BT-Drucksache 14/8921

Einführung eines existenzsichernden gesetzlichen Mindestlohns

Vom 25. April 2002


Deutscher Bundestag Drucksache 14/8921
14. Wahlperiode 25. 04. 2002

Antrag
der Abgeordneten Pia Maier, Monika Balt, Dr. Ruth Fuchs, Dr. Klaus Grehn, Rosel
Neuhäuser, Christina Schenk, Dr. Ilja Seifert, Maritta Böttcher, Gerhard Jüttemann,
Roland Claus und der Fraktion der PDS

Einführung eines existenzsichernden gesetzlichen Mindestlohns

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
1. Existenzsichernde und sozial geschützte Arbeitsverhältnisse sind die wich-

tigste Grundlage der sozialen Marktwirtschaft und eine entscheidende Vo-
raussetzung für den Bestand des Sozialstaates. Sind diese Voraussetzungen
gefährdet, weil die Zahl der prekären Beschäftigungsverhältnisse zunimmt
und auch Erwerbsarbeit nicht vor Armut schützt, verliert die Demokratie
ihre öffentliche Legitimation und die Gesellschaft ihren sozialen Zusammen-
halt. Gleichzeitig wird der Sozialstaat insgesamt in Frage gestellt, weil nicht
nur die soziale Sicherheit der Geringverdiener, sondern sämtliche sozialen
Sicherungssysteme gefährdet werden, da deren Leistungsfähigkeit sowohl
an einen hohen Beschäftigungsstand, als auch an existenzsichernde Er-
werbseinkommen gekoppelt ist. Die Finanzierungsprobleme der sozialen
Sicherungssysteme, wie auch die Belastung der Arbeitseinkommen mit
steigenden Sozialabgaben, werden nicht nur durch die anhaltende Massen-
arbeitslosigkeit verursacht, sondern auch durch die Zunahme prekärer
Beschäftigung.

2. Der Gesetzgeber ist unabhängig von der Tarifautonomie der Sozialpartner
durch das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes verpflichtet, einer Auswei-
tung von Arbeitsverhältnissen entgegenzuwirken, die einerseits keine eigen-
ständige, dem gegenwärtigen gesellschaftlichen Lebensniveau entspre-
chende Lebensführung erlauben und andererseits mit den Risiken weiteren
sozialen Abstiegs und späterer Altersarmut verknüpft sind. Diese Verpflich-
tung des Gesetzgebers ergibt sich auch aus Artikel 4 Abs. 1 der Europäi-
schen Sozialcharta.

3. Begünstigt durch die Beschäftigungskrise, wie auch infolge tiefgreifender
wirtschaftlicher und sozialer Umbrüche, ist der Anteil der Netto-Arbeitsent-
gelte am Volkseinkommen auf den niedrigsten Stand seit 30 Jahren gefallen.
Seit 1995 ist die reale Kaufkraft der abhängig Beschäftigten nicht mehr ge-
stiegen. Doch hinter dieser Durchschnittsgröße verbirgt sich eine gespaltene
Entwicklung. Während die Stammbelegschaften in wirtschaftlich prosperie-
renden Branchen oder Regionen durchaus statistisch nachweisbare, wenn
auch hinter der Produktivität zurückbleibende Einkommenszuwächse durch-
setzen konnten, ist der Anteil ungeschützter und nicht mehr existenzsichern-
der Arbeitsverhältnisse im vergangenen Jahrzehnt dramatisch gestiegen. So
ist die Stagnation der Netto-Lohnquote und damit die Schwäche des Binnen-

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marktes in erster Linie auf das Wachstum des Niedriglohnsektors und den
zunehmenden Anteil geringfügiger Beschäftigung zurückzuführen.

4. Vollzeiteinkommen unterhalb der Schwelle von 68 Prozent des nationalen
Durchschnittslohns, wie sie der Sachverständigenausschuss des Europarates
in Auslegung von Artikel 4 Abs. 1 der Europäischen Sozialcharta als Unter-
grenze eines angemessenen Entgeltes festgelegt hat, sind in der Bundesrepu-
blik Deutschland keine Ausnahme. Eine Studie des WSI ermittelte 1996 be-
reits für das Jahr 1986 rund 2,3 Millionen Vollzeitbeschäftigte mit einem Ar-
beitsentgelt unterhalb dieser Schwelle. 1,1 Millionen Vollzeitbeschäftigte
bezogen nach dieser Untersuchung sogar Einkommen unterhalb der offiziel-
len Armutsschwelle. Nach anderen Untersuchungen haben bereits 1997 rund
670 000 Erwerbstätige einen Anspruch auf ergänzende Sozialhilfe gehabt.
Nur 20 Prozent aber haben diesen Anspruch geltend gemacht.

5. Im Gegensatz zu der interessengeleiteten öffentlichen Debatte ist die Zu-
nahme prekärer Beschäftigung weder unausweichlich oder gar ökonomisch
wünschbar, sondern gründet sich hauptsächlich auf die Ausnutzung sozialer
Notlagen. Einerseits haben Massenarbeitslosigkeit, die Zuwanderung in Not
geratener Menschen und soziale Umbrüche in der Lebensweise das Ar-
beitsangebot deutlich erhöht und andererseits sind durch die technologischen
Umwälzungen neue Möglichkeiten zur Aufspaltung von Belegschaften und
zur Ausgliederung von Niedriglohnbereichen in abgespaltene Betriebsteile
entstanden. Hinter der als Modernisierung getarnten Entwicklung verbergen
sich keine objektiven und unausweichlichen Trends, sondern die bekannten
Motive von Kapitaleignern, jede soziale Notlage und technologische Mög-
lichkeit für die Senkung der Arbeitskosten bei gleichzeitiger Steigerung der
Rendite zu nutzen.

6. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland schützt die Würde des
Menschen, bindet die Nutzung des Eigentums an seine soziale Pflicht und
unterwirft das politische Handeln dem Sozialstaatsgebot. Eine Verpflichtung
zur Sicherung von Renditen und niedrigen Arbeitskosten ist nicht vorgese-
hen. Gerät die Politik in einen Widerstreit zwischen den Erwartungen der
Kapitaleigner an niedrigen Arbeitskosten beziehungsweise steigenden Ren-
diten, hat sie sich deshalb in erster Linie an den Normen der Verfassung zu
orientieren. Arbeitseinkommen, die keine dem bestehenden gesellschaft-
lichen Standard entsprechende Lebensführung erlauben sind auch dann ver-
fassungswidrig, wenn sie dem Kapital einen angeblichen Standortvorteil
verschaffen.

7. Eine wesentliche Ursache für das wachsende Angebot von Arbeitskräften,
die gezwungen sind Arbeitsverhältnisse ohne Existenzsicherung anzuneh-
men, ist die Veränderung der Geschlechterbeziehungen und Familienstruktu-
ren. Nicht das so genannte Normalarbeitsverhältnis erodiert, sondern die Be-
reitschaft von Frauen, sich auf eine lebenslange Versorgerehe einzulassen.
Die emanzipatorische Absicht von Frauen, sich durch eigene Erwerbsarbeit
zu verwirklichen oder die Bereitschaft von Männern, ihren Lebensmittel-
punkt zeitweilig in der Kindererziehung zu suchen, vergrößert das Angebot
eingeschränkt verfügbarer Arbeitskräfte, die im Interesse ihrer Lebenspla-
nung Zugeständnisse bei den Entgelten machen und ungewollt dazu beitra-
gen, dass sich neue Niedriglohnbereiche herausbilden. Die an sich wünsch-
bare Individualisierung von Lebensentwürfen, ist zu einem entscheidenden
Faktor für das wachsende Angebot geringfügiger und nicht existenzsichern-
der Beschäftigung geworden.

8. Die Spaltung der abhängig Beschäftigten in solche, die von der angeblichen
Modernisierung profitieren und andere, die in Niedriglohnbereiche abge-
drängt werden oder trotz Arbeit unter ärmlichen Verhältnissen leben und
später mit Altersarmut rechnen müssen, ist nicht nur verfassungsrechtlich

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bedenklich, sie gefährdet auch die ökonomische Entwicklung der Volkswirt-
schaft. Im internationalen Wettbewerb werden nur jene Volkswirtschaften
bestehen, die die Produktivität ihres gesellschaftlichen Arbeitsvermögens
steigern und nicht zulassen, dass immer größere Teile ihrer abhängig Be-
schäftigten zu niedrigen Löhnen in Bereichen arbeiten, die an sich nicht
wettbewerbsfähig sind.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
wirksame Maßnahmen gegen die Ausweitung nicht existenzsichernder Voll-
zeit-Arbeitsverhältnisse zu ergreifen und zu diesem Zweck einen Gesetz-
entwurf zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes in den Deutschen
Bundestag einzubringen. Dabei soll sie sich von folgenden Eckpunkten leiten
lassen:
1. Die Höhe des gesetzlichen Mindestlohnes soll, entsprechend der Europäi-

schen Sozialcharta, bei seiner Einführung 68 Prozent der nationalen Durch-
schnittsentlohnung betragen.

2. Der Mindestlohn muss bindend für sämtliche Auftragnehmer im Gebiet der
Bundesrepublik Deutschland sein.

3. Andere gesetzliche Mindestlohnregelungen, wie etwa für die Bauwirtschaft,
werden durch das Gesetz nicht berührt und sind grundsätzlich zuzulassen.

4. Das Gesetz hat für die Beschäftigten das Günstigkeitsprinzip festzuschrei-
ben.

5. Der Mindestlohn ist jährlich an die Tarifentwicklung anzupassen, also ent-
sprechend der jährlichen Nettolohnentwicklung zu dynamisieren.

6. Die Einhaltung der Mindestentlohnung ist von den zuständigen Landes-
behörden zu überwachen.

7. Deutliche Unterschreitungen des gesetzlichen Mindestlohnes sind unter
Strafe zu stellen.

8. Den Gewerkschaften ist gegen die Unterschreitung des gesetzlichen Min-
destlohns das Verbandsklagerecht zu gewähren.

Berlin, den 25. April 2002
Pia Maier
Monika Balt
Dr. Ruth Fuchs
Dr. Klaus Grehn
Rosel Neuhäuser
Christina Schenk
Dr. Ilja Seifert
Maritta Böttcher
Gerhard Jüttemann
Roland Claus und Fraktion

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Begründung
Ziffer 1
Die Europäische Sozialcharta verankert das Recht auf angemessenes Entgelt,
das ausreicht, den Arbeitnehmern einen angemessenen Lebensstandard zu
sichern. In der Spruchpraxis des Sachverständigenausschusses beim Europarat
wird dieses angemessene Entgelt auf 68 Prozent der nationalen Durchschnitts-
entlohnung beziffert. Bezogen auf die Bundesrepublik Deutschland entspräche
das gegenwärtig einem gesetzlichen Mindestlohn von etwa 9,42 Euro.
Ziffer 2
Es muss sichergestellt werden, dass der gesetzliche Mindestlohn auch von Auf-
tragnehmern aus anderen Ländern gezahlt wird, die im Geltungsbereich des
Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland Aufträge ausführen.
Ziffer 3 und 4
Ein gesetzlicher Mindestlohn von 68 Prozent des nationalen Durchschnitts-
lohns würde zwar die Entgelte von Millionen Beschäftigten anheben, in vielen
Bereichen liegt der Durchschnittslohn jedoch deutlich über dem nationalen
Durchschnitt. Deshalb muss es nach wie vor möglich sein, wie etwa in der Bau-
wirtschaft, durch Gesetz höhere Mindesteinkommen festzulegen. Im Zweifels-
fall muss für die Beschäftigten die günstigere Regelung gelten.
Ziffer 5
Die Gestaltung der Arbeitsbedingungen und Entgelte unterliegen nach Arti-
kel 9 Abs. 3 GG der Autonomie der Tarifvertragsparteien. Daran darf auch
die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns nichts ändern. Würden für
Millionen Beschäftigte die Entgelte regelmäßig per Gesetzgebungsverfahren
festgelegt, käme dies einer Aushöhlung der Koalitionsfreiheit nahe. Es er-
scheint deshalb zwingend erforderlich, den gesetzlichen Mindestlohn wie an-
dere Sozialtransfers zu dynamisieren und an der allgemeinen Tarifentwick-
lung zu orientieren.
Ziffer 6 bis 8
Die Erfahrungen mit dem gesetzlichen Mindestlohn in der Bauwirtschaft zei-
gen, dass viele Arbeitgeber das gesetzlich vorgeschriebene Entgelt entweder
direkt oder durch unbezahlte Mehrarbeit unterschreiten. Dies wird in vielen an-
deren Branchen mit überwiegend prekären Beschäftigungsverhältnissen noch
weit häufiger der Fall sein, weil immer weniger Beschäftigte ihre Rechte ken-
nen, keine Betriebsvertretungen existieren oder die Beschäftigten aus Angst vor
Entlassung auf die Wahrnehmung ihrer Rechte verzichten. Deshalb muss der
Gesetzgeber, wie in anderen Regelbereichen auch, die Einhaltung der Gesetze
durch geeignete Maßnahmen kontrollieren. Gleichzeitig muss durch Straf-
bestimmungen deutlich gemacht werden, dass die Unterschreitung des ge-
setzlichen Mindestlohns den Tatbestand des Lohnwuchers erfüllt und nach den
entsprechenden gesetzlichen Bestimmungen bestraft wird. Erfahrungsgemäß
verhindern jedoch weder behördliche Überwachung noch Strafandrohung aus-
reichend, dass Gesetze verletzt werden, wenn damit ein erheblicher wirtschaft-
licher Vorteil verbunden ist. Da die unmittelbar Betroffenen in der Regel mit
Entlassung oder anderen Repressalien zu rechnen haben, wenn sie sich gegen
ihren Arbeitgeber an Behörden oder Gerichte wenden, muss diese Möglichkeit
im Interesse der Betroffenen den Gewerkschaften eingeräumt werden.

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