BT-Drucksache 15/3096

Umkehr in der Finanz- und Haushaltspolitik - Haushaltssicherungsgesetz und Nachtragshaushalt jetzt

Vom 4. Mai 2004


Deutscher Bundestag Drucksache 15/3096
15. Wahlperiode 04. 05. 2004

Antrag
der Abgeordneten Dietrich Austermann, Friedrich Merz, Steffen Kampeter,
Bernhard Kaster, Ilse Aigner, Norbert Barthle, Jochen Borchert, Manfred Carstens
(Emstek), Albrecht Feibel, Herbert Frankenhauser, Jochen-Konrad Fromme,
Hans-Joachim Fuchtel, Susanne Jaffke, Bartholomäus Kalb, Volker Kauder,
Dr. Michael Luther, LaurenzMeyer (Hamm), Kurt J. Rossmanith, GeorgSchirmbeck,
Antje Tillmann, Klaus-Peter Willsch und der Fraktion der CDU/CSU

Umkehr in der Finanz- und Haushaltspolitik – Haushaltssicherungsgesetz und
Nachtragshaushalt jetzt

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Nur zwei Monate nach Verabschiedung des Bundeshaushaltes 2004 im Februar
2004 muss die Bundesregierung den haushalts- und finanzpolitischen Offen-
barungseid leisten. Die Nettoneuverschuldung wird in diesem Jahr um etwa
15 Mrd. Euro über der Planung liegen und vermutlich die Rekordmarke von
rund 45 Mrd. Euro erreichen. Die in den Medien kolportierten Schätzungen der
Bundesregierung gehen für das laufende Jahr sogar von einem zusätzlichen
Finanzierungsbedarf von 18 Mrd. Euro aus und prognostizieren für 2005 eine
Finanzierungslücke von immer noch 15 Mrd. Euro.
Mit der Anrufung des Vermittlungsausschusses hatte der Bundesrat dem Bun-
desminister der Finanzen die Chance eröffnet, den Haushalt 2004 an die verän-
derten rechtlichen und wirtschaftlichen Eckdaten anzupassen. Dieses Angebot
hat die Bundesregierung ausgeschlagen.
Aus folgenden Umständen ergeben sich für den Haushalt 2004 zusätzliche
Belastungen:
l Im Haushalt ist ein Bundesbankgewinn von 3,5 Mrd. Euro eingestellt. Wegen

niedriger Zinsen und der Abwertung des US-Dollars überwies die Bundes-
bank aber nur 248 Mio. Euro an den Bund. Hieraus folgt eine Belastung von
rund 3,2 Mrd. Euro.

l 2,1 Mrd. Euro Einnahmen aus der LKW-Maut sind im Haushalt 2004 berück-
sichtigt. Aber das System startet – in abgespeckter Version – frühestens 2005.
Mit 1 Mrd. Euro soll die Deutsche Bahn AG einspringen und ein Darlehen
des Bundes vorzeitig zurückzahlen. Eine Mrd. Euro Schadenersatz verlangt
die Bundesregierung von dem Mautkonsortium. Es ist sehr unwahrschein-
lich, dass 2004 Schadenersatz geleistet wird, weil das vertraglich vereinbarte
Schiedsverfahren mehr Zeit in Anspruch nehmen dürfte. 2004 wird hier min-
destens 1 Mrd. Euro fehlen.

l Durch die verstärkte Bekämpfung der Schwarzarbeit soll 2004 bei den
Steuern 1 Mrd. Euro mehr in die Bundeskasse fließen. Aber das Gesetz ist

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noch nicht einmal in Kraft. Es steht deshalb zu befürchten, dass auch die er-
hofften Mehreinnahmen aus der Schwarzarbeitsbekämpfung ein Totalausfall
werden, so dass auch hier 1 Mrd. Euro fehlen wird.

l Aufgrund der Steueramnestie hat die Bundesregierung im Bundeshaushalt
zusätzliche Einnahmen von über 2 Mrd. Euro eingeplant (weitere 3 Mrd.
Euro sollen bei Ländern und Gemeinden hereinkommen). Im ersten Quartal
wurden es ganze 78 Mio. Euro. Nachdem mit der Einführung einer maßvol-
len Abgeltungssteuer für Kapitalerträge nicht mehr zu rechnen ist, und außer-
dem immer wieder prominente SPD-Politiker über Verschärfungen bei der
Erbschaft- und Vermögensteuer philosophieren, darf sich niemand darüber
wundern, dass die Steueramnestie nur in wenigen Ausnahmefällen als attrak-
tiv empfunden wird. Selbst wenn die Rückführung und Versteuerung von
Schwarzgeldern im weiteren Jahresverlauf spürbar zunehmen sollte, ist mit
einem Loch von etwa 1,5 Mrd. Euro zu rechnen.

l Die Einnahmen aus der Tabaksteuer sollen laut Bundeshaushalt dieses Jahr
um 1,7 Mrd. Euro wachsen. Aber nachdem schon 2003 statt der erwarteten
Mehreinnahmen von 1 Mrd. Euro nach Angaben der zuständigen Zentralen
Steuerzeichenstelle tatsächlich nur 310Mio. Euro zusätzlich kamen, muss im
Bundeshaushalt 2004 mit einem Minus von mindestens 700 Mio. Euro ge-
rechnet werden. Wegen der EU-Osterweiterung erwarten Experten zudem
einen Anstieg von Schmuggelwaren, wodurch die Einnahmen noch weiter
sinken werden. Macht insgesamt ein Minus von rund 800 Mio. Euro.

l Arbeitsmarkt: Weil die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe
(Hartz IV) in der von der Bundesregierung geplanten Form im Bundesrat ge-
stoppt wurde, bleibt es 2004 bei der bisherigen Praxis. Das belastet den Bund
aus heutiger Sicht im Saldo mit etwa 3 Mrd. Euro – vor allem, weil von den
geplanten Einnahmen des Bundes knapp 6Mrd. Euro definitiv nicht kommen
werden (Aussteuerungsbetrag von der Bundesagentur für Arbeit; Umsatz-
steuerpunkte von den Ländern). Gleichzeitig dürften die Arbeitsmarktaus-
gaben des Bundes 2004 um etwa 1,5 Mrd. Euro über den Vorjahresausgaben
(23,1 Mrd. Euro) liegen.

l Wachstum: Im Haushalt 2004 ist für das Basisjahr 2003 Nullwachstum und
für 2004 einWachstum des Bruttoinlandsproduktes (BIP) um 1,5 Prozent un-
terstellt worden. Tatsächlich schrumpfte 2003 die Wirtschaft um 0,1 Prozent.
Mehrere Institute halten die Wachstumsprognose 2004 für zu optimistisch.
DemVernehmen nach wird im Bundesministerium der Finanzen für 2004 mit
konjunkturbedingten Steuerausfällen von rund 6 Mrd. Euro bei Bund,
Ländern und Gemeinden gerechnet. Allein im Bundeshaushalt würden dann
über 2 Mrd. Euro fehlen.

l Hinzu kommen definitiv zusätzliche Leistungen des Bundes zum Ausgleich
der Steuerausfälle der Länder und Gemeinden in Höhe von 2,6Mrd. Euro, die
im Bundeshaushalt bisher nicht berücksichtigt sind.

l Den aus dem Steuerkompromiss im Vermittlungsausschuss für den Bund zu
erwartenden, aber im Bundeshaushalt nicht berücksichtigten Steuermehrein-
nahmen von etwa 2 Mrd. Euro stehen im Haushalt unbewältigte Globale
Minderausgaben (GMA) von 2,6 Mrd. Euro gegenüber. Diese GMA werden
allenfalls etwa in Höhe einer halben Mrd. Euro erwirtschaftet werden kön-
nen, so dass die (im Ergebnis nicht erwirtschafteten) GMA die Steuermehr-
einnahmen neutralisieren dürften.

Nach den Äußerungen des Bundesministers des Auswärtigen und Vizekanzlers
Joseph Fischer (Der Spiegel Nr. 19 vom 3. Mai 2004, S. 44 bis 50) bringe
Sparen, Streichen und Kürzen nicht das notwendige Wachstum; die Bundes-
regierung müsse jetzt das Wachstum anschieben. Diese Ankündigung über-
rascht. Denn seit dem Amtsantritt der rot-grünen Bundesregierung 1998 haben

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/3096

sich die Gesamtausgaben des Bundes von 233,6 Mrd Euro um etwa 10 Prozent
auf 256,7Mrd. Euro (2003) erhöht – ebenso wie das nominale Bruttoinlandspro-
dukt Deutschlands, das von 1 929,4 Mrd. Euro auf nur 2 130,0 Mrd. Euro an-
stieg; von Sparen kann deshalb bisher nicht die Rede sein! Wenn die Bundesre-
gierung den Kurs faktischer finanzpolitischer Neutralität verlassen und ihren
Haushalt künftig expansiv gestalten will, werden die Defizite zusätzlich deutlich
ansteigen.
Auch das Frühjahrsgutachten der Wirtschaftsforschungsinstitute kommt zu dem
Ergebnis, dass die Bundesregierung die Ziele ihrer Haushalts- und Finanzpolitik
völlig verfehlt. Alles in allem werden die öffentlichen Haushalte in diesem Jahr
einen Fehlbetrag von voraussichtlich 80,2 Mrd. Euro aufweisen. Gemessen am
Höchststand des Jahres 2003 (– 82,1 Mrd. Euro) soll das gesamtstaatliche Defi-
zit in diesem Jahr damit nur um 1,9 Mrd. Euro und im Jahr 2005 sogar nur um
1,6 Mrd. Euro auf dann 78,6 Mrd. Euro zurückgehen. Damit wird das Defizit-
kriterium des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts zum vierten Mal
hintereinander verletzt. Auch die gegenüber der EU-Kommission im November
2003 gegebenen Zusagen, die strukturelle Defizitquote im Jahr 2004 um 0,6 Pro-
zentpunkte und im Jahr 2005 um mindestens 0,5 Prozentpunkte zu verringern,
werden gebrochen. Um diese Zusagen einzuhalten, wären nach Ansicht der
Wirtschaftsforscher in diesem und im nächsten Jahr erhebliche weitere Sparan-
strengungen zwingend erforderlich.
Insbesondere machen die alarmierenden Zahlen zum nur marginalen Rückgang
des gesamtstaatlichen Finanzierungsdefizits deutlich, dass die unter dem Kürzel
„Agenda 2010“ zusammengefassten Maßnahmen der Bundesregierung nicht
ausreichen, um selbst in Jahren moderaten Wirtschaftswachstums einen weite-
ren Anstieg der Verschuldung – auch ausgedrückt als BIP-Quote – zu stoppen
oder auch nur signifikant zu bremsen.
Wie schon in den Vorjahren wird der Bundeshaushalt verfassungswidrig sein
und maßgeblich dazu beitragen, dass Deutschland die Grenzen des europäischen
Stabilitätspaktes auch im dritten und vierten Jahr in Folge nicht einhalten wird.
Die Bundesregierung muss umgehend einen Nachtragshaushalt einbringen, um
Einnahmen und Ausgaben wahrheitsgemäß und vollständig darzustellen und die
Nettoneuverschuldung in dem aus heutiger Sicht tatsächlich erforderlichen Um-
fang zu erhöhen. Die Bundesregierung ignoriert bisher die Notwendigkeit, einen
Nachtragshaushalt aufzustellen. Damit verstößt sie gegen die Vorgaben des
Grundgesetzes in mehrfacher Hinsicht:
1. Die Bundesregierung, insbesondere der Bundesminister der Finanzen, ver-

letzt in gravierender Weise die Haushaltsgrundsätze von Vorherigkeit, Wahr-
heit, Klarheit und Vollständigkeit (Artikel 110 Abs. 1 und 2 GG). Vor allem
der Grundsatz der Vorherigkeit sichert die Funktion des Haushaltes als
Planungsinstrument. Öffentliche Äußerungen der Haushaltspolitiker der
Koalition und des Bundesministers der Finanzen haben erkennen lassen, dass
der aktuelle Bundeshaushalt im Vollzug bei Einnahmen und Ausgaben in
zweistelliger Milliardenhöhe von den gesetzlichen Planungen abweichen
wird. Wenn in dieser Situation kein Nachtragshaushalt vorgelegt wird, ist
dies ein gravierender Missbrauch des Budgetinitiativmonopols der Bundes-
regierung. Dieses Initiativmonopol korreliert mit der Verpflichtung, das
Haushaltsverfahren so rechtzeitig einzuleiten, dass es noch dem Grundsatz
der Vorherigkeit entspricht. Verstöße gegen die Grundsätze von Wahrheit,
Klarheit und Vollständigkeit liegen insbesondere in den Fällen vor, in denen
bereits nach Abschluss des Vermittlungsverfahrens zum Haushaltsbegleitge-
setz 2003 feststand, dass die Zahlen und Annahmen des Haushaltsenwurfs
2004 nicht zutreffen und die Bundesregierung dennoch nicht bereit war, in
dem vom Bundesrat eingeleiteten Vermittlungsverfahren zum Haushalt 2004
die offenkundig notwendigen Korrekturen vorzunehmen.

Drucksache 15/3096 – 4 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode
2. Die Bundesregierung, insbesondere der Bundesminister der Finanzen, wird
unzweifelhaft erneut gegen die Begrenzung der Nettoneuverschuldung auf
die Höhe der Investitionen (Artikel 115 GG) verstoßen.

Wird der Nachtragshaushalt – wie im Vorjahr – erst zum Jahresende vorgelegt,
verliert der Haushalt insgesamt seine Funktion als Planungs- und Kontrollinst-
rument. Damit nimmt die Bundesregierung dem Haushaltsgesetzgeber jegliche
politische Gestaltungskraft und degradiert den Haushalt zu einem reinen Voll-
zugsinstrument. Das von der derzeitigen Bundesregierung erneut praktizierte
Haushaltsverfahren mit mehrfachen Verfassungsverstößen beschädigt das Bud-
getrecht des Deutschen Bundestages, das klassische Parlamentsrecht zur Kon-
trolle der Regierung.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
l den allgemeinen Staatsverbrauch (z. B. sächliche Verwaltungsausgaben) so-

fort mit einer Haushaltssperre zu belegen;
l unverzüglich, spätestens zusammenmit dem Entwurf eines Bundeshaushaltes

für das Jahr 2005, einen Nachtragshaushalt für das Jahr 2004 im Deutschen
Bundestag einzubringen, der die aus heutiger Sicht wahrscheinliche Entwick-
lung der Einnahmen und Ausgaben erfasst und die zu erwartende Neuver-
schuldung realistisch abbildet. Nur so kann die Bundesregierung den Haus-
haltsgrundsätzen von Wahrheit, Vorherigkeit und Vollständigkeit gerecht
werden;

l mit demNachtragshaushalt, jedenfalls noch vor der Sommerpause ein umfas-
sendes Haushaltssicherungsgesetz einzubringen, um dem Ziel der Konsoli-
dierung aller staatlichen Haushalte auch angesichts der andauernden Wachs-
tumsschwäche in Deutschland spürbar näher zu kommen.

Berlin, den 4. Mai 2004
Dietrich Austermann
Friedrich Merz
Steffen Kampeter
Bernhard Kaster
Ilse Aigner
Norbert Barthle
Jochen Borchert
Manfred Carstens (Emstek)
Albrecht Feibel
Herbert Frankenhauser
Jochen-Konrad Fromme
Hans-Joachim Fuchtel
Susanne Jaffke
Bartholomäus Kalb
Volker Kauder
Dr. Michael Luther
Laurenz Meyer (Hamm)
Kurt J. Rossmanith
Georg Schirmbeck
Antje Tillmann
Klaus-Peter Willsch
Dr. Angela Merkel, Michael Glos und Fraktion

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