BT-Drucksache 15/3356

Bildungsarmut in Deutschland feststellen und bekämpfen

Vom 16. Juni 2004


Deutscher Bundestag Drucksache 15/3356
15. Wahlperiode 16. 06. 2004

Antrag
der Abgeordneten Ulrike Flach, Christoph Hartmann (Homburg), Cornelia Pieper,
Daniel Bahr (Münster), Rainer Brüderle, Angelika Brunkhorst, Ernst Burgbacher,
Helga Daub, Jörg van Essen, Otto Fricke, Horst Friedrich (Bayreuth), Rainer Funke,
Hans-Michael Goldmann, Joachim Günther (Plauen), Dr. Christel Happach-Kasan,
Klaus Haupt, Ulrich Heinrich, Birgit Homburger, Dr. Werner Hoyer, Michael Kauch,
Dr. Heinrich L. Kolb, Jürgen Koppelin, Harald Leibrecht, Ina Lenke, Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, Dirk Niebel, Eberhard Otto (Godern), Gisela Piltz,
Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Max Stadler, Dr. Rainer Stinner, Carl-Ludwig Thiele,
Jürgen Türk, Dr. Claudia Winterstein, Dr. Volker Wissing, Dr. Wolfgang Gerhardt
und der Fraktion der FDP

Bildungsarmut in Deutschland feststellen und bekämpfen

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Bildung hat in unserer Gesellschaft einen immer höheren Stellenwert. Arbeits-
prozesse werden komplizierter und komplexer. Während es früher möglich war,
auch ohne einen formalen Schulabschluss eine sichere Arbeitsstelle zu finden,
ist das Risiko, arbeitslos zu werden, unter Personen ohne Schulabschluss beson-
ders hoch. Noch immer verlassen zu viele junge Menschen die Schule ohne
einen Abschluss. Dies gilt besonders für Jugendliche aus Haushalten mit Migra-
tionshintergrund.
Bei Migranten ist insbesondere die mangelnde Sprachkenntnis für ein überpro-
portional häufiges Scheitern in der Schule verantwortlich. Ohne deutsche
Sprachkenntnisse ist eine Integration in das deutsche Bildungssystem nicht
möglich. Hier müssen im Zusammenwirken mit den Ländern erhebliche An-
strengungen unternommen werden, um insbesondere Migrantinnen bessere
Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben zu eröffnen.
Unter den Jugendlichen aus Zuwandererfamilien zeigt sich eine zunehmende
Zahl von Ausbildungslosen. Sie stellen seit den 1980er Jahren mit einem Anteil
von ca. 40 Prozent die wesentliche Teilpopulation von Jugendlichen ohne Be-
rufsausbildung.
Seit Beginn der 1980er Jahre liegt der Anteil der Jugendlichen, die eine allge-
meinbildende Schule ohne einen Hauptschulabschluss verlassen, bei ca.
10 Prozent. Im letzten Jahr waren es ca. 90 000 Jugendliche. Dabei ist der Anteil
der Jugendlichen ohne Schulabschluss unter männlichen Jugendlichen deutlich
höher als unter Mädchen. 1975 waren noch 40 Prozent der Abgänger ohne
Hauptschulabschluss Mädchen, 1998 hingegen nur noch 30 Prozent.

Drucksache 15/3356 – 2 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Im OECD-Vergleich (Bildung auf einen Blick, OECD 2002) ist der Anteil der
deutschen Jugendlichen im Alter zwischen 15 und 19 Jahren, die weder beschäf-
tigt sind noch sich in Ausbildung befinden, relativ hoch. Fünf Prozent der männ-
lichen und fünf Prozent der weiblichen Jugendlichen fallen in diese Kategorie.
Damit liegt Deutschland hinter Frankreich, den Niederlanden, Irland oder Nor-
wegen.
Der OECD-Bericht stellt fest: „Jugendliche mit geringen Qualifikationen laufen
eine erhöhte Gefahr, langfristig arbeitslos zu werden, instabile oder unbefriedi-
gende Beschäftigungsverhältnisse zu finden, was weitere negative Konsequen-
zen, wie beispielsweise soziale Ausgrenzung, mit sich bringen kann.“ (Bildung
auf einen Blick, S. 296).
Besonders beunruhigend ist der Vergleich der Beschäftigungsquoten der 20- bis
24-Jährigen, die sich nicht (mehr) in Ausbildung befinden. In Deutschland errei-
chen nur knapp über 50 Prozent derjenigen, die einen Bildungsstand unterhalb
des Sekundarbereichs II haben, eine Beschäftigung. Unter 28 untersuchten Län-
dern belegt Deutschland damit bei den Jugendlichen unterhalb der Sekundar-
stufe 2 einen enttäuschenden 20. Platz. Bei Absolventen der Sekundarstufe 2
liegt das Beschäftigungsniveau bei über 80 Prozent. Mit einer Ausnahme (Por-
tugal) geht in allen OECD-Ländern ein höherer Bildungsstand mit einer höheren
Beschäftigungsquote einher, durchschnittlich steigt sie um 19 Prozentpunkte.
Angesichts zunehmender Veränderungen am Ausbildungs- und Arbeitsmarkt
sind junge Erwachsene ohne Schulabschluss von gesellschaftlichen Deklassie-
rungs- und Ausgrenzungsprozessen betroffen. Für diese Jugendlichen, die nicht
über den gesellschaftlich definierten Mindeststandard an Bildung verfügen, ha-
ben sich die Teilhabechancen an beruflicher Bildung und Beschäftigung verrin-
gert. Unter ihnen finden sich vermehrt Langzeitarbeitslose, Sozial- und Einkom-
mensschwache, Personen mit Migrationshintergrund (Arbeitsmigranten und de-
ren Kinder, Aus- und Übersiedler, Asylbewerber), behinderte Menschen sowie
Jugendliche, die über arbeitsmarktpolitische Maßnahmen auf den Weg der ge-
sellschaftlich definierten „Normalität“ zu bringen sind.
Im Armutsbericht der Bundesregierung spielt der Zusammenhang von Bil-
dungslosigkeit und sozialer Lage keine Rolle. Wie bei der ökonomischen Armut
können auch bei der Bildungsarmut absolute wie relative Standards verwendet
werden. Absolut Bildungsarm wäre, wer nicht alphabetisiert ist, keinen Schul-
abschluss hat bzw. trotz eines Schulabschlusses in einfachen Tests nach Maß-
gabe von Bildungsstandards scheitert. Nach relativen Standards wären diejeni-
gen bildungsarm, die innerhalb der Verteilung von Bildung zu den unteren zehn
bis zwanzig Prozent gehören.
Die Bundesregierung hat bisher kein schlüssiges Konzept vorgelegt, wie die dra-
matische Situation verbessert werden kann.

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
1. die Bildungsforschung in Bezug auf Ursachen, Wirkungen und Handlungs-

möglichkeiten im Bereich der Jugendlichen ohne Schul- und Berufsabschluss
zu verstärken;

2. im Zweiten Armuts- und Reichtumsbericht, der im Jahr 2005 vorgelegt wer-
den muss, die Kriterien der Bildungsarmut und des Bildungsreichtums zu be-
rücksichtigen und in die Berichterstattung aufzunehmen. Dabei soll insbe-
sondere der Zusammenhang zwischen Bildungsarmut und ökonomischer Ar-
mut beleuchtet werden;

3. Mittel der Integrationsförderung (Zuwanderungskompromiss) für Sprachför-
derung von Zuwandererkindern vor der Einschulung einsetzen;

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/3356

4. durch die Einführung theoriegeminderter Berufsbilder auch solchen Jugend-
lichen Chancen auf einen Berufsabschluss zu eröffnen, die aufgrund der the-
oretischen Anforderungen ansonsten nicht in der Lage wären, eine Berufs-
ausbildung erfolgreich abzuschließen;

5. durch eine konsequente Modularisierung der Berufsausbildungen Jugend-
lichen die Möglichkeit zu geben, auch Teilqualifikationen zu erwerben und
in einem Ausbildungspass bestätigt zu bekommen.

Berlin, den 15. Juni 2004
Ulrike Flach
Christoph Hartmann (Homburg)
Cornelia Pieper
Daniel Bahr (Münster)
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Helga Daub
Jörg van Essen
Otto Fricke
Horst Friedrich (Bayreuth)
Rainer Funke
Hans-Michael Goldmann
Joachim Günther (Plauen)
Dr. Christel Happach-Kasan
Klaus Haupt
Ulrich Heinrich
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Michael Kauch
Dr. Heinrich L. Kolb
Jürgen Koppelin
Harald Leibrecht
Ina Lenke
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Dirk Niebel
Eberhard Otto (Godern)
Gisela Piltz
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Carl-Ludwig Thiele
Jürgen Türk
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

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