BT-Drucksache 15/1932

Aktionsplan für freie, effiziente und innovative Forschung

Vom 5. November 2003


Deutscher Bundestag Drucksache 15/1932
15. Wahlperiode 05. 11. 2003

Antrag
der Abgeordneten Ulrike Flach, Cornelia Pieper, Daniel Bahr (Münster), Rainer
Brüderle, Angelika Brunkhorst, Ernst Burgbacher, Helga Daub, Jörg van Essen,
Otto Fricke, Horst Friedrich (Bayreuth), Joachim Günther (Plauen), Dr. Karlheinz
Guttmacher, Dr. Christel Happach-Kasan, Christoph Hartmann (Homburg), Klaus
Haupt, Ulrich Heinrich, Birgit Homburger, Dr. Werner Hoyer, Michael Kauch,
Dr. Heinrich L. Kolb, Jürgen Koppelin, Sibylle Laurischk, Ina Lenke, Dirk Niebel,
Günther Friedrich Nolting, Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Eberhard Otto
(Godern), Detlef Parr, Gisela Piltz, Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Max Stadler,
Dr. Rainer Stinner, Carl-Ludwig Thiele, Jürgen Türk, Dr. Claudia Winterstein,
Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP

Aktionsplan für freie, effiziente und innovative Forschung

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Der Europäische Rat von Lissabon hat beschlossen, dass die Europäische Union
im Jahr 2010 der wettbewerbsfähigste und dynamischste wissensbasierte Wirt-
schaftsraum der Welt sein soll. Das vom Europäischen Rat in Barcelona festge-
setzte Ziel, bis zum Jahr 2010 einen Anteil von 3 Prozent des Bruttoinlandspro-
duktes (BIP) für Forschungsinvestitionen zu erreichen (gegenwärtig 1,9 Pro-
zent), ist nur dann realisierbar, wennDeutschland als großeNation erheblich grö-
ßere Anstrengungen vollbringt. Die EU-Kommission schätzt, dass in Europa zur
Erreichung dieses Zieles ca. 700 000 Forscher zusätzlich benötigt werden. Für
Deutschland bedeutet dies mindestens 70 000 zusätzlicheWissenschaftler.
Gegenwärtig bestehen zwischen dem formulierten Anspruch und der Realität in
Deutschland noch erhebliche Unterschiede. Deutschland importiert mehr Wis-
sen als es ausführt und führt seit 2001 mehr Hochtechnologie ein als es ausführt.
Das Gegenteil muss erreicht werden. Wir müssen wieder Nettoexporteur von
Wissen und Technologie werden.
Um das Ziel von Barcelona zu erreichen, sollten die Forschungsausgaben in Eu-
ropa im Mittel um 8 Prozent pro Jahr steigen, aufgeteilt in eine Wachstumsrate
von 6 Prozent für die öffentlichen Ausgaben und eineWachstumsrate von 9 Pro-
zent für private Investitionen. Der Rückstand der Europäischen Union zu den
USA bei den Investitionen in die Forschung beträgt bereits heute mehr als
120 Mrd. Euro jährlich und vergrößert sich rasch. In Deutschland gelang es le-
diglich, zwischen den Jahren 2000 und 2002 die Ausgaben für Forschung und
Entwicklung (FuE) um 6 Prozent zu steigern, während andere Länder im glei-
chen Zeitraum 25 oder 30 Prozent Zuwachsraten verzeichneten.
Die Bundesregierung ist dem Ziel, bis 2010 die Ausgaben für Bildung und For-
schung auf 3 Prozent vom BIP zu erhöhen, nicht näher gekommen. Noch immer
stagnieren die Ausgaben insgesamt bei rund 2,5 Prozent. Davon machten die

Drucksache 15/1932 – 2 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

staatlichen FuE-Aufwendungen im Jahr 2002 mit insgesamt 17 Mrd. Euro nur
einen Anteil von 0,8 Prozent des BIP aus. In Deutschland betragen derzeit die
staatlichenAusgaben einDrittel der Gesamtförderung, während die privateWirt-
schaft zwei Drittel trägt. Um auf ein Drittel der 3 Prozent Anteil am BIP zu kom-
men, müssten Bund und Länder über 4 Mrd. Euro mehr für Forschung und Ent-
wicklung ausgeben.
Aber auch die Struktur der deutschen Forschungsförderung ist nicht optimal. Der
Wissenschaftsrat hat in seinen Empfehlungen „Strategische Forschungsförde-
rung“ vom 23. Mai 2003 erhebliche Defizite aufgedeckt. Es fehlt an Möglich-
keiten, Förderinitiativen verschiedener Förderer über einen längeren Zeitraum
und mit Maßnahmen zur institutionellen Verankerung zu koordinieren. Ohne die
entsprechenden Anschlussmöglichkeiten fehlen Anreize für die Forscher. Der
Wissenschaftsrat weist darauf hin, dass zur Erringung einer internationalen Spit-
zenstellung mehr Kooperation zwischen den Förderern nötig sei. Es fehlen Ver-
fahren, systematisch Lücken im Förderangebot aufzuspüren und zu schließen.
Da jede der großen Wissenschaftsorganisationen ein Interesse daran hat, The-
men, deren Bedeutung und Dringlichkeit gesellschaftlich anerkannt ist, zu beset-
zen, besteht die Gefahr von Doppelungen von Förderinitiativen. Der Wissen-
schaftsrat kritisiert, dass es zu selten gelingt, sich über Nachrangigkeiten zu ver-
ständigen. Aktive Interessenvertreter können für ihr Gebiet eine Förderung errei-
chen, auchwenn es gute Gründe gibt, dieses Gebiet nicht mit Priorität zu fördern.
Diese Gefahr besteht besonders auf marktnahen und öffentlichkeitswirksamen
Gebieten. Die Begutachtungsverfahren in der Projektförderung sind nicht varia-
bel genug gestaltet. Der Wissenschaftsrat vermisst spezifische Förderinstru-
mente für explorative, unkonventionelle Projekte, um eine Standardisierung der
Forschung und Eintrittsschwellen für neue Forscher zu vermeiden.
Um die vereinbarten Ziele zu erreichen und die strukturellen Defizite zu besei-
tigen, ist ein Aktionsplan der Bundesregierung für eine freie, effiziente und inno-
vative Forschung dringend notwendig.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
– sich ressortübergreifend über Prioritäten der Forschungsförderung zu verstän-

digen, um so Doppelstrategien zu vermeiden und gegenläufige Strategien zu
verhindern;

– die Verantwortung für die Forschungsförderung in Deutschland beim Bun-
desministerium für Bildung und Forschung zu konzentrieren und einer Ausla-
gerung und Zersplitterung von Forschungsbereichen in andere Ministerien
entschieden entgegenzutreten;

– die Ressortforschung des Bundes umfassend intern und extern zu evaluieren,
umDopplungen von Förderung zu vermeiden und die wettbewerbliche Struk-
tur der Forschungsförderung zu stärken;

– bürokratische Verfahren für Genehmigungen von Forschungsprojekten und
Dokumentationspflichten deutlich zu reduzieren, umWissenschaftlern zu er-
möglichen, sich auf ihre Forschungsaufgaben zu konzentrieren;

– demVorschlag desWissenschaftsrates zu entsprechen und ein Forum für For-
schungsförderung aus Vertretern der großen Wissenschaftsorganisationen,
der großen Stiftungen, der Hochschulen sowie des Bundes und der Länder
einzurichten. Dessen Ziel muss es sein, Förderaktivitäten und neue Initiativen
besser zu koordinieren. Dabei muss dieses Gremium die Kommunikation
über bestehende und geplante Aktivitäten verbessern und den jeweils gesehe-
nen Förderbedarf deutlich benennen. Das Forum sollte weiterhin die Infor-
mationsgrundlage über neue Förderbedarfe durch eigene Portfolioanalysen
verbessern und die Kriterien und Verfahren der Forschungsförderung in
Deutschland transparent machen;

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/1932

– auf europäischer Ebene den Abschlussbericht der Expertengruppe zum Euro-
päischen Forschungsrat (European Research Council Expert Group –
ERCEG) im Dezember 2003 in konkrete Handlungen umzusetzen. Der Be-
richt kommt zu demSchluss, dass es gute Gründe für einen Europäischen For-
schungsrat gibt. Ein Europäischer Forschungsrat sollte mit einer Distanz zum
politischen System eingerichtet werden und einen Europäischen Forschungs-
fonds verwalten, der speziell der Grundlagenforschung zugute kommen soll.
Der Europäische Forschungsrat sollte als von der Kommission unabhängige
Einheit innerhalb des EU-Haushaltes eingerichtet und direkt aus dem Parla-
mentshaushalt finanziert werden. Seine Aufgaben sollten in einer Charta nie-
dergelegt werden;

– bei der Vorbereitung des 7. EU-Forschungsrahmenprogramms darauf hinzu-
wirken, dass die thematischen Schwerpunkte sowohl Projekte aus dem Be-
reich der Grundlagenforschung als auch der anwendungsorientierten und an-
gewandten Forschung enthalten. Beim 6. Forschungsrahmenprogramm fehlte
die Balance zwischen Grundlagenforschung und angewandter Forschung.
Beispielsweise waren die Förderschwerpunkte beim Thema Lebenswissen-
schaften sehr grundlagenorientiert, während die Luft- und Raumfahrt einen
starken Anwendungsbezug aufwies. Zudem müssen die Erfahrungen mit den
im 6. Forschungsrahmenprogramm eingeführten neuen Instrumenten gründ-
lich evaluiert werden;

– dem Antrag der FDP-Fraktion auf Bundestagsdrucksache 15/1716 für die
Einführung eines modernen Wissenschaftstarifvertragsrechts zuzustimmen
und damit die Autonomie der Hochschulen und der Institute als Arbeitgeber
zu fördern undMöglichkeiten zu schaffen, hoch qualifizierteWissenschaftler
aus dem starren Beamten- und Angestelltentarifvertragsrecht herauszulösen;

– das Hochschulrahmengesetz zu novellieren mit dem Ziel, Regelungen des
Bundes drastisch abzubauen und in die Verantwortung der Hochschulen zu
geben;

– die Mittel für die Industrielle Gemeinschaftsforschung deutlich zu versteti-
gen. Industrielle Gemeinschaftsforschung ist aufgrund ihres themenoffenen
Charakters und der branchenübergreifenden Nutzung eine breitenwirksame
Fördermaßnahme. Die Gemeinschaftsforschung macht vielen kleinen und
mittleren Unternehmen überhaupt erst eigene Forschung und Entwicklung
möglich und leistet einen Beitrag zur Kooperation mit den Hochschulen.

Berlin, den 5. November 2003
Ulrike Flach
Cornelia Pieper
Daniel Bahr (Münster)
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Helga Daub
Jörg van Essen
Otto Fricke
Horst Friedrich (Bayreuth)
Joachim Günther (Plauen)
Dr. Karlheinz Guttmacher
Dr. Christel Happach-Kasan
Christoph Hartmann (Homburg)
Klaus Haupt
Ulrich Heinrich
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer

Michael Kauch
Dr. Heinrich L. Kolb
Jürgen Koppelin
Sibylle Laurischk
Ina Lenke
Dirk Niebel
Günther Friedrich Nolting
Hans-Joachim Otto (Frankfurt)
Eberhard Otto (Godern)
Detlef Parr
Gisela Piltz
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Carl-Ludwig Thiele
Jürgen Türk
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Wolfgang Gerhardt und Fraktion
msterdamer Str. 192, 50735 Köln, Telefon (02 21) 97 66 340, Telefax (02 21) 97 66 344

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