BT-Drucksache 15/3205

Intensivierung der Beziehungen zwischen der Europäischen Union, Lateinamerika und der Karibik

Vom 26. Mai 2004


Deutscher Bundestag Drucksache 15/3205
15. Wahlperiode 26. 05. 2004

Antrag
der Abgeordneten Lothar Mark, Ute Kumpf, Dr. Christine Lucyga, Dr. Sascha
Raabe, Wilhelm Schmidt (Salzgitter), Dr. Angelica Schwall-Düren, Hans-Jürgen
Uhl, Gert Weisskirchen (Wiesloch), Franz Müntefering und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Thilo Hoppe, Hans-Christian Ströbele, Dr. Ludger Volmer,
Volker Beck (Köln), Rainder Steenblock, Katrin Göring-Eckhardt, Krista Sager
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Intensivierung der Beziehungen zwischen der EuropäischenUnion, Lateinamerika
und der Karibik

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
1. Am 28. Mai 2004 wird in Guadalajara, Mexiko das dritte Gipfeltreffen der

Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union, Lateinamerikas und
der Karibik (LAK) stattfinden. Fünf Jahre nach Begründung der strate-
gischen Partnerschaft auf dem ersten Gipfel in Rio de Janeiro bietet sich da-
mit eine hervorragende Gelegenheit, dem politischen Dialog und der Wirt-
schafts- und Entwicklungszusammenarbeit zwischen beiden Seiten neue Im-
pulse zu geben. In Lateinamerika und der Karibik sind die Erwartungen an
einen partnerschaftlichen Dialog mit der Europäischen Union und ihren Mit-
gliedsländern nach wie vor sehr ausgeprägt. Europa sollte den Dialog noch
mehr als Instrument nutzen, um den Austausch mit dieser Region zu verstär-
ken. Der Deutsche Bundestag begrüßt die Wahl von „Effektiver Multilatera-
lismus“ und „Soziale Kohäsion“ als Leitthemen des Gipfeltreffens, beides
Fragen, in denen die Europäische Union auf besonders reichhaltige Erfahrun-
gen zurückgreifen kann.

2. Sozialer Ausgleich und wirtschaftliches Wachstum stellen für Lateinamerika
vordringliche Herausforderungen dar. Der Subkontinent gehörte in den ver-
gangenen 20 Jahren in Teilen zu den Globalisierungsverlierern. 2003 ist die
Wirtschaft gerade mal um 1,5 Prozent gewachsen, während sich die Bevöl-
kerung um 2,5 Prozent erhöhte. 227 Mio. Menschen (44 Prozent) leben un-
terhalb der Armutsgrenze. Diese zum Teil negative Wirtschaftsentwicklung
nahm ihren Ausgang Anfang der 80er Jahre mit der Schuldenkrise. Bis heute
ist dieses Problem nicht überwunden. Die Bemühungen von nationalen und
internationalen Akteuren zur Überwindung der Krise sind nur zum Teil von
Erfolg gekrönt gewesen. Eine Vielzahl von Ländern bleibt bis heute auf die
Unterstützung durch die Internationalen Finanzinstitutionen angewiesen.
Diese Lage hat in manchen Ländern zu politischen Umbrüchen und zu Regie-
rungswechseln geführt, von denen sich die Menschen wie in Brasilien und
Argentinien eine effektivere Armutsbekämpfung durch eine neue Wirt-
schaftspolitik versprechen. In diesem Umfeld ist es von besonderer Bedeu-
tung, durch die europäische Politik einen Beitrag zu Entwicklung und wirt-

Drucksache 15/3205 – 2 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

schaftlichem Wachstum in der Region zu leisten. Es gilt dabei hauptsächlich
Ziele zu verfolgen, die wirtschaftliche und finanzielle Stabilität, ein ökolo-
gisch und sozial nachhaltiges Wirtschaftsmodell und die Konsolidierung der
demokratischen Institutionen fördern.

3. Die Dringlichkeit einer nachhaltigen Politik ergibt sich nicht zuletzt vor dem
Hintergrund steigender gesellschaftlicher Unzufriedenheit auch in demokra-
tisch verfassten Staaten, die eine UN-Studie jüngst festgestellt hat. Hierin
werden demokratische Regierungen kritisiert, weil sie nicht ausreichend in
der Lage waren, die Ungleichheit in ihren Ländern zu verringern, wirtschaft-
liches Wachstum zu erzielen sowie die rechtlichen und sozialen Systeme zu
modernisieren.

4. Deutsche Unternehmen genießen in LAK weiterhin ein hohes Ansehen; in
einigen Ländern der Region haben ihre Investitionen wesentlich zumWachs-
tum der Volkswirtschaften beigetragen. Obwohl deutsche Unternehmen
kaum an den Privatisierungen Lateinamerikas in den 90er Jahren teilgenom-
men haben, nimmt Deutschland unter Berücksichtigung von Reinvestitionen
und Direktinvestitionen über Drittländer weiterhin eine hervorragende Rolle
in Lateinamerika ein. Außerhalb Westeuropas ist Lateinamerika die einzige
Region, in der deutsche Unternehmen in bestimmten Industriesektoren eine
Schlüsselposition einnehmen.

5. Neben der wirtschaftlichen Bedeutung für Europa ist LAK auch strategisch
wichtig. Der Integrationsprozess der EU wird in vielen lateinamerikanischen
Ländern als Vorbild für die eigene politische und wirtschaftliche Integration
gesehen. Dies geschieht insbesondere im MERCOSUR unter Betonung der
Unterschiede zwischen amerikanischen Integrationsvorstellungen und dem
europäischen Integrationsmodell. Ein erfolgreiches Handelsabkommen zwi-
schen EU und Mercosur ist ein wichtiger Schritt in Richtung einer strategi-
schen Partnerschaft zwischen EU und Südamerika. Durch eine stärkere Ver-
bindung der beiden Regionen kann zugleich der Spielraum Südamerikas für
eine eigenständige Integration erweitert werden. Dies entspricht dem Grund-
gedanken partnerschaftlicher Beziehungen in einem transatlantischen Drei-
eck zwischen Europa, Nord- und Südamerika, das sich durch kooperative Be-
ziehungen untereinander auszeichnet. Dieser Zusammenhang sollte bei der
Entscheidung über die Aufnahme von Verhandlungen über Assoziierungsab-
kommen zwischen der EU und den Ländern Zentralamerikas bzw. der And-
engemeinschaft berücksichtigt werden.

6. Im Vergleich zu früheren Jahren haben sich im Laufe des Jahres 2003 die
politischen Voraussetzungen im Mercosur durch die Regierungen in Brasi-
lien und in Argentinien stark verbessert. In beiden Ländern wurden in den
letzten Monaten enorme Anstrengungen unternommen, um die wirtschaftli-
che Stabilität wiederzuerlangen. Damit steigen die Hoffnungen, dass durch
eine bessere Integration im Mercosur selbst die Voraussetzungen für ein er-
folgreiches Handelsabkommen mit der EU geschaffen werden. Die seit 2000
bzw. 2002 bestehenden Freihandelsabkommen der EU mit Mexiko bzw. mit
Chile zeigen, dass durch Handelsöffnung eine Belebung in den wirtschaft-
lichen, politischen und kulturellen Beziehungen möglich ist.

7. Die neuen, globalen Probleme und Gefahren erfordern multilaterale Antwor-
ten. Kein Land kann auf sich selbst gestellt, weder die gegenwärtigen, noch
die zukünftigen Herausforderungen bewältigen. Die Bedrohungen des Frie-
dens, der Sicherheit und die Unwägbarkeiten der internationalen Entwick-
lung erfordern die gemeinsame Verantwortung aller Nationen. Dafür bedarf
es nicht nur starker Vereinter Nationen, sondern insgesamt eines höheren
Maßes an dauerhaftem Dialog, Konsultation und Kooperation unter allen
demokratischen Staaten. Die Voraussetzungen hierfür sind gerade mit Latein-
amerika und der Karibik aufgrund der gemeinsamenWerteordnung in beson-
derem Maße gegeben.

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/3205

8. Trotzdem bleibt für einige Staaten die nicht-militärische Bewältigung inner-
staatlicher und zwischenstaatlicher Konflikte eine zentrale Herausforde-
rung. Angesichts der Eskalation der Gewalt und der drohenden Gefahr einer
Regionalisierung des kolumbianischen Konflikts gilt es für Europa, ent-
schieden in Hinblick auf die Wahrung des humanitären Völkerrechts, der
Menschenrechte und der humanitären Abkommen zum Schutz der Zivil-
bevölkerung tätig zu werden.

9. In der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit ist LAK keine Schwer-
punktregion; besondere Herausforderungen stellen sich aufgrund der Tat-
sache, dass die Probleme der Region – nicht zuletzt der hohen absoluten Ar-
mut – vielfach in den internen wirtschaftlichen, sozialen und politischen
Strukturen sowie in der immer noch zu schwach ausgebildeten technolo-
gischen Kompetenz dieser Länder begründet sind. In einigen Staaten, nicht
nur in Kolumbien, unterminiert der Drogen- bzw. der damit einhergehende
Waffenhandel die staatliche Ordnung und fördert ein Klima alles umfassen-
der Korruption.

10. Die Zusammenarbeit mit LAK bietet eine Chance für eine deutlichere Ak-
zentsetzung deutscher und europäischer Aussenpolitik in der Südhalbkugel
unserer Welt. Brasilien ist dabei, mit strategisch angelegten Verträgen und
Absprachen mit Südafrika, Indien, China und Russland, die von Handelsab-
kommen über Themen wie dem Patentschutz und andere Aspekte der Bio-
forschung bis hin zur technologischen Zusammenarbeit reichen, ein neues
Süd-Süd-Netzwerk strategischer Beziehungen aufzubauen. Auch wenn
Deutschland nicht unmittelbar ein Teil dieses Netzwerkes werden kann, so
sollten doch angesichts der Notwendigkeit der gegenseitigen Verständigung
zur Bewältigung globaler Fragen überall wo möglich Brücken geschlagen
werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung daher auf,
1. die Beziehungen Deutschlands und der EU mit LAK konsequent weiter zu

entwickeln und auszubauen;
2. unter Einbeziehung nicht-staatlicher Institutionen die Kulturarbeit Deutsch-

lands in LAK – und über LAK in Deutschland – so zu verstärken, dass zwi-
schen beiden Regionen ein dauerhafter Dialog gefördert wird, der dasWissen
und Verständnis um die gemeinsamen Probleme stärkt und unterschiedliche
Auffassungen in Diskussionsforen aufgreift;

3. auf eine europäische Handelspolitik gegenüber LAK hinzuwirken, die im
Sinne einer Entwicklungspartnerschaft zu wirtschaftlicher und sozialer Sta-
bilität und zu nachhaltigem Wachstum beiträgt;

4. sich dafür einzusetzen, dass das EU-Mercosur Handelsabkommen noch im
Jahr 2004 erfolgreich abgeschlossen wird und dies insbesondere durch die
Gewährung eines verbesserten Marktzugangs für Mercosur-Staaten bei land-
wirtschaftlichen Produkten und den definitiven Abbau aller Exportsubven-
tionen zu unterstützen. Bei den Agrarverhandlungen generell eine flexible
Verhandlungsposition einzunehmen, die dazu beiträgt, die in Cancún verhär-
teten Fronten aufzulösen und damit auch in Richtung auf die weiteren WTO-
Runden positive Signale aussendet. Sich insgesamt für ein Handelsabkom-
men einzusetzen, das zur regionalen Integration der Mercosur-Länder und
damit zur wirtschaftlichen und finanziellen Stabilität der Region und zur
Konsolidierung der demokratischen Institutionen beiträgt;

5. sich für die zügige Aufnahme von Verhandlungen über Assoziierungsabkom-
men zwischen der EU und den Staaten Zentralamerikas bzw. der EU und der
Andengemeinschaft einzusetzen;

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6. sich konstruktiv an der Entwicklung von fairen und transparenten Verfahren
zur Vorbeugung und Bewältigung akuter Verschuldungskrisen in hoch ver-
schuldeten lateinamerikanischen Ländern zu beteiligen. Dabei ein Konzept
der Schuldentragfähigkeit zu unterstützen, das die Wiederherstellung der
wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit erlaubt und die sozialen Lebensbedin-
gungen der Menschen berücksichtigt. Insbesondere auch eine antizyklische
Entschuldungsstrategie zu unterstützen, die die Schuldenlast in wirtschaft-
lich schlechten Zeiten reduziert und bei stärkerem wirtschaftlichemWachs-
tum die Rückzahlungsverpflichtungen ausweitet;

7. den politischen Dialog mit LAK auch zwischen den Gipfeltreffen und auf
multilateraler Ebene fortzusetzen und in geeigneter Weise sicherzustellen,
dass dieser politische Dialog auch in Deutschland eine Plattform findet. Da-
bei sollten die politischen Stiftungen, die wissenschaftlichen Einrichtungen
und andere nicht-staatliche Träger eine wichtige Rolle bei der Gestaltung
eines offenen und kritischen Austausches spielen.

8. die deutsche Wirtschaft in stärkerem Ausmaß zu ermuntern und in geeigne-
ter Weise dabei zu unterstützen, sich in LAK mit Eigeninvestitionen und
Unternehmenspartnerschaften langfristig zu engagieren. Insbesondere tech-
nologieintensive Unternehmen aus dem Mittelstand können in den dyna-
mischeren Ländern LAKs (Mexiko, Brasilien, Chile, etc.) einen wichtigen
Beitrag zur Entwicklung der technologischen Kompetenz und auf dem Ge-
biet der Berufsausbildung leisten und damit bei der Überwindung von Ent-
wicklungshemmnissen helfen;

9. die Instrumente der zwischenstaatlichen und multilateralen Zusammenar-
beit stärker dafür zu nutzen, auf besonders kritischen Politikfeldern fachlich
hoch qualifizierte Hilfe zu leisten, die unmittelbar zur Armutsbekämpfung
beiträgt; dies gilt insbesondere für die ländliche Entwicklung, den Ressour-
cen- und Umweltschutz, die Forschungs- und Technologiepolitik, die nicht-
militärische Bewältigung innerstaatlicher und zwischenstaatlicher Kon-
flikte sowie den Kampf gegen Korruption und Drogenhandel;

10. bei der die bilateralen und europäischen Entwicklungszusammenarbeit mit
Konfliktregionen Lateinamerikas, insbesondere aber mit Kolumbien, be-
sonders auf den Schutz der Menschenrechte hinzuwirken. Die Entwick-
lungszusammenarbeit kann in diesem Sinne darüber hinaus vor allem durch
die Hilfestellung bei der Bekämpfung der sozio-ökonomischen Ursachen
von Konflikten einen wichtigen Beitrag leisten. Dabei ist sicherzustellen,
dass bei allen von der Bundesregierung und der EU finanzierten Entwick-
lungsprogrammen eine frühzeitige Beteiligung der Zivilgesellschaft in der
Projektplanung erfolgt und die Beachtung der Menschenrechte sicherge-
stellt ist;

11. die Bewahrung und Ausgestaltung von Demokratie und Rechtsstaat nicht
nur im politischen Dialog mit den Partnern in Lateinamerika und der Kari-
bik nachdrücklich zu thematisieren, sondern auch im Rahmen der strategi-
schen Partnerschaft Europas mit Lateinamerika durch geeignete Förderins-
trumente die Sicherung der demokratischen Regierbarkeit in zentraler
Weise voranzutreiben, um dem Vordringen autoritärer und populistischer
Regierungsformen entgegen zu wirken. Dabei sollte mit den lateinamerika-
nischen/karibischen Partnern insbesondere auch verstärkt ein Dialog über
die Themen Dezentralisierung (Stärkung der Kommunalverwaltung) und
Ausbau der Bürgerbeteiligung geführt werden;

12. die Berücksichtigung von wirtschaftlichem Ausgleich und sozialer Gerech-
tigkeit als zentrales Element der inneren Kohäsion der Länder Lateinameri-
kas und der Karibik im Rahmen der europäisch-lateinamerikanischen
Zusammenarbeit stärker zu betonen und mit den Mitteln der Entwicklungs-

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 5 – Drucksache 15/3205

zusammenarbeit sowie entwicklungsfördernden Weichenstellungen in der
internationalen Handels- und Finanzpolitik die Armutsbekämpfung voran-
zubringen.

Berlin, den 26. Mai 2004
Franz Müntefering und Fraktion
Katrin Göring-Eckardt, Krista Sager und Fraktion

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