BT-Drucksache 15/2613

Rechtsgrundlagen für die Anordnung der Untersuchungshaft für Jugendliche auf den Prüfstand

Vom 3. März 2004


Deutscher Bundestag Drucksache 15/2613
15. Wahlperiode 03. 03. 2004

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Jörg van Essen, Daniel Bahr (Münster), Rainer Brüderle, Ernst
Burgbacher, Angelika Brunkhorst, Helga Daub, Otto Fricke, Horst Friedrich
(Bayreuth), Rainer Funke, Hans-Michael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan,
Klaus Haupt, Ulrich Heinrich, Birgit Homburger, Michael Kauch, Gudrun Kopp,
Jürgen Koppelin, Sibylle Laurischk, Harald Leibrecht, Ina Lenke, Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, Dirk Niebel, Eberhard Otto (Godern), Detlef Parr,
Gisela Piltz, Dr. Max Stadler, Carl-Ludwig Thiele, Dr. Claudia Winterstein,
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion der FDP

Rechtsgrundlagen für die Anordnung der Untersuchungshaft für Jugendliche
auf den Prüfstand

Die Anordnung der Untersuchungshaft ist grundsätzlich nach § 72 Jugend-
gerichtsgesetz (JGG) i. V. m. §§ 112 ff. Strafprozessordnung (StPO) auch ge-
gen Jugendliche unter bestimmten Voraussetzungen zulässig.
Nach den Mindestgrundsätzen der Vereinten Nationen für die Jugendgerichts-
barkeit von 1985 („Beijing-Regeln“) soll die Jugendgerichtsbarkeit das Wohl
der Jugendlichen in den Vordergrund stellen, gleichzeitig aber auch gewährleis-
ten, dass die Reaktionen gegen jugendliche Täter im Hinblick auf die Umstände
des Täters wie auch der Tat stets verhältnismäßig sind. Daraus ergibt sich auch
der Leitgedanke, dass der Freiheitsentzug nur wegen schwerer Gewaltver-
brechen gegen Personen oder mehrfach wiederholter anderer schwerer Straf-
taten zulässig sein soll.
Hinsichtlich einer Verhängung von Untersuchungshaft für Jugendliche ist das
Problembewusstsein stark gewachsen. Der Vollzug von Untersuchungshaft bei
Jugendlichen kann in besonderemMaße zu psychischen Beeinträchtigungen und
negativen Auswirkungen im Sozial-, Ausbildungs- und Arbeitsbereich führen.
In den meisten Fällen wird der Haftgrund der Fluchtgefahr für die Anordnung
der Untersuchungshaft genutzt; in der Praxis deutet sich an, dass dieser Haft-
grund zweckentfremdet wird, um die Untersuchungshaft zu erzieherischen
Zwecken zu nutzen.

Wir fragen die Bundesregierung:
1. Ist der Bundesregierung bekannt, wie viele Jugendliche sich in Deutschland

seit dem Jahr 2000 in der Untersuchungshaft befinden bzw. befanden?
a) Wenn ja, ist der Bundesregierung bekannt, für welche Zeiträume sich die-

se Jugendlichen in der Untersuchungshaft befunden haben?
b) Wenn ja, ist der Bundesregierung bekannt, welcher Haftgrund jeweils

vorgelegen hat und welcher Straftaten sich diese Jugendlichen jeweils
verdächtig gemacht haben?

Drucksache 15/2613 – 2 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode
c) Wenn ja, ist der Bundesregierung bekannt, in welchen Bundesländern
und Haftanstalten diese Jugendlichen jeweils untergebracht wurden?

2. Ist die Bundesregierung der Ansicht, dass die bisherige Rechtsgrundlage
für die Anordnung der Untersuchungshaft für Jugendliche verfassungs-
gemäß ist?

3. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass zur Anordnung und Rege-
lung der Untersuchungshaft für Jugendliche ein eigenes Gesetz notwendig
ist, um für die Jugendlichen eigene Regelungen ohne Heranziehung der
Vorschriften der StPO zu haben?

4. Ist die Bundesregierung der Ansicht, dass die Rechtsgrundlage für die An-
ordnung der Untersuchungshaft für Jugendliche gemäß § 72 JGG sowie die
geltende Rechtspraxis dem im Jugendstrafrecht verankerten Erziehungs-
gedanken in angemessener Weise Rechnung trägt?

5. Ist die Bundesregierung der Ansicht, dass die Nichtanrechnungsmöglich-
keit der Untersuchungshaft gemäß § 52a Abs. 1 Satz 2 JGG hinsichtlich
der Nichtanrechnung aus erzieherischen Gründen im Hinblick auf Wer-
tungsunterschiede mit § 51 Abs. 1 Strafgesetzbuch (StGB) gestrichen wer-
den sollte?

6. Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass die Alternativen zur Unter-
suchungshaft für Jugendliche ausgeweitet und gesetzlich im Subsidiaritäts-
grundsatz des § 72 Abs. 1 JGG verankert und die Anordnungsmöglichkeiten
von derUntersuchungshaft für Jugendliche dadurch begrenztwerden sollten?

7. Sieht die Bundesregierung gesetzgeberischen Handlungsbedarf dahin
gehend, die Verhängung einer Untersuchungshaft für Jugendliche nach
generalpräventiven Erwägungen auszuschließen?

8. Wie bewertet die Bundesregierung den Vorschlag, die Anordnung der
Untersuchungshaft für Jugendliche an einen bestimmten Katalog von Straf-
taten zu knüpfen?

9. Sieht die Bundesregierung Handlungsbedarf in Bezug auf § 72 Abs. 5
JGG, um dem Beschleunigungsgebot künftig in der Praxis verstärkt Rech-
nung zu tragen?

10. Ist die Bundesregierung der Ansicht, dass die Vorschrift des § 72 JGG
sowie die Haftentscheidungshilfe nach § 72a JGG ausdrücklich auch auf
Heranwachsende Anwendung finden sollte?

11. Ist die Bundesregierung der Ansicht, dass § 93 Abs. 1 JGG sowie § 119
Abs. 1 StPO eine ausreichende gesetzliche Grundlage dafür bieten, dass
das Prinzip der Trennung beim Untersuchungshaft-Vollzug auch in prakti-
scher Hinsicht garantiert wird und eine regelmäßige Anwendung findet?

12. Wiebeurteilt dieBundesregierungdieVerfassungsmäßigkeitderNr. 80Abs. 2
Untersuchungshaftvollzugsordnung/UVollzO (Arbeitspflichtregelung)?

13. Sind der Bundesregierung wissenschaftliche Untersuchungen über die
Untersuchungshaft für Jugendliche bekannt?
Wenn ja, zu welchen Ergebnissen kommen diese Untersuchungen?

Berlin, den 3. März 2004
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

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