BT-Drucksache 14/8380

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Bundesregierung -14/7420, 14/8043, 14/8331- Entwurf eines Gesetzes zur Gleichstellung behinderter Menschen und zur Änderung anderer Gesetze

Vom 27. Februar 2002


Deutscher Bundestag Drucksache 14/8380
14. Wahlperiode 27. 02. 2002

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Monika Balt, Heidemarie Ehlert, Dr. Ruth Fuchs,
Dr. Klaus Grehn, Dr. Barbara Höll, Heidemarie Lüth, Pia Maier, Rosel Neuhäuser,
Christina Schenk und der Fraktion der PDS

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Fraktionen SPD
und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Bundesregierung
– Drucksachen 14/7420, 14/8043, 14/8331 –

Entwurf eines Gesetzes zur Gleichstellung behinderter Menschen
und zur Änderung anderer Gesetze

Der Bundestag wolle beschließen:
I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
1. Das Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen und zur Änderung an-

derer Gesetze ist ein Ausdruck des gesellschaftlichen Anliegens, die
bürgerrechtliche Gleichstellung von Menschen mit Schädigungen, Beein-
trächtigungen oder Handicaps rechtlich zu verankern und ihre Diskriminie-
rung in unterschiedlichen Bereichen und im Alltag abzubauen und zu besei-
tigen.
Dazu enthält es für den Bereich des öffentlichen Rechts und der Bundesver-
waltung, zur Herstellung von Barrierefreiheit in bestimmten Lebensberei-
chen, zur Anerkennung der Deutschen Gebärdensprache, zur Einführung
eines öffentlich-rechtlichen Verbandsklagerechts u. a. eine Reihe von
Regelungen gegen Benachteiligung. Insofern ist das Gesetz ein Schritt zur
konkreten Umsetzung des 1994 in das Grundgesetz aufgenommenen Be-
nachteiligungsverbots von Menschen mit Behinderungen. Wie dieser Ver-
fassungsgrundsatz tatsächlich mit Leben erfüllt und für Menschen mit Be-
hinderungen erlebbar wird, entscheidet sich nicht zuletzt an der Qualität und
Wirksamkeit dazu zu treffender gesetzlicher Regelungen. Bürgerrechtliche
Gleichstellung von Menschen mit Schädigungen, Beeinträchtigungen oder
Handicaps erfordert vor allem, die gesellschaftlich bedingten Behinderungen
für ihre Lebens-, Entfaltungs- und Teilhabemöglichkeiten von Anfang an zu
verhindern und dort zu reduzieren und zu beseitigen, wo sie bestehen.

2. Der entscheidende Schwachpunkt des Gesetzes zur Gleichstellung behinder-
ter Menschen und zur Änderung anderer Gesetze besteht im weitgehenden
Fehlen klarer und einheitlicher Antidiskriminierungsregelungen. Solche Re-
gelungen sind jedoch für ein bürgerrechtsorientiertes Gleichstellungsgesetz
unverzichtbar,

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– da sie das zivilrechtliche Fundament für die bürgerrechtliche Gleichstel-
lung von Menschen mit Behinderungen darstellen und

– weil sie ermöglichen sollen, alltägliche Diskriminierungen und Benach-
teiligungen von Menschen mit Behinderungen rechtlich verbindlich aus-
zuschließen und durch Sanktionen zu ahnden.

Diese Forderung wurde im Vorschlag des Forums behinderter Juristinnen
und Juristen für ein Bundesgleichstellungsgesetz vom Januar 2000 ausführ-
lich als Gesetzentwurf dargestellt und begründet. Sie wurde auch auf dem
Düsseldorfer Kongress „Gleichstellungsgesetze jetzt“ im Oktober 2000
nachhaltig unterstützt.
Im internationalen und europäischen Vergleich ist die Bundesrepublik im
Nachtrab. Umfassende Antidiskriminierungsgesetze werden in anderen Län-
dern seit Jahren erfolgreich angewendet (z. B. in den Niederlanden, Frank-
reich, Großbritannien, USA u. a.). Aus Artikel 13 des von den EU-Mitglied-
staaten 1997 verabschiedeten Amsterdamer Vertrages ergibt sich ebenfalls
ein Gebot, „Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der
ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinde-
rung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen“.
Das bisher nur als „Diskussionsentwurf“ vorgelegte Gesetz zur Verhinde-
rung von Diskriminierungen im Zivilrecht soll auch für Menschen mit Be-
hinderungen ein zivilrechtliches Benachteiligungsverbot durchsetzen. Ob
und wann es jedoch verabschiedet und in Kraft treten kann, erscheint gegen-
wärtig unsicher. Daher droht das Gesetz zur Gleichstellung behinderter
Menschen und zur Änderung anderer Gesetze auf Grund der fehlenden Anti-
diskriminierungsregelungen unvollständig und in vieler Hinsicht unverbind-
lich zu bleiben, wenn nicht komplementär ein Gesetz zur Verhinderung von
Diskriminierungen im Zivilrecht wirksam wird.

3. Das Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen und zur Änderung
anderer Gesetze hält an dem schon bei der Verabschiedung des Sozialgesetz-
buches IX „Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen“ (SGB IX)
und bei der Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung des
Deutschen Bundestages am 23. Januar 2002 kritisierten Definition des Be-
hinderungs-Begriffs fest. Der in Artikel 1 § 3 verwendete Behinderungs-Be-
griff ist vorrangig medizinisch-defektologisch geprägt und daher ungeeig-
net, die gesellschaftliche Dimension für den schrittweisen Abbau und die
Beseitigung von Diskriminierungen, Barrieren und Behinderungen zu ver-
deutlichen. Diese Frage hat für Menschen mit Behinderungen nicht nur the-
oretische Bedeutung. Sie ist ein zentraler Punkt, um auch in der Begriff-
lichkeit einen Perspektivwandel zur Geltung zu bringen, der Menschen mit
Behinderungen eine reale Durchsetzung ihrer Bürgerrechte ermöglicht, ggf.
auch gegen jene, von denen z. B. aus wirtschaftlichen oder Kostengründen
Diskriminierungen ausgehen, Barrieren errichtet statt beseitigt und Behinde-
rungen von Teilhabemöglichkeiten praktiziert werden.
Deshalb sollte in Anlehnung an den vom Deutschen Behindertenrat (DBR)
am 3. Dezember 2001 unterbreiteten Vorschlag der Begriff Behinderung wie
folgt gefasst werden:
„Behinderung ist jede Verhaltensweise, Maßnahme oder Struktur, die Men-
schen auf Grund nicht nur vorübergehender körperlicher, geistiger oder
seelischer Beeinträchtigungen Lebens-, Entfaltungs- und Teilhabemöglich-
keiten nimmt, beschränkt oder erschwert.“

4. Den Kern des Gesetzes zur Gleichstellung behinderter Menschen und zur
Änderung anderer Gesetze bildet die Schaffung umfassender Barrierefreiheit
für Menschen mit unterschiedlichen Schädigungen, Beeinträchtigungen oder

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Handicaps. Positiv ist dabei der verwendete Begriff der Barrierefreiheit, der
sich daran orientiert, dass Menschen mit Behinderungen im öffentlichen
Raum die Möglichkeit haben müssen, Einrichtungen und Anlagen jeglicher
Art ohne fremde Hilfe zu nutzen.
Die Wirksamkeit der dazu im Gesetz vorgesehenen Regelungen ist jedoch
sehr begrenzt und in Teilen fraglich. Verbindlich ist sie lediglich für Neu-,
Um- und Ausbauten des Bundes verankert. Die schrittweise Schaffung von
umfassender Barrierefreiheit in öffentlichen Gebäuden, Verkehrsanlagen,
Verkehrsmitteln, im Bereich der Kommunikation, am Arbeitsplatz, im
Wohn- und Freizeitbereich ist nicht zum „Nulltarif“, ohne ausreichende ma-
terielle Grundlagen, wirksame Instrumente zur Umsetzung – einschließlich
Fristen und Übergangszeiträumen – realisierbar. In dieser Hinsicht weist das
Gesetz jedoch erhebliche Mängel auf.

5. Das Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen und zur Änderung an-
derer Gesetze enthält keine klaren Regelungen in der Frage der Kosten, die
sich aus den im Gesetz neu eingeführten Rechten für Menschen mit Behin-
derungen ergeben. Weder in der Frage der Barrierefreiheit noch in anderen
Bereichen (z. B. Einführung der Deutschen Gebärdensprache) wird deutlich,
welchen materiellen Beitrag der Bund leistet. Damit droht bei der Umset-
zung des Gesetzes in der Frage der Finanzierung eine Auseinandersetzung
zwischen Gebietskörperschaften und Wirtschaftverbänden einerseits und
Behinderten- und Wohlfahrtsverbänden andererseits. Einer Verweigerungs-
haltung von Ländern, Kommunen und Wirtschaftsverbänden wird damit
Vorschub geleistet. In dieser absehbaren Auseinandersetzung befinden sich
die Menschen mit Behinderungen und ihre Organisationen in der schwäche-
ren Position, auch in den Verhandlungen über Zielvereinbarungen, in denen
die Modalitäten zur Herstellung von Barrierefreiheit im gegenseitigen Ein-
verständnis vereinbart werden sollen. Um diese „Bittsteller-Position“ der
Behindertenverbände zu kompensieren und ihnen annähernd gleiche Aus-
gangsbedingungen zu verschaffen, sind zusätzliche Förderinstrumente not-
wendig:
Erstens bedarf es in allen Bereichen – insbesondere in den Bereichen Bauen,
Verkehr, Wohnen – durchgängiger Regelungen, die gewährleisten, dass öf-
fentliche Fördermittel nur noch dort eingesetzt werden dürfen, wo umfas-
sende Barrierefreiheit gewährleistet wird. Dieser Grundsatz sollte sowohl
bei der Errichtung bzw. Beschaffung neuer Bauten, Anlagen, Verkehrsmittel
etc. als auch bei der Sanierung und Modernisierung zur Anwendung kom-
men.
Zweitens sollte der Bund gemeinsam mit den Ländern ein langfristig ange-
legtes Förderprogramm zur Herstellung von Barrierefreiheit auflegen, das
z. B. durch die Partner von Zielvereinbarungen genutzt werden kann, sobald
eine rechtlich wirksame Zielvereinbarung vorliegt. Dieses Förderprogramm
sollte nach dem Grundsatz gestaffelt sein, dass diejenigen den größten För-
deranteil erhalten können, die in einem bestimmten Zeitraum nach dem In-
krafttreten des Gesetzes zur Gleichstellung behinderter Menschen und zur
Änderung anderer Gesetze ihre Zielvereinbarung realisieren und zum frü-
hestmöglichen Zeitpunkt Barrierefreiheit herstellen. Ein besonderer Schwer-
punkt sollte die Förderung der Barrierefreiheit im kommunalen Bereich sein,
um nachhaltig Verbesserungen in solchen Lebensbereichen zu erzielen, auf
die Menschen mit Behinderungen im Alltag besonders angewiesen sind. Das
Beispiel der Förderung erneuerbarer Energien (z. B. „100 000-Dächer-Pro-
gramm“ für Solarenergie) verdeutlicht, dass ein solches Förderprogramm
langfristig positive wirtschaftliche und gesellschaftliche Effekte in Berei-
chen haben könnte, die sich nicht von Anfang an „rechnen“.

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Drittens sollte zwischen Bund und Ländern eine Musterbauordnung „Barrie-
refreiheit“ vereinbart werden, die es ermöglicht, die vorhandenen Landes-
bauordnungen dort zu ergänzen, wo Anforderungen des barrierefreien Bau-
ens bisher ungenügend Rechnung getragen wird.
Viertens sollten zwischen Bund und Ländern Vereinbarungen „Barrierefrei-
heit in den öffentlich-rechtlichen Medien, im Internet und in anderen Berei-
chen der audio-visuellen Kommunikation“ abgeschlossen werden, die es er-
möglichen, die Nutzbarkeit dieser Medien für seh- und hörgeschädigte
Menschen in einem klar bestimmten Übergangszeitraum herzustellen.
Fünftens sollte zwischen Bund und Ländern eine Regelung zur Ausbildung
und zum Einsatz von Gebärdendolmetschern vereinbart werden, die eine sta-
bile materielle Grundlage für die Ausbildung und die hauptberufliche
Tätigkeit von Gebärdendolmetschern schafft und damit die Nutzung eines
Gebärdendolmetschers als Assistenzleistung in unterschiedlichen Lebensbe-
reichen ermöglicht.
Sechstens sollte zwischen Bund und Ländern eine Einigung über eine Rah-
menrichtlinie zur Aufnahme eines Moduls „Barrierefreies Bauen“ im
Grundstudium Architektur herbeigeführt werden.

6. Das Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen und zur Änderung an-
derer Gesetze enthält in wichtigen Bereichen keine Fristen und Zeiträume,
durch die rechtlich verbindlich geregelt würde, ab wann keine neuen Barrie-
ren mehr errichtet werden dürfen bzw. bestehende Barrieren zu beseitigen
sind. Das Fehlen solcher Fristen mindert die Verbindlichkeit des Gesetzes
und die Wirksamkeit der in ihm vorgesehenen Instrumente, wie z. B. der
Zielvereinbarungen. Fristen und Zeiträume sind zwingend erforderlich, um
zu verhindern, dass auch nach In-Kraft-Treten des Gesetzes neue Barrieren
errichtet und existierende nicht wirklich abgebaut und beseitigt werden. Sie
sind ferner notwendig, um Verstöße gegebenenfalls ahnden zu können.

7. Die bürgerrechtliche Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen er-
fordert, das Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen und zur Ände-
rung anderer Gesetze durch ähnliche oder weitergehende Regelungen auf
Länderebene umzusetzen, zu ergänzen und in seiner Wirksamkeit zu stärken.
In den Ländern, in denen bereits entsprechende gesetzliche Regelungen be-
stehen (Berlin, Sachsen-Anhalt), müssen die Rechte von Menschen mit Be-
hinderungen gesichert und weiterentwickelt werden. Dazu sind tragfähige
Lösungen erforderlich; bestehende weitergehende Regelungen der Länder
dürfen keinesfalls abgebaut werden.

Berlin, den 26. Februar 2002
Dr. Ilja Seifert
Monika Balt
Heidemarie Ehlert
Dr. Ruth Fuchs
Dr. Klaus Grehn
Dr. Barbara Höll

Heidemarie Lüth
Pia Maier
Rosel Neuhäuser
Christina Schenk
Roland Claus und Fraktion

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