mit sich
widersprechenden Entscheidungen über die Bindungswirkung von Patienten-
verfügungen bzw. über die Reichweite der in ihr verfügten Entscheidungen
bisher nicht zur Klarheit beigetragen. Der Bundesgerichtshof hat in seiner Ent-
scheidung vom 7. Februar 1984 (VI ZR 174/82) ausgeführt, dass das Selbst-
bestimmungsrecht des Patienten auch eine Entschließung, die aus medizi-
nischen Gründen unvertretbar erscheine, schütze. Später hat er mit Urteil vom
13. September 1994 (1 StR 357/94) entschieden, dass bei einem unheilbar er-
krankten, nicht mehr entscheidungsfähigen Patienten der Abbruch einer ärzt-
lichen Behandlung oder Maßnahme ausnahmsweise auch dann zulässig sein
soll, wenn die Voraussetzungen der damaligen von der Bundesärztekammer

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verabschiedeten Richtlinien für die Sterbehilfe nicht vorliegen, weil der Sterbe-
vorgang noch nicht eingesetzt hat. Abweichend davon hat der Bundesgerichts-
hof mit Beschluss vom 17. März 2003 (XII ZB 2/03) entschieden, dass lebens-
verlängernde Maßnahmen dann zu unterbleiben haben, wenn das dem früher
erklärten Willen eines jetzt einwilligungsunfähigen Patienten entspreche. Be-
treuer von Koma-Patienten müssten aber die Zustimmung des Vormundschafts-
gerichts einholen, wenn sie in die Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen
einwilligen wollten. Der Bundesgerichtshof führt in seiner Entscheidung weiter
aus, dass ein Betreuer trotz Patientenverfügung nur dann dem Abbruch der
Behandlung zustimmen darf, wenn das Leiden des Patienten einen „irreversib-
len tödlichen Verlauf“ genommen habe. Insbesondere das Abstellen auf einen
„irreversibel tödlichen Verlauf“ ist vielfach kritisiert worden. Hierin wird nicht
nur ein medizinisch untaugliches Kriterium, sondern auch eine unzulässige
Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten gesehen.
Insbesondere die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 17. März 2003
macht gesetzliche Klarstellungen zur Bindungswirkung von Patientenverfü-
gungen dringend erforderlich.
Das Recht zur Selbstbestimmung über den eigenen Körper gehört zum Kern-
bereich der durch das Grundgesetz geschützten Würde und Freiheit des Men-
schen. Selbstbestimmung ist der Kern der Menschenwürde. Die Menschen-
würde ist das einzige absolute und damit uneingeschränkt geltende Recht. Das
Selbstbestimmungsrecht wird ausgeübt durch Willensäußerung des entschei-
dungsfähigen Menschen. Es umfasst aber gerade auch das Recht, die Selbst-
bestimmung durch erst in der Zukunft relevante Festlegungen auszuüben.
Lebenserhaltende Maßnahmen sind wie alle ärztlichen Eingriffe grundsätzlich
nur zulässig, wenn der einsichtsfähige Betroffene in diese Maßnahmen ein-
willigt. Andernfalls drohen dem behandelnden Arzt strafrechtliche Konsequen-
zen. Das deutsche Recht stellt das Selbstbestimmungsrecht des Menschen über
seinen Körper höher als die Schutzpflichten anderer für sein Leben. Nicht eine
Therapiebegrenzung durch Willenserklärung des Einzelnen ist zu legitimieren,
sondern die Behandlung durch den Arzt. Nicht in der Unterlassung der Behand-
lung liegt der Eingriff, sondern in deren ungerechtfertiger oder nicht gewünsch-
ter Fortsetzung. Es gibt keine Fürsorgepflicht des Arztes gegen den rechtlich
wirksam erklärten Willen des Patienten. Auch die aus ärztlicher Sicht unver-
nünftige Entscheidung des Patienten ist zu respektieren. Ausdrücklich können
auch Wiederbelebungsmaßnahmen im Rahmen der Notfallmedizin durch
Patientenverfügung ausgeschlossen werden. Eine Begrenzung der Reichweite
etwa auf infauste Prognosen (absehbar und trotz Behandlung zum Tode füh-
rend), Nähe zum Todeszeitpunkt oder risikoreiche bzw. schwer belastende Ein-
griffe wird daher abgelehnt.
Der Regelungsgehalt von Patientenverfügungen ist jedoch nicht beschränkt auf
Behandlungsbegrenzungen. Auch bestimmte Behandlungswünsche und Thera-
pieoptionen können verfügt werden. Lediglich Maßnahmen der Basispflege
(hygienische Maßnahmen, Stillen von Hunger und Durst ohne Eingriff in den
Körper) dürfen unter dem Gesichtspunkt der Menschenwürde durch Patienten-
verfügung nicht ausgeschlossen werden.
Der Umgang mit Patientenverfügungen in der Praxis hat gezeigt, dass bei
einem vormals mündlich geäußerten Willen oft Beweis- und Auslegungs-
schwierigkeiten in der konkreten Entscheidungssituation bestehen. Betreuer,
Bevollmächtigte, Angehörige, Ärzte und das Pflegepersonal können so in
große Konfliktsituationen geraten. Es sollte daher vorgesehen werden, eine Pa-
tientenverfügung grundsätzlich schriftlich abzufassen. Die zwischenzeitlich
eingetretene Einwilligungsunfähigkeit steht der Wirksamkeit der Patientenver-
fügung nicht entgegen. Die Bindungswirkung eines vormals geäußerten Wil-
lens kann aber nur dann zweifelsfrei garantiert werden, wenn die Willenserklä-

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/3505

rung auslegungsfähig und auf einen konkreten Behandlungsfall subsumierbar
ist. Es muss streng geprüft werden, ob der vormals geäußerte Wille dem tat-
sächlichen Willen des Patienten in der aktuellen Situation entspricht. Zu denken
ist hier insbesondere an Fälle des sog. Wechsels der personalen Identität, wie
zum Beispiel bei schwerer Demenz. Je konkreter, detaillierter, umfassender und
aktueller die Patientenverfügung abgefasst ist, desto mehr wird sie einen Beur-
teilungsspielraum des für die Entscheidung zuständigen Dritten reduzieren. Die
Patientenverfügung ist für den Arzt bindend, wenn sie mit der aktuellen Situa-
tion übereinstimmt. Die Bindungswirkung des Patientenwillens darf nicht
durch Rückgriff auf den mutmaßlichen Willen korrigiert werden, es sei denn,
dass die bzw. der Betroffene seine frühere Verfügung widerrufen hat oder die
Umstände sich inzwischen so erheblich geändert haben, dass die frühere selbst-
verantwortlich getroffene Entscheidung die aktuelle Situation nicht mehr er-
fasst. Bleiben Zweifel, ob der Patient von zutreffenden Vorstellungen über das
medizinische Geschehen ausgegangen ist, so kann seine Willenserklärung dem
Arzt Orientierungshilfe sein. Nur wenn eine Patientenverfügung nicht vorliegt,
kommt ein Handeln entsprechend dem vormals mündlich geäußerten Willen
oder entsprechend dem mutmaßlichen Willen des Patienten in Betracht.
Die Zuständigkeit des Vormundschaftsgerichts sollte beschränkt werden. Das
Vormundschaftsgericht darf nur in Konfliktfällen entscheiden. Ein Konfliktfall
liegt vor, wenn zwischen dem Betreuer bzw. Bevollmächtigten, dem Arzt, dem
Pflegepersonal und nahen Angehörigen Uneinigkeit über die Auslegung des
konkreten Patientenwillens besteht. Kann der Patientenwillen jedoch zweifels-
frei nachgewiesen werden, besteht für die Zuständigkeit des Vormundschafts-
gerichts kein Raum. Das Vormundschaftsgericht sollte regelmäßig prüfen,
wenn der Patient seine Willenserklärung nicht schriftlich verfasst hat. Die Zu-
ständigkeit des Gerichts ist auch sinnvoll bei dem Wunsch nach Therapie-
begrenzung ohne Rücksicht auf infaustes Grundleiden, sofern abzusehen ist,
dass die Therapiebegrenzung tödlich verlaufen könnte. Aus dem im Grund-
gesetz verankerten Selbstbestimmungsrecht folgt, dass jederzeit und für jede
Situation, sei sie aktuell eingetreten oder künftig zu erwarten, auch außerhalb
tödlich verlaufender Krankheitsbilder Behandlungsverbote verbindlich fest-
zuschreiben sind. In dieser Situation muss in besonderer Weise zweifelsfrei ge-
klärt werden, ob der im Zustand der Einwilligungsfähigkeit geäußerte Willen
tatsächlich auf die konkrete Situation Anwendung findet. In Zweifelsfragen
muss zugunsten des Lebensschutzes entschieden werden.
II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung daher auf,
a) einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die notwendigen Klarstellungen zur

Bindungswirkung von Patientenverfügungen vornimmt. Der Gesetzentwurf
sollte insbesondere folgende Regelungen enthalten:
1. Patientenverfügungen im Sinne des Gesetzes sind schriftlich zu verfas-

sen, sie können jederzeit auch mündlich widerrufen werden. Mündliche
Willenserklärungen sind Grundlage für die Erforschung des mutmaß-
lichen Willens des Patienten, nach dem sich die Zustimmung oder Ableh-
nung von Behandlungsangeboten bei Fehlen einer schriftlichen Patien-
tenverfügung zu richten hat.

2. Der in einer Patientenverfügung niedergelegte Wille des Patienten ist ge-
genüber jedermann, insbesondere gegenüber Arzt, Betreuer und Bevoll-
mächtigtem, bindend. Dem niedergelegten Willen ist zu folgen, wenn die
eingetretene Situation und der Behandlungswunsch hinreichend konkret
beschrieben sind. Davon kann nur abgewichen werden, wenn offensicht-
liche Anzeichen für eine Willensänderung vorhanden sind oder die Ver-
fügung dem Patienten zum Zeitpunkt der möglichen Therapiebegrenzung
personal nicht mehr oder nicht mehr voll zuzurechnen ist.

Drucksache 15/3505 – 4 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode
3. Therapiewünsche, Therapiebegrenzung und Therapieverbote durch Pa-
tientenverfügung sind für jeden Zeitpunkt eines Krankheitsverlaufes
möglich. Zwangsbehandlungen sind vor dem Hintergrund von Menschen-
würde und Selbstbestimmungsrecht auch bei nichteinwilligungsfähigen
Personen auszuschließen.

4. Das Betreuungsrecht soll so geändert werden, dass bei Vorliegen einer
schriftlichen Patientenverfügung die Zustimmung zu einem risikoreichen
medizinischen Eingriff, zu Therapiebegrenzung und Therapieabbruch
grundsätzlich ohne Anrufung des Vormundschaftsgerichtes erfolgen
kann. Eine vom behandelnden Arzt angebotene Behandlung kann be-
grenzt oder abgelehnt werden, wenn Arzt und Betreuer bzw. Bevollmäch-
tigter nach Anhörung des behandelnden Pflegeteams und der nächsten
Angehörigen feststellen, dass die Patientenverfügung hinreichend kon-
kret auf die vorliegende Situation anwendbar ist, offensichtliche Willens-
änderungen nicht vorliegen und die Verfügung dem Patienten in Bezug
auf die aktuelle Therapiebegrenzung personal zurechenbar ist.

5. Nur im Konfliktfall zwischen behandelndem Arzt, Betreuer bzw. Bevoll-
mächtigtem, behandelnden Pflegenden und nächsten Angehörigen ist das
Vormundschaftsgericht einzuschalten. Regelmäßig prüft das Vormund-
schaftsgericht, wenn keine schriftliche Patientenverfügung vorliegt oder
wenn eine Therapiebegrenzung, die lebensbedrohliche Auswirkungen
haben kann, außerhalb einer infausten Prognose des Grundleidens verfügt
wird.

b) eine Informationskampagne zu starten, die folgende Elemente haben soll:
1. Empfehlungen zur Abfassung von Patientenverfügungen: Es wird emp-

fohlen, Patientenverfügungen nach Beratung über typische Krankheits-
verläufe und Behandlungsmöglichkeiten zu verfassen, sie mit einer Vor-
sorgevollmacht zu verbinden sowie regelmäßig auf Übereinstimmung
mit dem aktuellen Willen zu überprüfen und neu zu unterzeichnen.

2. Informationen über Möglichkeiten der Palliativmedizin: Wichtig ist es,
Kenntnisse über die heutigen Behandlungsmöglichkeiten der leid- und
schmerzmindernden Medizin zu vermitteln, damit Patientenverfügungen
vor dem Hintergrund eines hohen Informationsstandes verfasst werden.

Berlin, den 29. Juni 2004
Michael Kauch
Rainer Funke
Sibylle Laurischk
Ulrike Flach
Detlef Parr
Daniel Bahr (Münster)
Rainer Brüderle
Ernst Burgbacher
Helga Daub
Jörg van Essen
Hans-Michael Goldmann
Christoph Hartmann (Homburg)
Klaus Haupt
Ulrich Heinrich

Dr. Heinrich L. Kolb
Jürgen Koppelin
Harald Leibrecht
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Dirk Niebel
Günther Friedrich Nolting
Gisela Piltz
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler
Carl-Ludwig Thiele
Jürgen Türk
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

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