BT-Drucksache 15/2894

Bürokratischer Aufwand und Kosten der neuen EU-Chemikalien-Politik

Vom 31. März 2004


Deutscher Bundestag Drucksache 15/2894
15. Wahlperiode 31. 03. 2004

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Birgit Homburger, Angelika Brunkhorst, Michael Kauch, Daniel
Bahr (Münster), Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher, Helga Daub, Jörg van Essen,
Ulrike Flach, Otto Fricke, Horst Friedrich (Bayreuth), Hans-Michael Goldmann,
Joachim Günther (Plauen), Dr. Christel Happach-Kasan, Christoph Hartmann
(Homburg), Klaus Haupt, Dr. Werner Hoyer, Gudrun Kopp, Jürgen Koppelin,
Sibylle Laurischk, Harald Leibrecht, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger,
Eberhard Otto (Godern), Detlef Parr, Cornelia Pieper, Gisela Piltz, Dr. Andreas
Pinkwart, Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Rainer Stinner, Jürgen Türk, Dr. Volker
Wissing, Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP

Bürokratischer Aufwand und Kosten der neuen EU-Chemikalienpolitik

Die im parlamentarischen Beratungsverfahren befindliche Verordnung zu einer
neuen EU-Chemikalienpolitik (sog. REACH-System – Registrierung, Evalu-
ierung, Autorisierung und Beschränkung von Chemikalien) wird erhebliche
Auswirkungen auf alle Industriezweige haben, die Chemikalien oder darauf
basierende Zubereitungen und Erzeugnisse herstellen, importieren oder ver-
wenden. Dies gilt insbesondere für die Umsetzbarkeit der Anforderungen und
mit Blick auf die Wettbewerbsfähigkeit der betroffenen Unternehmen.
In diesem Zusammenhang hat sich die Landesregierung Nordrhein-Westfalen
(NRW) dazu entschlossen, einige Schlüsselelemente des von der EU-Kommis-
sion vorgeschlagenen REACH-Systems und dessen Konsequenzen im Rahmen
eines Planspiels zu erproben. Ziel der Untersuchung war es, die Praktikabilität
des Verordnungsentwurfs der EU-Kommission für Unternehmen und Behörden
in verschiedenen Wertschöpfungsketten praktisch zu testen, Vorschläge zu sei-
ner Verbesserung zu bewerten und neue Lösungsvorschläge zu entwickeln. Die
Durchführung erfolgte durch eine Arbeitsgemeinschaft von vier unabhängigen
Beratungsunternehmen. Beteiligt waren verschiedene Hersteller von Stoffen
und Zubereitungen, industrielle und gewerbliche Anwender, Importeure, der
Chemiehandel, verschiedene Bundesbehörden (Umweltbundesamt, Bundesan-
stalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, Bundesinstitut für Risikobewer-
tung) und NRW-Landesministerien bzw. -behörden sowie Umwelt- und Ver-
braucherverbände. Die Federführung lag beim Ministerium für Umwelt, Natur-
schutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz unter Leitung von Ministerin
Bärbel Höhn.
Mit Blick auf die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen von REACH weisen
viele Aussagen der Studie (z. B. erheblicher zusätzlicher Personalaufwand,
erhebliche Belastung bzw. Überforderung bezüglich des Aufwands an Zeit,
Personal, Expertise und finanziellen Ressourcen, Einschränkung des Produkt-
spektrums) auf ernsthafte negative Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähig-
keit der gesamten betroffenen Industrie hin. In einer offiziellen Stellungnahme

Drucksache 15/2894 – 2 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

zu den Ergebnissen des Pilotprojekts hat der Minister für Wirtschaft und Arbeit
des Landes Nordrhein-Westfalen, Harald Schartau, ausgeführt, dass erhebliche
Nachbesserungen an der neuen Chemikalien-Richtlinie unabdingbar und die an
die betroffenen Unternehmen gerichteten Anforderungen vielfach nicht zu
erfüllen seien. Der Praxistest habe „… gezeigt, dass mit dem vorliegenden
REACH-Entwurf erhebliche wirtschaftliche Risiken verbunden sind. Insbeson-
dere kleine und mittlere Unternehmen werden – ob als Hersteller, Importeur
oder sogenannte ,nachgeschaltete Anwender‘ – durch einzelne REACH-Anfor-
derungen erheblich belastet. Die Mehrzahl dieser Unternehmen kann vor allem
eine fachliche Stoff- und Risikobeurteilung in der nach REACH geforderten
Detailtiefe und Umfang derzeit nicht gewährleisten. Die Belastung trifft jedoch
auch Großunternehmen, die als Stoffhersteller die geforderte Risikobewertung
entlang der gesamten Wertschöpfungskette vornehmen müssen … Fazit: …
Käme sie [die Verordnung] in ihrer jetzigen Form, würde die Konkurrenzfähig-
keit unserer Chemieindustrie stark beeinträchtigt. Das muss auch mit aller
Deutlichkeit und auf allen Ebenen klar gemacht werden.“ (Internet-Stellung-
nahme von Harald Schartau am 13. Januar 2004).

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Wie bewertet die Bundesregierung die Ergebnisse des Pilotprojekts in Nord-

rhein-Westfalen im Hinblick auf die Praktikabilität und Umsetzbarkeit der
REACH-Anforderungen insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen
sowie nachgeschaltete Anwender?

2. In welcher Hinsicht sind die geplanten Vorgaben des REACH-Systems nach
Auffassung der Bundesregierung ökologisch verbesserungsfähig?

3. Welche Maßnahmen gedenkt die Bundesregierung im weiteren legislativen
Verfahren zu ergreifen, damit die im Ergebnisbericht aufgezeigten Mängel
im Verordnungsvorschlag behoben werden und die Verordnung für den
Mittelstand umsetzbar wird?

4. Wie bewertet die Bundesregierung die Ergebnisse des Pilotprojekts mit
Blick auf die gesamtwirtschaftliche Ebene und die relative Position
Deutschlands und Europas als Chemiestandort, und welche Maßnahmen
gedenkt die Bundesregierung im weiteren legislativen Verfahren vor diesem
Hintergrund zu ergreifen?

5. Welche Maßnahmen sieht die Bundesregierung speziell für kleine und mitt-
lere Unternehmen vor, damit die im Pilotprojekt identifizierte hohe wirt-
schaftliche Belastung reduziert und die Existenz der betreffenden Unter-
nehmen nicht gefährdet wird?

6. Wie bewertet die Bundesregierung die im Projektbericht vorgetragene Sorge,
dass die Durchführung von Tests bei kleinvolumigen Stoffen (10 bis 100 t/a)
zu überproportionalen Steigerungen der Produktkosten und deshalb zu einer
Einschränkung des hergestellten und/oder angewendeten Stoffspektrums
führen wird bzw. ein hohes wirtschaftliches Risiko bei der Registrierung von
kleinvolumigen Stoffen bedeutet?

7. Welche Maßnahmen gedenkt die Bundesregierung im weiteren legislativen
Verfahren diesbezüglich zu ergreifen?

8. Wie beurteilt die Bundesregierung die im Pilotprojekt identifizierten ineffi-
zienten oder unpraktikablen Verfahrensabläufe und die dazu in der Studie
erarbeiteten Vorschläge insbesondere im Hinblick auf
– vereinfachte Verfahren zur Expositionsbewertung und zur Kommunika-

tion in den Wertschöpfungsketten (z. B. Entwicklung von Expositions-
kategorien),

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/2894

– eine Reduzierung des Testumfangs, um die oben angesprochene Proble-
matik bei kleinvolumigen Stoffen (10 bis 100 t/a) zu entschärfen (Der
Umfang der Stoffdaten sollte stärker von der zu erwartenden Exposition
abhängig sein, anstatt von Mengenschwellen. Als mögliches Konzept
wird vorgeschlagen, zunächst einen Mindestdatensatz vorzuschreiben
und dann weitere Daten nach der Exposition zu fordern; siehe Thema 7,
Seite 28 der Langfassung des Projektberichtes),

– eine Reduzierung der Datenanforderungen im Hinblick auf neu durch-
zuführende Tests (z. B. Anwendung der sehr aufwändigen und teuren
GLP-Standards nur für Wirbeltierversuche und nicht für chemisch-
physikalische Daten),

– vereinfachte Verfahrensregelungen z. B. zur Risikobewertung, zur An-
erkennung alter Studien, zur Anerkennung von Analogieschlüssen und
Gruppenbewertungen,

– die Schaffung der Möglichkeit der Nachlieferung der erforderlichen
Testdaten bei Überschreiten von Mengenschwellen in jenen Fällen, in
denen unerwartet hohe Stoffmengen nachgefragt werden (Märkte mit
kurzen oder z. B. modebedingten Innovationszyklen),

– die Vorgabe einfacher und akzeptierter Abschneidekriterien durch die
Verordnung (z. B. Konzentration eines Stoffes oder Reaktionsproduktes
im Endprodukt), unterhalb derer eine Risikobewertung abgebrochen
werden kann, auch wenn das Emissionsverhalten der Substanzen nicht
genau bekannt ist?

9. Welche Änderungen am Verordnungstext hält die Bundesregierung für
erforderlich, um die Praktikabilität der Regelungen sowie die Wett-
bewerbsfähigkeit der Unternehmen zu gewährleisten?

10. Auf welche Weise, an welcher Stelle und von wem werden die in Beant-
wortung der Fragen 8 und 9 genannten Korrekturvorschläge auf euro-
päischer Ebene konkret für Deutschland in den weiteren Rechtsetzungs-
prozess eingebracht?

11. Wie beurteilt die Bundesregierung den Vorschlag aus dem Ergebnisbericht
des Pilotprojektes, EU-Leitlinien, vereinfachte Verfahrensregeln und ande-
re Umsetzungsinstrumente und Hilfsmittel zu einer Reihe verschiedener
Regelungen im Verordnungsvorschlag sowie Qualifizierungs- und Schu-
lungsmaßnahmen vor dem Start des REACH-Systems bereitzustellen?

12. Beabsichtigt die Bundesregierung, entsprechende Qualifizierungs- und
Schulungsmaßnahmen selbst anzubieten bzw. durch geeignete Behörden
anbieten zu lassen?

13. Wenn ja, weshalb?
Wenn nein, weshalb nicht?

14. Wenn ja, in welcher konkreten Form soll dies unter Beteiligung welcher
Behörden geschehen, welcher zusätzliche Aufwand ist damit ggf. für die
öffentliche Hand auf welcher föderalen Ebene verbunden, und auf welche
Weise soll die Finanzierung gewährleistet werden?

15. Wie beurteilt die Bundesregierung die Gefahr, dass die betroffenen Unter-
nehmen mit Blick auf die in Frage 11 angesprochenen Umsetzungshilfen
zusätzlich zu der umfangreichen Verordnung mit einer Fülle von Zusatz-
dokumenten konfrontiert und überlastet werden, zumal auch hier noch
völlig offen ist, ob es wirklich gelingen wird, solche Leitfäden oder
„Guidance-Dokumente“ für alle Beteiligten so verständlich zu gestalten,
dass sie tatsächlich geeignet sein werden, Probleme zu lösen und zu einer
verbesserten Praktikabilität beizutragen?

Drucksache 15/2894 – 4 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode
16. Wie beurteilt die Bundesregierung den REACH-Verordnungsvorschlag mit
Blick auf den Import von Erzeugnissen (vgl. Kapitel 6.2.1 und 6.2.3 in der
Langfassung des Projektberichtes) sowie die Registrierung von importier-
ten chemischen Zwischenprodukten (vgl. Kapitel 6.2.4), zumal für diese
Problembereiche im Pilotprojekt kein Lösungsvorschlag gefunden werden
konnte?

17. Hält es die Bundesregierung angesichts der Ergebnisse des Pilotprojektes
für erforderlich, auf europäischer Ebene auf eine Veränderung des Ver-
ordnungsentwurfs hinzuwirken?

18. Wenn ja, in konkret welcher Hinsicht?
Wenn nein, warum nicht?

19. Hält die Bundesregierung vor dem Hintergrund ihrer bisherigen Bedenken
dennoch an dem ursprünglichen Konzept fest?

20. Wird sich die Bundesregierung auf europäischer Ebene dafür einsetzen, im
Eindruck der Ergebnisse der zitierten Studie ein umfassendes Pilotprojekt
auf europäischer Ebene vorzusehen, um die Praktikabilität und Umsetz-
barkeit der künftigen Regelungen zu gewährleisten?

21. Wenn nein, weshalb nicht?
22. Wenn ja, welche konkreten Maßnahmen sind beabsichtigt, um ein solches

Pilotprojekt zu realisieren bzw. sich und die entsprechenden Bundesbehör-
den aktiv daran zu beteiligen?

23. Trifft es zu, dass seitens des Bundesministeriums des Innern und des
Bundesministeriums für Bildung und Forschung angeregt worden ist, die
REACH-Verordnung auf die Liste der „Initiative Bürokratieabbau“ zu
setzen, und wenn ja, wie bewertet die Bundesregierung diesen Vorschlag?

24. Wenn nein, beabsichtigt die Bundesregierung, diesen Vorschlag aufzu-
greifen?

Berlin, den 30. März 2004
Birgit Homburger
Angelika Brunkhorst
Michael Kauch
Daniel Bahr (Münster)
Rainer Brüderle
Ernst Burgbacher
Helga Daub
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Horst Friedrich (Bayreuth)
Hans-Michael Goldmann
Joachim Günther (Plauen)
Dr. Christel Happach-Kasan
Christoph Hartmann (Homburg)
Klaus Haupt
Dr. Werner Hoyer

Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Eberhard Otto (Godern)
Detlef Parr
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Andreas Pinkwart
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Rainer Stinner
Jürgen Türk
Dr. Volker Wissing
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.