BT-Drucksache 15/3047

Ostdeutschland eine Zukunft geben

Vom 4. Mai 2004


Deutscher Bundestag Drucksache 15/3047
15. Wahlperiode 04. 05. 2004

Antrag
der Abgeordneten Arnold Vaatz, Werner Kuhn (Zingst), Ulrich Adam, Günter
Baumann, Veronika Bellmann, Dr. Christoph Bergner, Klaus Brähmig, Hartmut
Büttner (Schönebeck), Verena Butalikakis, Rainer Eppelmann, Roland Gewalt,
Manfred Grund, Siegfried Helias, Uda Carmen Freia Heller, Bernd Heynemann,
Robert Hochbaum, Susanne Jaffke, Dr. Peter Jahr, Volker Kauder, Manfred Kolbe,
Michael Kretschmer, Vera Lengsfeld, Peter Letzgus, Dr. Michael Luther, Maria
Michalk, Bernward Müller (Gera), Henry Nitzsche, Claudia Nolte, Günter Nooke,
Ulrich Petzold, Christa Reichard (Dresden), Katherina Reiche, Peter Rzepka,
Michael Stübgen, Antje Tillmann, Edeltraut Töpfer, Volkmar Uwe Vogel, Andrea
Voßhoff, Marco Wanderwitz und der Fraktion der CDU/CSU

Ostdeutschland eine Zukunft geben

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag stellt fest:
In den neuen Ländern ist der Umbau von der Planwirtschaft zur sozialen
Marktwirtschaft gelungen und der Erneuerungsprozess seit 1990 weit vorange-
schritten. Das Anlagevermögen der gewerblichen Wirtschaft wurde zu mehr als
80 Prozent erneuert. Der Verfall von Bausubstanz konnte gestoppt und histori-
sche Stadtkerne wiederhergestellt werden. Der Standard der öffentlichen Infra-
struktur wurde grundlegend verbessert. Die Umweltbelastungen wurden dras-
tisch vermindert und die natürlichen Lebensgrundlagen regeneriert. Auch wenn
in allen diesen Aufgabengebieten noch sehr viel zu tun bleibt, ist die Bilanz des
Aufbau Ost gemessen an der Ausgangslage von 1990 positiv zu bewerten.
Gleichwohl wurden bis heute noch nicht alle Ziele erreicht, die mit der Wieder-
vereinigung Deutschlands verknüpft worden waren. Um die strukturellen Un-
terschiede zu verringern brauchen die neuen Länder wieder einen Wachstums-
vorsprung. Die industrielle Basis in den neuen Ländern ist insgesamt noch zu
schwach. Produktivität und Wirtschaftswachstum stagnieren. Die Arbeitslosig-
keit ist nach wie vor viel zu hoch. Mit dem Beitritt osteuropäischer Staaten zur
Europäischen Union wird vor allem die arbeitsintensive Wirtschaft in den östli-
chen Grenzgebieten Deutschlands mittel- bis langfristig vor neue Herausforde-
rungen gestellt. Insbesondere aus diesen Gründen braucht der Aufbau Ost eine
neue strategische Justierung.
Auch seine finanziellen Grundlagen dürfen nicht in Frage gestellt werden. Den
neuen Ländern sind für den Zeitraum bis 2019 Solidarpaktmittel in Höhe von
über 156 Mrd. Euro zugesagt worden. Diese Zusage gilt. Sie darf nicht in Frage
gestellt werden. Gleichzeitig sind die neuen Länder verpflichtet, treuhänderisch
mit den ihnen zugewiesenen Mitteln umzugehen. Darüber hinaus ist bei einer
ausgewogenen Fortführung der europäischen Strukturpolitik die Förderung der
ostdeutschen Länder als „Ziel-1-Gebiete“ durch die Europäische Union für die

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Förderperiode bis 2013 beizubehalten. Auch die damit verbundenen beihilfe-
rechtlichen Spielräume für Investitionen müssen für diesen Zeitraum erhalten
bleiben.
Der Arbeitsmarkt in den neuen Ländern hat eine Schlüsselfunktion für die Be-
wältigung des Strukturwandels. Ein zentrales Problem ist darin zu sehen, dass
die Löhne in Ostdeutschland oft noch deutlich höher liegen, als der Fortschritt
der Produktivität dies gestatten würde. Mehr Beschäftigung kann es nur geben,
wenn sich die Löhne konsequent am Niveau der Produktivität orientieren und
sich dabei nach unten und oben stärker ausdifferenzieren können. Um die Wett-
bewerbsfähigkeit der ostdeutschen Betriebe zu stärken und zugleich hohe
Löhne, die im Wettbewerb Bestand haben, zu ermöglichen, ist die Produkti-
vitätssteigerung durch technischen Fortschritt von entscheidender Bedeutung.
Kündigungsschutzbestimmungen dürfen nicht den Nebeneffekt haben, dass sie
im Ergebnis zu mehr Überstunden und weniger Neueinstellungen führen.
Insbesondere für kleine Betriebe und für Existenzgründungen muss geprüft
werden, zu welchen Bedingungen der Kündigungsschutz bei Neueinstellungen
ausgesetzt werden kann.
Eine weitere wesentliche Voraussetzung für mehr Wachstum in den neuen Län-
dern ist der weitere Ausbau der Verkehrsinfrastruktur. Darüber hinaus werden
mit der Erweiterung der Europäischen Union die Verkehrswege in Deutschland
erhebliche Mehrbelastungen verkraften müssen, für die sie derzeit nicht gerüs-
tet sind.
Die neuen Bundesländer können sich im internationalen Wettbewerb nur dann
erfolgreich behaupten, wenn ihre Wirtschaft innovative Spitzenprodukte und
Schlüsseltechnologien hervorbringt. Dies setzt eine gut ausgebaute und leis-
tungsfähige Wissenschafts- und Forschungsinfrastruktur voraus, die die Basis
für den Technologietransfer zu kleinen und mittleren Unternehmen bietet.
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
1. die den neuen Ländern für den Zeitraum bis 2019 zugesagten Solidarpakt-

mittel in Höhe von über 156 Mrd. Euro nicht zur Disposition zu stellen;
2. durch Verhandlungen mit der Europäischen Union zur Fortführung der

europäischen Strukturpolitik die Beibehaltung der Förderung der ostdeut-
schen Länder als „Ziel-1-Gebiete“ für den Zeitraum 2007 bis 2013 und der
damit verbundenen beihilferechtlichen Spielräume für Investitionen zu er-
wirken;

3. eine Förderstrategie zu entwickeln, durch die vor allem Wachstumscluster
etabliert und gestärkt werden. Statt Finanzmittel zur Behebung aller mög-
lichen regionalen Schwächen zu verwenden, sollen die Mittel künftig der
gezielten Unterstützung regionaler Stärken dienen: industriellen und anderen
gewerblichen Wachstumszentren ebenso wie Großforschungseinrichtungen
und anderen Leistungsträgern von Forschung und Entwicklung. Es geht da-
rum, vorrangig die wirtschaftsnahe Infrastruktur zu optimieren, zugkräftige
Investitionen sowie die regionale Vernetzung zu unterstützen und über Mul-
tiplikatoreneffekte zusätzliche Investitionen und Arbeitsplätze auch über die
Wachstumscluster hinaus anzustoßen. Wirtschaftsfördermittel müssen vor-
rangig in die Kernbereiche wirtschaftsnaher Infrastruktur, Investitionsförde-
rung produktiverAnlagen sowie Forschung undEntwicklung gelenktwerden;

4. die Entwicklung strukturschwacher Gebiete jedoch nicht aus dem Blick zu
verlieren. Hier ist den regionalen Besonderheiten Rechnung zu tragen. Die
Perspektiven dünn besiedelter, strukturschwacher Regionen sind durch Maß-
nahmen einer bedarfsgerechten Infrastrukturanbindung an die Entwicklungs-
zentren undder Förderungder für den ländlichenRaum typischenWirtschafts-
zweige wie Handwerk, Tourismus, Land- und Forstwirtschaft zu sichern;

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/3047

5. fruchtlosen Debatten über so genannte Sonderwirtschaftszonen entgegen-
zutreten und stattdessen den neuen Ländern wesentlich größere Hand-
lungsspielräume zu gewähren, um auf die jeweilige regionale Situation
zugeschnittene Lösungen zu ermöglichen. Die föderale Struktur der Bundes-
republik Deutschland ist grundsätzlich geeignet, Unterschieden im Lande
differenziert zu begegnen. So ist es beispielsweise erforderlich, dass der
Bundesgesetzgeber vor allem in den Bereichen des Planungs- und Genehmi-
gungsrechts den Ländern Möglichkeiten eröffnet, zumindest zeitlich be-
grenzt vom Bundesrecht abzuweichen und eigene Regelungen des Landes-
gesetzgebers zu ermöglichen. Sofern sich solche Regelungen bewähren,
sollen sie auf das gesamte Bundesgebiet übertragenwerden. Somit hätten die
neuen Länder die Chance, für den notwendigen Reformprozess in ganz
Deutschland eine Vorreiterrolle zu übernehmen;

6. eine der Produktivität, der Arbeitslosigkeit und der Arbeitsmarktnachfrage
angemessene Lohnfindung in Ostdeutschland zuzulassen;

7. aus dem System der Lohnersatz- und Transferleistungen für arbeitsfähige
Arbeitslose ein System der Lohnergänzungsleistungen zu machen. Dies soll
sicherstellen, dass ein arbeitsfähiger Arbeitsloser, der eine gering entlohnte
Tätigkeit aufnimmt, durch seinen Lohn und einen Lohnkostenzuschuss bzw.
ergänzende Sozialhilfe über ein höheres Gesamteinkommen verfügt als je-
mand, der nicht arbeitet. Ziel muss vor allem sein, Arbeitsplätze zu schaffen
und den zahlreichen Langzeitarbeitslosen in Ostdeutschland neue Chancen
auf dem Arbeitsmarkt zu bieten;

8. eine Neuregelung des Kündigungsschutzes bei Neueinstellungen zuzu-
lassen, die den Arbeitgebern die Besetzung aller verfügbaren Arbeitsplätze
erleichtert und das Missverhältnis aus einerseits hohen Arbeitslosenzahlen
und andererseits hohem Überstundenvolumen abbaut;

9. Verkehrsprojekte, die im Zusammenhang mit der Erweiterung der Euro-
päischen Union von Bedeutung sind, im Bundesverkehrswegeplan als
„Vordringlichen Bedarf“ auszuweisen und ein Sonderprogramm der Euro-
päischen Union „Verkehrsprojekte Europäische Einheit“ aufzulegen. Die
Geltungsdauer des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes muss
verlängert werden;

10. die Forschungsförderung stärker an den Besonderheiten der ostdeutschen
Unternehmenslandschaft auszurichten und die Kooperation von Hochschu-
len und Forschungsinstituten einerseits und den Unternehmern als Auftrag-
geber andererseits zu beleben mit dem Ziel, die vorhandene Wissenschafts-
und Forschungsinfrastruktur für die ansässigen Unternehmen schneller und
wirkungsvoller nutzbar zu machen und einen intensiven Transfer von
Wissen, Technologie und Personal in mittelständische Betriebe zu initiieren
und zu fördern.

Berlin, den 4. Mai 2004
Dr. Angela Merkel, Michael Glos und Fraktion

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