BT-Drucksache 15/2372

Demenz früh erkennen und behandeln - für eine Vernetzung von Strukturen, die Intensivierung von Forschung und Unterstützung von Projekten

Vom 16. Januar 2004


Deutscher Bundestag Drucksache 15/2372
15. Wahlperiode 16. 01. 2004

Antrag
der Abgeordneten Hilde Mattheis, Gudrun Schaich-Walch, Helga Kühn-Mengel,
Peter Dreßen, Marga Elser, Reinhold Hemker, Eike Hovermann, Klaus Kirschner,
Eckhart Lewering, Götz-Peter Lohmann, Erika Lotz, Dr. Erika Ober, Horst
Schmidbauer (Nürnberg), Silvia Schmidt (Eisleben), Wilhelm Schmidt (Salzgitter),
Karsten Schönfeld, Fritz Schösser, Dr. Margrit Spielmann, Rolf Stöckel, Dr. Marlies
Volkmer, Dr. Wolfgang Wodarg, Franz Müntefering und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Petra Selg, Irmingard Schewe-Gerigk, Volker Beck
(Köln), Birgitt Bender, Ekin Deligöz, Jutta Dümpe-Krüger, Hans-Josef Fell,
Winfried Hermann, Markus Kurth, Winfried Nachtwei, Ursula Sowa, Silke Stokar
von Neuforn, Katrin Göring-Eckardt, Krista Sager und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Demenz früh erkennen und behandeln – für eine Vernetzung von Strukturen,
die Intensivierung von Forschung und Unterstützung von Projekten

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Die Pflegeversicherung hat sich in den neun Jahren ihres Bestehens als ein
wichtiger Baustein bei der Absicherung sozialer Risiken erwiesen. Aber es gibt
Entwicklungen, die Anlass geben, die Pflegeversicherung fortzuentwickeln:
Aufgrund der demografischen Veränderungen wächst in Deutschland die Zahl
der betagten und hochbetagten Menschen. Das Bundesinstitut für Bevölke-
rungsforschung rechnet damit, dass im Jahr 2050 statt bisher 82,5 Millionen
nur noch 75 Millionen Menschen in der Bundesrepublik Deutschland leben
werden. Die Lebenserwartung wird um weitere sieben Jahre steigen, d. h.
Frauen werden im Schnitt 87 Jahre, Männer 82 Jahre alt. Im Vergleich: Vor
hundert Jahren lag die durchschnittliche Lebenserwartung bei nur 46 Jahren.
Demenzerkrankungen spielen in den Altersgruppen ab 60 Jahre eine zuneh-
mende Rolle. Zurzeit leiden ca. 1,2 Millionen Menschen an Demenzerkrankun-
gen, von denen der Morbus Alzheimer die häufigste Variante darstellt. Die Zahl
der an Demenz erkrankten Pflegebedürftigen wird stetig ansteigen. Sofern
keine nachhaltigen Fortschritte in Prävention und Therapie gelingen, wird sich
die Zahl der mittelschweren und schweren Demenzen in den nächsten 50 Jah-
ren verdoppeln. Aus diesen Zahlen ergibt sich deutlich die Notwendigkeit,
rechtzeitig die richtigen Weichen für die Schaffung eines Netzes von abgestuf-
ten, bedürfnisorientierten und gemeindenahen Hilfen und Versorgungsange-
boten für diese hilfebedürftigen Menschen zu schaffen.

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Ausmaß und Dringlichkeit der Herausforderung Demenz sind inzwischen all-
gemein anerkannt. Sowohl der 4. Bericht der Bundesregierung zur Lage der
älteren Generation vom Frühjahr 2002 mit dem Titel „Risiken, Lebensqualität
und Versorgung Hochaltriger unter besonderer Berücksichtigung demenzieller
Erkrankungen“ sowie die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage
der SPD-Bundestagsfraktion „Situation der Demenzkranken in der Bundes-
republik Deutschland“ vom 10. Juli 1996 (Bundestagsdrucksache 13/5257) und
die Antwort der Bundesregierung auf die große Anfrage der CDU/CSU-
Bundestagsfraktion „Lebenssituationen von Seniorinnen und Senioren in der
Bundesrepublik Deutschland“ vom 6. Oktober 1999 (Bundestagsdrucksache
14/1717) verdeutlichen die Situation.
Die Regierungskoalition von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat mit
dem 4. SGB XI-Änderungsgesetz zur Stärkung der häuslichen Pflege Leis-
tungen der ambulanten und teilstationären Pflege sowie der Kurzzeitpflege ver-
bessert. Mit dem am 1. Januar 2002 in Kraft getretenen Gesetz zur Qualitäts-
sicherung und zur Stärkung des Verbraucherschutzes in der Pflege sind darüber
hinaus zentrale Anliegen zur Verbesserung der Versorgung pflegebedürftiger
Menschen aufgegriffen worden durch Maßnahmen, die sich insbesondere auch
zugunsten demenziell erkrankter Pflegebedürftiger in stationärer Pflege aus-
wirken.
Mit dem ebenfalls zum 1. Januar 2002 in Kraft getretenen Gesetz zur Ergän-
zung der Leistungen bei häuslicher Pflege von Pflegebedürftigen mit erheb-
lichem allgemeinen Betreuungsbedarf (Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetz) ist
es zudem gelungen, in einem ersten Schritt rund 550 000 betroffenen Pflege-
bedürftigen rund 225 Mio. Euro zur Stärkung des Angebotes der häuslichen
Pflege zur Verfügung zu stellen. Die Neuregelung ermöglicht erstmals die fi-
nanzielle Förderung zusätzlicher Versorgungsangebote und Hilfen für demenz-
kranke Pflegebedürftige aus Mitteln der Pflegeversicherung. Auch das Gesetz
über die Berufe in der Altenpflege, das am 1. August 2003 in Kraft getreten ist,
wird dazu beitragen, dass Schülerinnen und Schüler der Altenpflege bereits in
der Ausbildungsphase auf die beruflichen Anforderungen der Pflege und Be-
treuung demenziell Erkrankter qualifiziert vorbereitet werden.
Trotz dieser Verbesserung besteht weiterer Handlungsbedarf.

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
1. Es gibt Defizite in der Früherkennung von Demenz. Aus Schamgefühl und

Unkenntnis der Symptome wenden sich Betroffene zu spät an ihre/n Arzt/
Ärztin und verleugnen ihre Krankheitssymptome so lange wie möglich.
Hausärztinnen und Hausärzte und Familien erkennen die Symptome von
Demenzerkrankungen häufig nicht. Demenzerkrankungen werden in vielen
Fällen häufig fälschlicherweise als normale Altersleistungsschwäche diag-
nostiziert, zuverlässige Untersuchungen zur Früherkennung werden nur in
speziellen Einrichtungen durchgeführt.
Trotz der bereits in den vergangenen Jahren unternommenen Anstrengungen
der Bundesregierung zur Aufklärung über das Krankheitsbild bestehen bei
einem großen Teil der Bevölkerung immer noch Wissenslücken, die mit der
Tabuisierung dieses Krankheitsbildes einhergehen. Entsprechende Informa-
tions-Kampagnen sollten auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene fort-
gesetzt und intensiviert werden. Darüber hinaus besteht der Bedarf, die Fort-
bildung von Ärztinnen und Ärzten und medizinischem und therapeutischem
Personal im Hinblick auf die speziellen Aspekte der Medizin des älteren
Menschen und hier insbesondere unter Berücksichtigung demenzspezifi-
scher Aspekte zu verbessern.

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2. Grundsätzlich gilt, dass Prävention und Rehabilitation Vorrang vor der
Pflege haben müssen. Es sind alle Möglichkeiten zu nutzen, um durch ge-
zielte Prävention und Rehabilitation die Kompetenzen von Menschen zur
möglichst langen selbständigen Lebensführung im Alter zu fördern. Präven-
tion, Maßnahmen zur Früherkennung und Rehabilitation bei dementiellen
Erkrankungen sind daher weiter zu verbessern.
Zudem muss der Grundsatz „Rehabilitation vor Pflege“ stärker in der Praxis
umgesetzt werden. Erforderlich sind hier insbesondere Maßnahmen zur
Stärkung und Förderung der geriatrisch-medizinischen Rehabilitation. Da-
bei ist dem Auf- und Ausbau der ambulanten Versorgungsstrukturen insbe-
sondere auch in ländlichen Regionen besondere Priorität einzuräumen. Es
gilt, alten Menschen aus der häuslichen Situation heraus den Weg zur am-
bulanten Rehabilitation zu erleichtern. Neben der Weiterentwicklung dieser
Strukturen ist es darüber hinaus notwendig, in der pflegerischen Versorgung
selbst Ansätze und Konzepte zu unterstützen, die auf die Wiederherstellung
von Kompetenzen und Fähigkeiten pflegebedürftiger Menschen abzielen.
In der Praxis erschweren die unterschiedlichen Zuständigkeiten der Kosten-
träger sowie Schnittstellenprobleme die Umsetzung des Grundsatzes Prä-
vention und Rehabilitation vor Pflege. Deshalb müssen kostenträgerüber-
greifende finanzielle Anreize geschaffen werden. Die Abgrenzung der
verschiedenen Leistungsbereiche muss für alle Beteiligten klar erkennbar
sein.
Darüber hinaus ist eine bessere Vernetzung der vorhandenen Versorgungs-
angebote notwendig. Der Aufbau eines qualifizierten und bedarfsgerechten
integrierten Versorgungssystems kann einen wesentlichen Beitrag leisten,
um Pflegebedürftigkeit zu vermeiden, zu mindern oder aufzuschieben. Ziel
ist die Verbesserung der Kooperation zwischen den Pflegeeinrichtungen,
Therapeutinnen und Therapeuten und niedergelassenen Ärztinnen und Ärz-
ten und dem/r Erkrankten bzw. seinen/ihren Angehörigen. Dazu gehört auch
hier die entsprechende Aus- und Weiterbildung des medizinischen und the-
rapeutischen Personals.

3. Familien – und hier sind es meistens die Frauen, die mit der Pflege und Er-
ziehung der Kinder bereits große Leistungen für die Gesellschaft erbracht
haben – werden in der Pflege und Betreuung ihrer demenziell erkrankten
Angehörigen physisch wie psychisch oft bis an die Grenze der Belastbarkeit
gefordert. Sie benötigen Unterstützung und Entlastung. Wichtig sind hier
insbesondere zugehende Angebote, die den Betroffenen Beratung, Unter-
stützung und Hilfestellung aktiv vermitteln. Dazu müssen vor allem niedrig-
schwellige Angebote ausgebaut werden, das heißt Angebote und Initiativen,
die darauf ausgerichtet sind, durch Beratung sowie durch bürgerschaftliches
Engagement Angehörige zu entlasten und die häusliche Versorgungssitua-
tion von Demenzkranken zu unterstützen. Über die Bereitstellung der ge-
nannten Versorgungs- und Unterstützungsangebote hinaus benötigen pfle-
gende Angehörige Zugang zu unabhängigen Informations-, Beratungs- und
Ausbildungsangeboten, um u. a. umfassende vergleichende Informationen
über die Auswahl der für den individuellen Fall optimalen Versorgungsange-
bote und über Qualität und Umfang der Leistungen einzelner Leistungser-
bringer zu bekommen. Zu prüfen ist ferner, wie sich ein Case-Management
organisieren lässt, möglichst im Rahmen unabhängiger Beratungsstrukturen.
Die Hilfeangebote für Menschen mit einemHilfebedarf unterhalb der Pflege-
stufe I sowie Projekte des betreuten Wohnens müssen unterstützt, professio-
nelle Versorgungsangebote wie z. B. Haushaltshilfen, Bring- und Holdienste
(niedrigschwellige Hilfeangebote), Tages- und Nachtpflegeeinrichtungen,

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Kurzzeitpflegeeinrichtungen ausgeweitet werden. Die Betreuungsformen
ambulant und stationär müssen um die bereits in Modellprojekten erprobten
alternativen Wohn- und Lebensformen ergänzt werden, die besonders für
Demenzkranke sinnvoll sind.
Die Kommunen sind gefordert, diese oben benannten Strukturen auszu-
bauen, um den Verbleib der demenziell erkrankten Menschen in ihrem
häuslichen Umfeld zu ermöglichen und damit eine humane und zudem auch
kostengünstige Alternative zum Leben in einem Heim zu bieten. Die Kom-
munen sollen in ihrer Verantwortung gestärkt und finanziell stärker unter-
stützt werden, wie dies im Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetz vorgesehen ist.
Dieses Gesetz muss im Interesse der Demenzkranken konsequent umgesetzt
werden.

4. Grundlage einer kontinuierlichen Entwicklung von Pflege-Leitlinien ist die
Ursachen- und Versorgungsforschung, die im Rahmen einer vergleichenden
internationalen Zusammenarbeit und der Förderung und Erstellung von Eva-
luations- und Wirksamkeitsstudien verschiedener Therapieformen weiter zu
entwickeln ist.
Es gilt, bestehende Datenbestände zu nutzen und zu vernetzen sowie im
Rahmen einer Querschnittsarbeitsgruppe die Aktivitäten aller Beteiligten zu
koordinieren, die im Bereich der Pflege und Betreuung von Demenzkranken
Verantwortung tragen. In diesem Zusammenhang begrüßt es der Deutsche
Bundestag, dass die Bundesministerien für Gesundheit und Soziale Siche-
rung, für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und für Bildung und For-
schung zahlreiche Projekte fördern und Forschungsmittel vergeben. Die
Forschungserkenntnisse müssen aber auch Eingang in die Betreuung und
Pflege finden. Deshalb muss der Wissenstransfer in die Praxis sichergestellt
werden. Hier müssen neue, effektive Wege gefunden werden, um vorhan-
dene Erkenntnisse verständlich und nutzbar für alle potenziellen Anwender
zu machen. Die Einrichtungsträger sind aufgerufen, Maßnahmen der berufs-
begleitenden Fortbildung noch stärker anzubieten.

5. Die Pflegeversicherung weist Defizite bei der Absicherung von Menschen,
die kontinuierlicher Aufsicht oder psycho-sozialer Betreuung bedürfen auf.
Der heutige Pflegebegriff in der Pflegeversicherung stellt primär auf die so-
matische Pflege ab. Diese Definition von Pflegebedürftigkeit umfasst nicht
alle Bedürfnisse, insbesondere nicht ausreichend die demenzkranker, psy-
chisch kranker oder geistig behinderter Menschen.
Die Bundesregierung hat diesem Umstand in einem ersten Schritt mit dem
Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetz Rechnung getragen und zusätzliche Leis-
tungen für Menschen mit erheblichem allgemeinen Betreuungsbedarf ge-
schaffen.
Im Zuge der anstehenden Reform der Pflegeversicherung sind diese Maß-
nahmen konsequent fortzusetzen. Der Pflegebegriff der Pflegeversicherung
muss in weiteren Schritten überarbeitet werden.

6. Die Bemessungsinstrumente zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit orien-
tieren sich momentan an erkennbaren Defiziten. Präventive, rehabilitative
und aktivierende Aspekte werden nicht ausreichend berücksichtigt. Dies gilt
auch für das bereits heute für die Bemessung der eingeschränkten Alltags-
kompetenz angewandte Assessment, auf dessen Basis gemeinsam mit dem
Pflegebedürftigen ein verbindlicher Hilfe-/Maßnahmenplan, der rehabilita-
tive und aktivierende Maßnahmen beinhaltet, entwickelt werden kann. Da-
bei sind neben den physischen und psychischen Fähigkeiten und Beeinträch-
tigungen des Pflegebedürftigen auch die Potenziale und Beeinträchtigungen
des sozialen Umfeldes und der Infrastruktur zu berücksichtigen. Ein solches
Assessment muss einer strengen Qualitätssicherung unterliegen. Im Hin-

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 5 – Drucksache 15/2372

blick auf eine mögliche Verschlechterung des Zustandes von Demenzkran-
ken ist ein kontinuierliches Assessment ohne lange Wartezeiten sicherzu-
stellen.

7. Um die Souveränität Pflegebedürftiger und ihrer Angehörigen im Umgang
mit Leistungserbringern zu stärken, ist Transparenz hinsichtlich der Qualität
erbrachter Leistungen notwendig. Dazu müssen Rehabilitation und Pflege
einer transparenten und unabhängigen Qualitätsüberprüfung standhalten
können. Die Ergebnisse dieser Qualitätskontrolle müssen den Betroffenen in
verständlicher Sprache und Darstellung zugänglich sein und sollten in die
Beratung von Betroffenen und Angehörigen einfließen. Dabei sollte die be-
ratende Institution eng mit dem Medizinischen Dienst der Krankenversiche-
rung, Heimaufsicht und weiteren Prüfstellen kooperieren.

8. Pflegekräfte brauchen Unterstützung und Entlastung. Die Personalausstat-
tung soll nicht mehr starr an Relationen ausgerichtet sein (derzeit 1:1 Fach-
kraft/Hilfskraft), sondern an den in den Einrichtungen tatsächlich benötigten
personellen Ressourcen. Dafür ist der derzeitige Fachkraftbegriff zu eng.
Die Träger sollen Fachkräfte aus Professionen einstellen können, die in den
Bereichen Wohnen, Kommunikation, Aktivierung oder soziale Begleitung
qualifiziert sind. Darüber hinaus sollte die Einstellung von Hilfskräften für
tagesstrukturierende Angebote möglich sein.
Ausreichende Qualifikation hilft, Überforderung und damit Überlastung zu
vermeiden. Pflegekräfte und andere in der Pflege Tätige müssen in Aus-,
Fort- und Weiterbildung auf die Herausforderungen der steigenden Zahl
von Demenzkranken fachlich und persönlich vorbereitet werden. Nötig sind
insbesondere zusätzliche Kenntnisse in den Bereichen Prävention, Reha-
bilitation und Palliativpflege. Die Regierungskoalition von SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat dafür mit der Neuregelung der Alten-
pflegeausbildung und Krankenpflegeausbildung den Grundstein gelegt.
Diese Regelungen gilt es umzusetzen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf:
Zur Verbesserung der Situation demenzkranker Menschen in unserer Gesell-
schaft müssen alle zu ergreifenden Maßnahmen vier Leitlinien folgen:
Erstens gilt der Grundsatz Prävention und Rehabilitation vor Pflege. Pflegende
Angehörige bedürfen zweitens umfangreicher Unterstützungs- und Entlastung-
sangebote, um die häusliche Pflege und damit den Grundsatz „ambulant vor
stationär“ zu stärken. Drittens sind zur Verbesserung der Lebenssituation de-
menzkranker Menschen bedarfsgerechte Versorgungsstrukturen auf kommuna-
ler Ebene aufzubauen. Viertens ist eine qualitätsgesicherte, kostenträgerüber-
greifende integrierte Versorgung notwendig, in die auch Selbsthilfegruppen und
ehrenamtliche Strukturen einbezogen sind.
Vor diesem Hintergrund sind folgende Maßnahmen zu ergreifen bzw. weiter zu
entwickeln:
– Die bereits ergriffenen Initiativen zur Verbesserung der Früherkennung und

Therapie von Demenzerkrankungen sind zügig weiterzuführen. In die Aus-,
Fort- und Weiterbildung der Ärztinnen und Ärzte, Therapeutinnen und The-
rapeuten und Pflegekräfte sollten demenzbezogene Pflichtbausteine aufge-
nommen werden.
Es müssen kostenträgerübergreifende finanzielle Anreizstrukturen geschaf-
fen werden, um Prävention und Rehabilitation zu fördern. Die Bevölkerung
muss mit Hilfe von Aufklärungskampagnen mehr Informationen über das
Krankheitsbild erhalten. Neben der Aufklärung muss die Enttabuisierung
der Demenzkrankheiten im Mittelpunkt stehen.

Drucksache 15/2372 – 6 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Für pflegende Angehörige demenzkranker Menschen müssen Informations-,
Supervisions- und Ausbildungsangebote bereitstehen.

– Familien und pflegende Angehörige bedürfen eines Netzes abgestufter,
bedürfnisorientierter und gemeindenaher Hilfen und Versorgungsangebote
einschließlich niedrigschwelliger Angebote: Sie brauchen Tages- und
Nachtpflegeeinrichtungen, Kurzzeitpflegeangebote und unterstützende eh-
renamtliche Hilfe. Selbsthilfeorganisationen müssen vor Ort eingerichtet
und bekannt gemacht werden. Als Alternative zum traditionellen Wohnen
im Heim sind in der Pflegeversicherung und in den heimrechtlichen Vor-
schriften – hier insbesondere der Heimmindestbauverordnung – neue Wohn-
formen (Wohn- oder Hausgemeinschaften etc.) zu fördern.
Die Bundesregierung wird aufgefordert, darauf hinzuwirken, dass Länder
und Kommunen ihrer Verantwortung nachkommen und die Angebote, die
den Verbleib im häuslichen Umfeld ermöglichen, ausbauen.

– Die von den einzelnen Bundesministerien geplanten Maßnahmen zur Ver-
besserung der Versorgungssituation dementiell erkrankter Menschen sind
kontinuierlich aufeinander abzustimmen, mit den Bundesländern ist eine
Querschnittsarbeitsgruppe zu bilden. Die Förderung einer vergleichenden
internationalen Zusammenarbeit soll die Erstellung von Evaluations- und
Wirksamkeitsstudien erleichtern und verbessern. Als Basis für ein qualitäts-
gesichertes Versorgungsangebot müssen bundeseinheitliche Pflegeleitlinien
entwickelt werden.

– Um den Bedürfnissen demenzkranker Menschen besser Rechnung zu tra-
gen, bedarf der Pflegebegriff in der Pflegeversicherung mittelfristig einer
Überarbeitung und Erweiterung. Die zu erwartenden demografischen Verän-
derungen müssen in den Verhandlungen zur Reform der Pflegeversicherung
berücksichtigt werden, da die Zunahme an betagten und hochbetagten Men-
schen eine signifikante Steigerung der Zahl der Demenzkranken erwarten
lässt.

– Im Zuge eines ausführlichen, qualitätsgesicherten Assessments ist die
Pflegebedürftigkeit festzustellen und ein verbindlicher Hilfe-/Maßnahmen-
plan festzulegen. Das Begutachtungsverfahren muss so weiter entwickelt
werden, dass auch präventive, rehabilitative und aktivierende Aspekte stär-
ker berücksichtigt werden. Pflegebedürftige brauchen einen individuell zu-
geschnittenen Hilfe-/Maßnahmenplan, da sie keine einheitliche Gruppe,
sondern Individuen mit unterschiedlichen Kompetenzen und Defiziten sind.
Daraus ergeben sich unterschiedlichen Anforderungen an Betreuung, Pflege
und Therapie.

– In der Demenzdiagnostik und Behandlung sowie bei der Betreuung De-
menzkranker ist eine Qualitätskontrolle sicherzustellen. Die Ergebnisse die-
ser Qualitätskontrolle müssen der Öffentlichkeit in leicht verständlicher
Sprache und Darstellung zugänglich gemacht werden. Die bewertende Ins-
titution sollte auch Beratungsfunktion vor Ort haben. Sofern bestehende
Institutionen dies nicht leisten können, ist der Aufbau neuer Strukturen er-
forderlich.

– Um im Umgang mit dementen Menschen Verbesserungen für Pflegekräfte
zu erreichen, müssen flexible, auf die Situation der jeweiligen Einrichtung
und ihrer Bewohner bezogene Instrumente zur Personalbemessung zügig
eingesetzt werden.

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 7 – Drucksache 15/2372

Außerdem müssen die Gesetze zur Reform der Alten- und Krankenpflege-
ausbildung so umgesetzt werden, dass die besonderen Belange Demenz-
kranker in der Aus- und Weiterbildung berücksichtigt werden. Kenntnisse,
Zusatzqualifikationen oder Spezialisierungen in den Bereichen Prävention,
Rehabilitation und Palliativpflege sind notwendig. In Aus- und Weiterbil-
dung sollen insbesondere solche Pflegekonzepte vermittelt werden, die die
Möglichkeit der aktiven Teilhabe am täglichen Leben eröffnen.

Berlin, den 16. Januar 2004
Franz Müntefering und Fraktion
Katrin Göring-Eckardt, Krista Sager und Fraktion

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