BT-Drucksache 15/2472

Zusätzliche Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge bei Versorgungsbezügen durch das GKV-Modernisierungsgesetz rückgängig machen

Vom 11. Februar 2004


Deutscher Bundestag Drucksache 15/2472
15. Wahlperiode 11. 02. 2004

Antrag
der Abgeordneten Dr. Dieter Thomae, Detlef Parr, Dr. Heinrich L. Kolb,
Carl-Ludwig Thiele, Rainer Brüderle, Angelika Brunkhorst, Ernst Burgbacher,
Jörg van Essen, Horst Friedrich (Bayreuth), Rainer Funke, Joachim Günther
(Plauen), Dr. Karlheinz Guttmacher, Dr. Christel Happach-Kasan, Christoph
Hartmann (Homburg), Klaus Haupt, Ulrich Heinrich, Birgit Homburger, Dr. Werner
Hoyer, Michael Kauch, Gudrun Kopp, Jürgen Koppelin, Harald Leibrecht,
Ina Lenke, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dirk Niebel, Hans-Joachim Otto
(Frankfurt), Cornelia Pieper, Dr. Günter Rexrodt, Dr. Hermann Otto Solms,
Dr. Rainer Stinner, Jürgen Türk, Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP

Zusätzliche Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge bei Versorgungsbezügen
durch das GKV-Modernisierungsgesetz rückgängig machen

Der Bundestag wolle beschließen:
Die Erhöhung der Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge für Versorgungs-
bezüge und Betriebsrenten, die durch die Änderung des § 248 SGB V in
Nummer 148 des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN beschlossenen GKV-Modernisierungsgesetzes ab 1. Januar 2004
vorgenommen wurde, wird rückwirkend zum 1. Januar 2004 wieder außer Kraft
gesetzt.

Berlin, den 11. Februar 2004
Dr. Dieter Thomae
Detlef Parr
Dr. Heinrich L. Kolb
Carl-Ludwig Thiele
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Jörg van Essen
Horst Friedrich (Bayreuth)
Rainer Funke
Joachim Günther (Plauen)
Dr. Karlheinz Guttmacher
Dr. Christel Happach-Kasan
Christoph Hartmann (Homburg)
Klaus Haupt
Ulrich Heinrich

Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Michael Kauch
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Harald Leibrecht
Ina Lenke
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto (Frankfurt)
Cornelia Pieper
Dr. Günter Rexrodt
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Rainer Stinner
Jürgen Türk
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion

Drucksache 15/2472 – 2 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Begründung
Die ohne Vorwarnung, ohne Übergangsregelungen und ohne ein Gesamtkonzept
erfolgteMehrbelastung vieler Rentnerinnen und Rentner durch das Gesundheits-
modernisierungsgesetz begegnet erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken.
Sie verstößt gegen das elementare Recht auf Vertrauensschutz. Diese Regelung
schadet der Glaubwürdigkeit einer verlässlichen Politik und schafft eine Atmos-
phäre des Misstrauens. Trotz der Notwendigkeit, zusätzliche Altersvorsorge zu
betreiben, dürfte die Regelung dazu führen, dass die Bürger weniger Verträge für
die dringend notwendige zusätzliche Absicherung im Alter abschließen.
Das zum 1. Januar 2004 in Kraft getretene Gesundheitsmodernisierungsgesetz
enthält für Bezieher von Versorgungsbezügen und Betriebsrenten eine erheb-
liche Verschlechterung ihrer bisherigen finanziellen Situation durch die deutlich
höhere Belastungmit Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen. AuchDirekt-
versicherungen und Zusatzversicherungen berufsständischer Versorgungswerke
fallen hierunter. Pflichtversicherte Rentner zahlen ab dem 1. Januar 2004 die vol-
len Beitragssätze von knapp 16 Prozent auf diese Bezüge statt wie bisher die hal-
ben Beitragssätze von knapp 8 Prozent. Freiwillig versicherten Rentnern, denen
mit demGesundheitsstrukturgesetz 1993 gemäß § 240Abs. 3a SGBVBestands-
schutz gewährt wurde, sofern sie vor dem 1. Januar 1993 die Voraussetzung der
Beitragsermäßigung erfüllt und das 65. Lebensjahr vollendet hatten, wird dieser
Vertrauensschutz nunmehr zehn Jahre später wieder entzogen, so dass auch sie
den vollen Beitragssatz zahlen müssen. Das entspricht in etwa einer Mehrbelas-
tung von 8 Prozent.
Zudemwerden freiwillig versicherte Rentner, die bis 31. Dezember 2003 nur den
ermäßigten Beitragssatz gezahlt haben, nunmehr mit dem höheren allgemeinen
Beitragssatz belegt, der die Zahlung von Krankengeld mit einschließt, obwohl
die Rentner keinen Anspruch haben. Das entspricht in etwa einer Mehrbelastung
in Höhe von 1 Prozent. Die ganze Problematik dieser Maßnahme erschließt sich
dann, wenn man berücksichtigt, dass eine weitere Regelung aus verfassungs-
rechtlichen Bedenken keinen Eingang in das Gesundheitsmodernisierungsgesetz
gefunden hat. Ab 1. Januar 2006 sollen die GKV-Versicherten einen Sonderbei-
trag von 0,5 Prozent ohne Beteiligung der Arbeitgeber entrichten, der ursprüng-
lich dafür gedacht war, das Krankengeld alleine durch die Versicherten finanzie-
ren zu lassen. DieserGedanke ist jedoch aus verfassungsrechtlichenGründen fal-
len gelassen worden, weil nicht darstellbar erschien, dass die Rentner ohne An-
spruch auf Krankengeld diesen Beitrag ebenfalls zu entrichten hätten. Diese
verfassungsrechtlichen Bedenken lassen sich auf die Neuregelung übertragen,
dass nunmehr nichtmehr der ermäßigte, sondern der höhere allgemeineBeitrags-
satz zu zahlen ist.
Eine deutliche Verschlechterung der finanziellen Situation ergibt sich auch für
die Bezieher von betrieblicher Altersversorgung (z. B. Direktversicherungen),
die sich von Anfang an auf eine einmalige Auszahlung festgelegt haben. Für
diese Kapitalauszahlungen galt bis zum 31. Dezember 2003 Beitragsfreiheit.
Ohne Übergangsregelungmuss nunmehr verteilt auf zehn Jahre jeweils der volle
Beitragssatz an die Kranken- und Pflegeversicherung entrichtet werden. Dies
entspricht einer Mehrbelastung von knapp 16 Prozent der Bezüge.
Alle politischen Parteien sind sich darüber einig, dass die umlagefinanzierte
Rente für die Zukunft nicht ausreichen wird. An einer zusätzlichen Vorsorge
führt deshalb kein Weg vorbei. Es ist insofern völlig unverständlich, dass die
Koalitionsfraktionen und die Fraktion CDU/CSU im GKV-Modernisierungs-
gesetz ein falsches Signal setzen, das dem Ausbau der Altersvorsorge entgegen-
steht. Viele Arbeitnehmer empfinden es als ungerecht, dass durch die Neurege-
lung teilweise noch einmal Sozialversicherungsbeiträge bei der Auszahlung fäl-
lig werden, obwohl die Einzahlung aus bereits verbeitragten Lohnbestandteilen
stattgefunden hat. Das betrifft die Direktversicherungen unmittelbar. Für die Be-

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/2472

troffenen ist es der reine Zufall, ob ihnen entsprechendeKapitalauszahlungen bis
zum 31. Dezember 2003 oder ab 1. Januar 2004 ausgezahlt wurden, allerdings
mit entscheidenden Konsequenzen. Während im ersten Fall keine Beiträge zu
zahlen waren, wird im zweiten Fall der volle Kranken- und Pflegeversicherungs-
beitrag auf den Kapitalbetrag, verteilt über zehn Jahre, fällig.
Ein elementarer Bestandteil einer verantwortungsbewussten Gesetzgebung ist
der Vertrauensschutz, so wie er 1993 unter Mitwirkung der Fraktion der FDP für
freiwillig versicherte Rentner verankert wurde. Einschnitte dieses Ausmaßes
sind nur dann akzeptabel, wenn denBetroffenen dieKürzungen so rechtzeitig be-
kannt sind, dass ihnen ausreichend Zeit bleibt, entsprechende Vorsorge zu tref-
fen. Für dieVersichertenwaren diese jetzt beschlossenen erheblichenEinschnitte
nicht vorhersehbar. Sie hatten daher keine Möglichkeit, einen entsprechenden
Einkommensausgleich für ihr Alter zu schaffen. Ganz besonders trifft das die
derzeitigen rund dreiMillionen Bezieher vonVersorgungsbezügen und Betriebs-
renten. Sie können die von den Fraktionen CDU/CSU, SPD und BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN beschlossenen Einschnitte gar nicht mehr durch Erhöhung ihrer
Vorsorge ausgleichen, da sie in der Regel keine entsprechenden laufenden Ein-
künfte haben, um gegensteuern zu können. Aber auch die kurz vor ihrer Rente
stehenden zukünftigen Bezieher von Versorgungsbezügen und Betriebsrenten
sind hierzu nicht mehr in der Lage. Stark betroffen sind auch diejenigen, die mit-
tlerweile in hohem Alter sind und davon ausgingen, dass der vom Gesetzgeber
1993 eingeräumte Vertrauensschutz auch Bestand hat. Die besondere Bedeutung
des Vertrauensschutzes unterstreicht auch ein Beschluss des Bundesfinanzhofes
vom 16. Dezember 2003 in der Frage, inwieweit der Staat bei Entscheidungen
kassieren darf, die die Bürger in der Vergangenheit in demGlauben getroffen ha-
ben, nicht dem Zugriff des Staates zu unterliegen. Der Bundesfinanzhof hat das
Bundesverfassungsgericht angerufen, weil er der Auffassung ist, dass die ab
1999 geltende Neuregelung, dass Gewinne aus der Veräußerung von Grundstü-
cken des Privatvermögens erst nach zehn Jahren und nicht wie bis dahin nach
zwei Jahren steuerfrei sind, nicht rückwirkend in Kraft gesetzt werden darf. Der
Grundsatz desVertrauensschutzesmuss auch in der Sozialgesetzgebung beachtet
werden. Andernfalls werden Appelle an die Menschen, mehr private Vorsorge
für ihr Alter zu treffen, zukünftig ohne den gewünschten Erfolg bleiben.
Die Veränderung bei den Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen ist zudem
losgelöst von einem Gesamtkonzept zur Rentenpolitik und damit als singuläre
und isolierteMaßnahme zur Finanzierung der nicht in dem notwendigenUmfang
und nicht mit der richtigen Zielrichtung reformierten Krankenversicherung poli-
tisch nicht verantwortbar. Es kann nicht angehen, dass festgestellt wird, dassman
1,6 Mrd. Euro in der gesetzlichen Krankenversicherung braucht und diese dann
willkürlich ohne Gesamtkonzept von den Betriebsrentnern kassiert, weil man
– wie es in der Begründung zum Gesundheitsmodernisierungsgesetz heißt – die
Empfänger von Versorgungsbezügen durch deren Zahlstellen lückenlos erfassen
kann. Kurzum: weil niemand fliehen kann. Begründet wird dieMaßnahme durch
den Gesetzgeber damit, dass die Rentner, die Versorgungsbezüge und Arbeits-
einkommen aus selbständiger Tätigkeit erhalten, in angemessenem Umfang an
der Finanzierung der Leistungsaufwendungen beteiligt werden müssten. Es sei
ein Akt der Solidarität, den Anteil der Mitfinanzierung von Leistungen der Rent-
ner durch die Erwerbstätigen, der heute 57 Prozent gegenüber 30 Prozent in 1973
betrage, nicht noch größer werden zu lassen. Dabei wurde bewusst übersehen,
dass die Rentner in den unterschiedlichen zurzeit beschlossenen oder noch zu
beschließenden Reformgesetzen an allen Ecken und Enden finanziell zum Teil
ganz erheblich belastet werden. Sie müssen auch auf die gesetzliche Rente ab
1. April 2004 den vollen Pflegeversicherungsbeitrag bezahlen, statt wie bisher
die Hälfte. Ab 1. Januar 2005 soll der schrittweise Umstieg auf die nachgelagerte
Besteuerung erfolgen, der gerade bei den Rentnern zu deutlichen Einkommens-
verlusten führen wird, die einen größeren Teil ihres Altersruhestands über eine

Drucksache 15/2472 – 4 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode
Betriebsrente finanzieren. Gleichzeitig sinkt das Niveau der Renten nicht nur no-
minal, sondern durch die Nullrunde real. Besonders betroffen sind Empfänger
von kleinen Versorgungsbezügen und Betriebsrenten, sofern diese Bezüge
gleichzeitig ihre Haupteinnahmequelle zur Deckung ihres Lebensunterhalts im
Alter darstellen. Ein Gesamtkonzept, welches das angeblich von allen politisch
Verantwortlichen gewollte Drei-Säulen-Konzept im Alter unterstützt, nach wel-
chem Betriebsrenten und Versorgungsbezügen ein deutlich wichtigerer Stellen-
wert zukommen soll, ist nicht erkennbar, denn mit der zusätzlichen Belastung
dieser Einkünfte wird diese Form der Altersvorsorge zunehmend unattraktiv.
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung deshalb auf, das Vertrauen
in eine verlässliche Gesetzgebung über die Beachtung des Vertrauensschutzes
wieder herzustellen und endlich ein schlüssiges Gesamtkonzept für eine gerechte
Verteilung finanzieller Lasten vorzulegen. Bis dahinmuss davon abgesehenwer-
den, einzelne Bevölkerungsgruppen isoliert durch Einzelmaßnahmen zu belas-
ten. Die Ausweitung der Beitragszahlung bei Betriebsrenten, Direktversicherun-
gen und Versorgungsbezügen aus Versorgungswerken ist umgehend rückwir-
kend zum 1. Januar 2004 wieder außer Kraft zu setzen.

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