BT-Drucksache 15/3453

Für eine schnelle Überwindung der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Krise in Venezuela

Vom 30. Juni 2004


Deutscher Bundestag Drucksache 15/3453
15. Wahlperiode 30. 06. 2004

Antrag
der Abgeordneten Lothar Mark, Gert Weisskirchen (Wiesloch), Hans Büttner
(Ingolstadt), Detlef Dzembritzki, Siegmund Ehrmann, Petra Ernstberger, Gabriele
Groneberg, Reinhold Hemker, Monika Heubaum, Jelena Hoffmann (Chemnitz),
KlausWerner Jonas, Hans-Ulrich Klose, Karin Kortmann, Rolf Kramer, Ute Kumpf,
Markus Meckel, Dr. Rolf Mützenich, Volker Neumann (Bramsche), Dietmar Nietan,
Johannes Pflug, Dr. Sascha Raabe, Walter Riester, Rudolf Scharping, Dr. Hermann
Scheer, Dagmar Schmidt (Meschede), Wilhelm Schmidt (Salzgitter), Hans-Jürgen
Uhl, Jörg Vogelsänger, Brigitte Wimmer (Karlsruhe), Dr. Christoph Zöpel, Franz
Müntefering und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Hans-Christian Ströbele, Thilo Hoppe, Dr. Ludger Volmer,
Volker Beck (Köln), Claudia Roth (Augsburg), Marianne Tritz, Katrin Göring-
Eckardt, Krista Sager und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Für eine schnelle Überwindung der politischen, wirtschaftlichen und sozialen
Krise in Venezuela

Der Bundestag wolle beschließen:
I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
1. Seit den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts befindet sich Vene-

zuela in einem Verfallsprozess, der in mittlerweile besorgniserregender
Weise weite Bereiche von Politik, Gesellschaft undWirtschaft erfasst hat. Seit
Ende 2001 herrscht ein politisches Klima enormer Polarisierung. Dieses wird
dadurch angeheizt, dass führende Mitglieder der Regierung und der Opposi-
tion ihre Konflikte häufig unter Missachtung demokratischer Spielregeln und
unter Einsatz verbaler wie physischer Gewalt austragen.

2. Die strukturellen Ursachen der politischen Krise liegen in Legitimitätseinbu-
ßen der traditionellen Parteien, die das Land rund 35 Jahre lang alternierend
regiert haben. Um 1980 stieß die rentenfinanzierte Entwicklung an ihre Gren-
zen, als sich trotz der Ölpreiserhöhungen von 1979/80 keine Wachstums-
schübe mehr einstellten. Verteilungskonflikte, die bis dahin über steigende
Öleinnahmen gemildert werden konnten, führten nun zum schrittweisen Aus-
schluss ärmerer Bevölkerungskreise aus der Verteilungskoalition, mit der
1958 (Pacto de Punto Fijo) die venezolanische Demokratie in einem politisch
und sozial durchaus umfassenden Sinne begründet worden war. Mit den Ver-
armungsprozessen, die nicht allein die Folge sinkender Ölrenten, sondern
auch das Ergebnis politisch ausgetragener Verteilungskämpfe waren, verlo-
ren breitere Bevölkerungsschichten das Vertrauen in die Regierungsfähigkeit
der traditionellen Parteien. 1989 kam es in Folge von wirtschaftsliberalen
Strukturanpassungsmaßnahmen der Regierung Andrés Pérez zum „Cara-
cazo“, einem Armenaufstand, dessen blutige Niederschlagung weit mehr als
Tausend Tote kostete.

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3. Hugo Chávez gewann 1998 die Präsidentschaftswahlen. Sechs Jahre vorher
hatte er als Oberstleutnant einen Putsch angeführt, der gescheitert war. Aber
wachsende Armut im Land und verbreitete Korruption im alten politischen
Zwei-Parteien-System, das deshalb bei einer Mehrheit der Bevölkerung in
Misskredit geraten war, bildeten die Grundlage für seinen Wahlsieg. Der von
ihm betriebene Umbau von Staat und Verwaltung war zunächst quer durch
alle Schichten beliebt. Hugo Chávez legte einen Verfassungsentwurf vor mit
ausgeprägten Beteiligungsrechten wie auch Schutzrechten für die indigenen
Bevölkerungsgruppen. Nach Inkrafttreten der per Volksabstimmung bestätig-
ten Verfassung wurde er im Juli 2000 mit fast 60 Prozent der Stimmen für
weitere sechs Jahre im Amt bestätigt. Als aber anschließend im Versuch, Re-
formen durchzuführen, einerseits der Verteilungsmodus der verbliebenen Öl-
rente in Frage gestellt wurde, andererseits die Reformen zu Gunsten derjeni-
gen, die nach 1980 zu den Verlierern gehört hatten, in vielen Punkten nicht
griffen und aus Sicht der Opposition die Umrisse eines autoritären Regimes
linkspopulistischer Prägung erkennbar wurden, verschärften sich die innen-
politischen Spannungen.

4. Die nicht sehr homogene Opposition, die sich aus den Altparteien, einigen
neu entstandenen Parteien und einer Reihe von Nichtregierungsorganisatio-
nen zusammensetzt, bekämpft das Regime mit zum Teil radikaler Rhetorik,
einem hohen Grad an Emotionalität und mit Aktionen, die nicht immer de-
mokratischen Spielregeln entsprechen. Massendemonstrationen bildeten den
Hintergrund für den von Kräften der Opposition initiierten Putsch vom
11. April 2002, in dessen Folge eine „nicht legitimierte Übergangsregie-
rung“, angeführt vom damaligen Präsidenten des Arbeitgeberverbandes, ge-
bildet und als erste Amtshandlung das venezolanische Parlament aufgelöst
wurde. Der Putsch wurde unblutig beendet dadurch, dass Hunderttausende
von Menschen Regierungssitz und Parlament, die Kasernen, die wichtigsten
Sendeanstalten umstellten und die Wiedereinsetzung des verhafteten Hugo
Chávez erzwangen. Ferner versuchte die Opposition, durch einen zweimona-
tigen „zivilen Ausstand“ um die Jahreswende 2002/2003, der die Wirtschaft
des Landes schwer schädigte, Präsident Hugo Chávez zum Rücktritt zu zwin-
gen. In ihrer Rhetorik rufen Teile der Opposition beinahe täglich zum Putsch
und zur Intervention von außen auf. In der parlamentarischen Arbeit gelang
es ihr durch Ausnutzung der verfassungsmäßig sehr weitreichenden Mög-
lichkeiten die Legislative so zu blockieren, dass über ein Jahr lang kein
Gesetz verabschiedet werden konnte.

5. Auch die Regierung Chávez treibt die Polarisierung im Land weiter. Mit
einem aggressiven Politikstil führt sie einen sich rasch radikalisierenden
Diskurs gegen die „Oligarchie“, mit der die traditionellen Parteien, die Un-
ternehmer, der Gewerkschaftsverband CTV und die konservativen Teile des
katholischen Klerus gemeint sind. Im Gefolge des Putsches betreibt sie einen
Elitenwechsel, mit dem speziell die Einbindung des Militärs in politische und
administrative Führungsaufgaben verbunden ist. Ende April 2004 ist per
Gesetz die Anzahl der Mitglieder des Obersten Gerichtshofes, der u. a. für die
Ernennung und Abberufung sämtlicher Richter im Lande zuständig ist, von
20 auf 32 erhöht worden, wodurch sich die Regierung de facto einen erheb-
lichen Einfluss auf die Justiz sicherte.

6. Erst nach längerer Vermittlung der Organisation Amerikanischer Staaten
(OAS), des Carter-Zentrums und des Entwicklungsprogramms der Vereinten
Nationen (UNDP) unterzeichneten Opposition und Regierung am 29. Mai
2003 eine Übereinkunft, wonach der Ausweg aus der Krise mit friedlichen
und verfassungskonformenMitteln sowie durchWahlen erfolgen sollte. Hier-
für boten sich Volksbegehren gegen Mandatsinhaber an, die zur Mitte jeder
Amtszeit nach der Verfassung möglich sind. Entsprechende Unterschriften-
sammlungen gegen Abgeordnete der Opposition und der Regierungsmehr-

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heit, vor allem aber gegen Präsident Hugo Chávez, haben Ende 2003 statt-
gefunden und sind nach Einschätzung von Wahlbeobachtern – u. a. der OAS
und des Carter-Zentrums – ordnungsgemäß abgelaufen.

7. Nach schweren innenpolitischen Auseinandersetzungen hat der Oberste
Wahlrat nunmehr festgestellt, dass die Zahl der Stimmen für das Begehren
nach einem Abberufungsreferendum hinreichend ist. Er hat den Termin für
die Durchführung des Referendums auf den 15. August 2004 festgesetzt.
Präsident Hugo Chávez hat das Referendum akzeptiert und den Kampf um
die Stimmen der Wählerschaft begonnen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
1. gemeinsam mit unseren europäischen Partnern auf eine gewaltfreie und

rechtstaatlich einwandfreie Durchführung des Referendums hinzuwirken;
2. gemeinsam mit unseren europäischen Partnern von Regierung und Opposi-

tion Venezuelas zu fordern, die Ergebnisse des Referendums anzuerkennen
und verfassungskonform umzusetzen;

3. für die Durchführung des Abberufungsreferendums internationale Wahlbeo-
bachtung in ausreichendem Maße zu ermöglichen;

4. zusammen mit den europäischen Partnern die venezolanische Regierung und
die Opposition zu drängen, über den Tag des Referendums hinaus einen Dia-
log mit dem Ziel zu führen, nach einem für die demokratische Regierungsfä-
higkeit unumgänglichen Basiskonsens zu suchen. Dabei sollte insbesondere
klargestellt werden, dass die Anerkennung der Verfassung, die rechtsstaat-
liche Ordnung mit richterlicher Unabhängigkeit und der politische Pluralis-
mus essentielle Bestandteile der Demokratie sind;

5. die OAS, das Carter-Zentrum und die „Gruppe der Freunde Venezuelas“ bei
ihren Vermittlungsbemühungen zur Lösung des innenpolitischen Konfliktes
zu unterstützen;

6. die derzeitigen Möglichkeiten der Pflege der bilateralen Beziehungen voll
auszuschöpfen. In diesem Rahmen wäre auch z. B. an eine Belebung des Be-
sucheraustauschs zu denken. Insbesondere aber sollten die wirtschaftlichen,
wissenschaftlich-technischen und kulturellen Kontakte mit den zur Verfü-
gung stehenden Instrumenten gefördert werden.

Berlin, den 30. Juni 2004
Franz Müntefering und Fraktion
Katrin Göring-Eckardt, Krista Sager und Fraktion

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