BT-Drucksache 15/3360

Regierungserklärung des Bundeskanzlers zur Haushalstsituation des Bundes

Vom 17. Juni 2004


Deutscher Bundestag Drucksache 15/3360
15. Wahlperiode 17. 06. 2004

Antrag
der Abgeordneten Dr. Günter Rexrodt, Jürgen Koppelin, Otto Fricke, Daniel Bahr
(Münster), Rainer Brüderle, Angelika Brunkhorst, Ernst Burgbacher, Helga Daub,
Jörg van Essen, Ulrike Flach, Horst Friedrich (Bayreuth), Rainer Funke, Joachim
Günther (Plauen), Dr. Karlheinz Guttmacher, Dr. Christel Happach-Kasan,
Christoph Hartmann (Homburg), Klaus Haupt, Ulrich Heinrich, Birgit Homburger,
Dr. Werner Hoyer, Michael Kauch, Harald Leibrecht, Ina Lenke, Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, Dirk Niebel, Hans-Joachim Otto (Frankfurt),
Eberhard Otto (Godern), Cornelia Pieper, Gisela Piltz, Dr. Hermann Otto Solms,
Dr. Max Stadler, Dr. Rainer Stinner, Carl-Ludwig Thiele, Jürgen Türk, Dr. Claudia
Winterstein, Dr. Volker Wissing, Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP

Regierungserklärung des Bundeskanzlers zur Haushaltssituation des Bundes

Der Bundestag wolle beschließen:
I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Die dramatische Situation in der Haushalts- und Finanzpolitik mit der Auf-
nahme zusätzlicher Schulden in zweistelliger Milliardenhöhe für das Jahr 2004
und die erkennbaren Milliardenlücken für den Bundeshaushalt 2005 können
nicht ohne Erklärung des Bundeskanzlers bleiben, der nach Artikel 65 Satz 1
des Grundgesetzes für die Richtlinien der Politik zuständig ist.
Für wiederholte Verstöße gegen Artikel 115 GG und die Nichteinhaltung des
Stabilitäts- und Wachstumspaktes – einem völkerrechtlichen Vertrag – trägt der
Bundeskanzler die Verantwortung.
II. Der Deutsche Bundestag fordert den Bundeskanzler auf,
in einer Regierungserklärung darzulegen, wie die Bundesregierung sowohl
kurz- als auch mittelfristig der negativen finanzwirtschaftlichen Entwicklung
entgegenwirken und die Haushaltsprobleme des Bundes dauerhaft lösen will.
Berlin, den 17. Juni 2004
Dr. Günter Rexrodt
Jürgen Koppelin
Otto Fricke
Daniel Bahr (Münster)
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Helga Daub
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Horst Friedrich (Bayreuth)

Rainer Funke
Joachim Günther
(Plauen)
Dr. Karlheinz
Guttmacher
Dr. Christel Happach-
Kasan
Christoph Hartmann
(Homburg)
Klaus Haupt
Ulrich Heinrich

Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Michael Kauch
Harald Leibrecht
Ina Lenke
Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
(Frankfurt)
Eberhard Otto (Godern)

Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Carl-Ludwig Thiele
Jürgen Türk
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Dr. Wolfgang Gerhardt
und Fraktion

Drucksache 15/3360 – 2 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Begründung
Der Bundeshaushalt 2004 kämpft mit erheblichen strukturellen Problemen und
Haushaltsrisiken in Milliardenhöhe. Es ist mit einem Haushaltsloch von weit
über 15 Mrd. Euro zu rechnen. Damit läge die Neuverschuldung bei über
45 Mrd. Euro – einem historischen Höchststand! Die Neuverschuldung des
Bundes im Zeitraum 1999 bis 2004 wäre um annähernd 190 Mrd. Euro ange-
wachsen.
Es ist nicht zu erkennen, wie die rot-grüne Bundesregierung auch nur mittelfris-
tig aus der Schuldenfalle herauskommen will und der Schuldenkonjunktur Ein-
halt geboten wird. Noch im November 2000 propagierte die Bundesregierung in
ihren Finanzpolitischen Leitplanken den Schuldenabbau als prioritär für nach-
haltig solide Staatsfinanzen und mehr Generationengerechtigkeit. Sie formu-
lierte seinerzeit: „Nachhaltig solide Staatsfinanzen bilden einen wesentlichen
Pfeiler für einen stabilen makroökonomischen Rahmen. Niedrige öffentliche
Defizite bzw. ein Verzicht auf staatliche Kredite entlasten den Kapitalmarkt und
sind damit der finanzpolitische Beitrag zu niedrigen Preisen und Zinsen. […]
Nur ein finanziell gesunder Staat kann ein handlungsfähiger Staat sein. […] Die
Sanierung der Staatsfinanzen muss vor allem über die Ausgabenseite erfolgen.
[…] Wir dürfen unseren Kindern und Enkeln daher keinen stetig steigenden
Schuldenberg vererben, zumal deren Generation durch die Finanzierung der de-
mographisch bedingten Altersvorsorge belastet wird. Um allein den Schulden-
anstieg zu stoppen, brauchen wir – wie bereits angekündigt – möglichst schnell
einen ausgeglichenen Haushalt. Schulden von heute sind Steuern und Abgaben
von morgen.“
Dem ist in der Analyse über die Notwendigkeit eines Schuldenabbaus nichts
hinzuzufügen. Jedoch handelt die Bundesregierung nicht nach ihren eigenen
Vorgaben: Ein wirklicher Sparkurs hat im Grunde nie stattgefunden. So sind
z. B. die Gesamtausgaben des Bundes seit der Amtsübernahme von Rot-Grün
von 233,6 Mrd. Euro im Jahr 1998 auf 257,3 Mrd. Euro im Jahr 2004 gestiegen.
Zugleich ist der Schuldenberg des Bundes um annähernd 190 Mrd. Euro ange-
wachsen. Die Gesamtverschuldung des Bundes liegt bei 840,3 Mrd. Euro
(Stand: 31. März 2004).
Ein Erfolg versprechender, glaubwürdiger und nachvollziehbarer Weg aus die-
ser Haushaltskrise ist bisher von der Bundesregierung nicht aufgezeigt worden.
Stattdessen wird wie so häufig reflexartig – vor allem von verschiedenen Minis-
terpräsidenten – von einer Erhöhung der Mehrwertsteuer gesprochen. Diese
Form der „Haushaltssicherung“ lehnt die FDP ab. Sie würde das Vertrauen von
Bürgern und Investoren noch mehr beschädigen.
Die aktuelle, besorgniserregende Entwicklung zum Bundeshaushalt 2004 be-
schreibt das Bundesministeriums der Finanzen im Monatsbericht Mai wie folgt:
„Aus der bisherigen Entwicklung von Ausgaben und Einnahmen ergibt sich ein
Finanzierungssaldo von –35,2 Mrd. Euro. Daraus können aber keine Rück-
schlüsse auf die endgültige Höhe des Finanzierungssaldos 2004 gezogen wer-
den, die imWesentlichen von der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung abhän-
gen wird.“ Ein Vergleich mit dem Jahr 2003 und ein Blick in den Monatsbericht
des Bundesministeriums der Finanzen aus dem Vorjahr zeigen Parallelen auf.
Danach war die Entwicklung von Einnahmen und Ausgaben ebenfalls negativ;
der Finanzierungssaldo lag bei –32,4 Mrd. Euro. Der Haushalt 2003 schloss
letztendlich mit einer Nettokreditaufnahme in Höhe von 38,6 Mrd. Euro
(Finanzierungssaldo: –39,23 Mrd. Euro) und war damit verfassungswidrig.
Problematisch ist weiterhin die Struktur des Bundeshaushaltes. Die Ausgaben
im Bundeshaushalt werden zunehmend von den Sozialausgaben und den Zins-
ausgaben bestimmt. Im Bundeshaushalt 2004 entfallen hierauf rd. 60 Prozent
der Gesamtausgaben. Dies entspricht einem Volumen von mehr als 150 Mrd.

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/3360

Euro. Damit sind über drei Viertel der Steuereinnahmen des Bundes durch Aus-
gaben für Soziales und Zinsen gebunden. Die Sozialausgaben sind seit 1999 von
100,3 Mrd. Euro auf 122,6 Mrd. Euro angestiegen. Damit beträgt der Anteil der
Sozialausgaben am Bundeshaushalt 47,6 Prozent gegenüber 40,6 Prozent im
Jahr 1999.
Innerhalb der Sozialausgaben erreichen vor allem die Leistungen des Bundes an
die Rentenversicherungen (77,9 Mrd. Euro) eine bedenkliche Größenordnung.
Die immer größer werdende Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben der
Rentenversicherungen hat dazu geführt, dass der Anteil der Rentenausgaben im
Bundeshaushalt auf über 30 Prozent im Jahr 2004 gestiegen ist. Nach dem
Finanzplan werden diese trotz vorgesehener Konsolidierungsmaßnahmen auf
rund 80 Mrd. Euro im Jahr 2007 anwachsen.
Die Belastungen des Bundeshaushaltes mit Zinsausgaben hat sich im Zeitraum
1999 bis 2003 wegen des relativ niedrigen Zinsniveaus und der zur Schuldentil-
gung eingesetzten Einnahmen aus der Versteigerung der UMTS-Lizenzen ver-
mindert. Diese positive Entwicklung wird sich leider nicht fortsetzen, denn die
Zinslast wird auf Grund der hohen Nettokreditaufnahmen wieder ansteigen. Zu-
dem ist eine mögliche Anhebung des Zinsniveaus ein erheblicher Risikofaktor
für den Bundeshaushalt. Jeder Prozentpunkt belastet den Bundeshaushalt um zu-
sätzlich 14 Mrd. Euro.
Der Anteil der Investitionsausgaben ist seit 1999 stetig zurückgegangen. Betrug
die Investitionsquote 1999 noch 11,6 Prozent (28,6 Mrd. Euro), so liegt sie im
Bundeshaushalt 2004 bei 9,9 Prozent (24,8 Mrd. Euro). In der mittelfristigen
Finanzplanung sinkt der Anteil der Investitionen an den Ausgaben sogar auf ein
historisches Tief von 9,7 Prozent.
Planungsreserven für mögliche finanzwirtschaftliche Mehrbelastungen sind in
der mittelfristigen Finanzplanung bis 2007 nicht eingeplant.
In der aktuellen Diskussion über die Kompensation der Haushaltslöcher spre-
chen sich Politiker der Koalition, so auch der Vizekanzler, für eine Abkehr vom
Sparkurs und ein Aufweichen des Stabilitätspaktes aus. Dabei verschlechtert
sich die Haushaltssituation des Bundes von Jahr zu Jahr. So musste die Bundes-
regierung in den Jahren 2002 bis 2004 wegen Überschreitung der verfassungs-
rechtlichen Kreditobergrenze (Artikel 115 GG) jeweils die Störung des gesamt-
wirtschaftlichen Gleichgewichts erklären. Allein für die Haushaltsjahre 2004 bis
2007 sind mehr als 60 Mrd. Euro höhere Nettokreditaufnahme eingeplant. Da-
mit ist ein ausgeglichener Bundeshaushalt – ursprünglich für das Jahr 2004,
dann für das Jahr 2006 avisiert – bis zum Ende des aktuellen Finanzplanungs-
zeitraums nicht mehr zu erreichen. Ein konkreter Zeitpunkt wird mittlerweile
von der Bundesregierung gar nicht mehr in Aussicht gestellt.
Mit dem wiederholten Infragestellen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes
durch den Bundeskanzler wird dieser immer mehr ausgehöhlt. Sein politischer
Wert resultiert gerade aus der Unbedingtheit seiner Formulierungen und Krite-
rien. Ständige Verletzungen der Kriterien und wiederkehrende Diskussionen
sind fatal für die Glaubwürdigkeit.
In der Debatte um den Stabilitätspakt, einem völkerrechtlichen Vertrag, werden
die Regeln des Paktes häufig als Ursache für die Schwierigkeiten bei der Einhal-
tung der Defizitobergrenze angeführt. Dabei beruhen die aktuellen Probleme im
Wesentlichen darauf, dass in guten Konjunkturzeiten die Defizite nicht hinrei-
chend reduziert wurden, um so genügend Spielraum bei der Staatsverschuldung
in wirtschaftlich schwächeren Phasen zu haben. Es ist festzuhalten, dass ein
Staatsdefizit von 3 Prozent einer Neuverschuldung von rund 63 Mrd. Euro ent-
spricht.

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